Frei sein, die Meinung zu sagen

Was heißt frei?
Frei ist, die Fähigkeit zu besitzen, deine Meinung frei zu artikulieren,
frei ist, zu rebellieren,
frei ist, eine unbequeme Meinung zu sagen.

Ahmad Mansour – Gegen den Hass
Rechthaber
Wilhelm Busch

Seine Meinung ist die rechte,
wenn er spricht, müsst ihr verstummen,
sonst erklärt er euch für Schlechte
oder nennt euch gar die Dummen.

Leider sind dergleichen Strolche
keine seltene Erscheinung.
Wer nicht taub ist, meidet solche
Ritter von der eignen Meinung!

Um eine Meinung frei zu äußern, muss man sie erst gewonnen haben. Je länger ich mich mit einem Problem beschäftige, umso schwieriger ist es, eine Meinung zu artikulieren.
Auf diesen Seiten versuche ich, mir schreibend ein Bild über komplexe Sachverhalte zu verschaffen, denn schnell gewonnene Meinungen könnten sonst später durch weitere Tatsachen verwirrt werden.

Unapologetic:

Episode 2: Arabische, palästinensische und israelische Identitäten

November 2023

In dieser Folge beschreiben Ibrahim und Amira ihre persönlichen komplexen Identitäten: die arabischen, palästinensischen und israelischen Elemente. Beide beleuchten ihre jeweiligen Gemeinschaften der 48er und 67er Palästinenser, sowie ihre realen Erfahrungen und Lebenswege, die dazu führten, dass ihre Wege sich kreuzten.

Amira
Salaam und willkommen zurück zu unserem Podcast, Unapologetic: unserer authentischer Bericht.

Eine Plattform, auf der wir unsere Herkunft, Erfahrungen und Ansichten miteinander teilen werden. In unserer Pilotsenung haben wir also versprochen, dorthin zurückzugehen, wo alles begann Wir werden darüber sprechen, wie zwei Menschen, die aus demselben Volk stammen und völlig unterschiedliche Realitäten haben, zwei völlig unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht haben. Wie sie sich schließlich begegneten. Wir sind beide Araber, wir sind beide Palästinenser, und wir sind beide israelische Staatsbürger. All diese Wörter, diese Terminologien, waren verschwommen und verschmolzen, als wir Kinder waren.


Ibrahim
Wir sprechen über uns als Kinder in den Neunzigern. Wenn man sich die Kinder von heute anschaut und die sozialen Medien, die es heute gibt, dann wissen die Kinder viel mehr als wir damals. Wir hatten nicht den Einfluss der sozialen Medien. Unsere Eltern hatten die Möglichkeit, uns vor vielen dieser komplexen Zusammenhänge zu schützen und uns die Unschuld eines Kindes zu erhalten, was heute nicht mehr so oft der Fall ist.
Wie wir schon sagten, sind wir Araber, Palästinenser und israelische Bürger. Also lass uns das aufdröseln, uns eine Komponente nach der anderen vornehmennehmen. Beginnen wir mit der Basis, nämlich arabisch zu sein. Ein Araber ist jemand, der von arabisch sprechenden Eltern geboren wurde. Er spricht Arabisch. Selbst wenn du in den USA geboren bist, deine Geschichte kommt hauptsächlich aus dem Nahen Osten. Das ist es also, was einen Menschen zum Araber macht. Also, Amira, wann hast du dich das erste Mal arabisch gefühlt?

Amira
Also für mich ist es ein bisschen mehr einzigartig. Es hat viel mit meiner Erziehung zu tun, die in Kalifornien, in San Francisco, begann, wo ich als kleines Kind lebte. Ich dachte, ich sei weiß, seiich sei ein weißes amerikanisches Mädchen aus Kalifornien. Es war nicht das Wort “arabisch”, es war eher meine Religion, die ich mit dem Wort “arabisch” verband. Meine Eltern sprachen mit mir auf Arabisch, und ich antwortete auf Englisch. Die Staaten empfand ich als Heimat. Aber es war etwas, was mich von meinen Mitschülern unterschied. Die arabische Sprache, die mit der Religion in Verbindung stand.
Alle brachten ihre Haustiere und ihre Teddybären mit, und ich las einen Vers aus dem Koran vor, weil ich dachte, das würde mich einzigartig machen. Es machte mich einzigartig, es unterschied mich von allen anderen. Und dann, als ich hierher aus den Staaten zurückkamen, nach Palästina, nach Jerusalem, war es, dass ich meine verwirrt Mutter fragte: “Mama, warum heißen hier alle Muhammad? Sind alle meine Cousins, ich fühlte mich eigenartig. Hier ist alles arabisch.” Jeder ist hier Araber. Und da dachte ich: “Ist das… Ist das die Vollendung des Wortes? Das ist arabisch. Und so fing es an zu sein.”

Ibrahim
Du hast dich deiner Gemeinschaft angeschlossen, nachdem du eine arabische Community getroffen hast, richtig?

Amira
Ich würde sagen, ich wurde hingeführt, nicht einfach so verbunden. Ich denke, jedes einzelne Wort, über das wir hier sprechen werden, ist ein Prozess. Es gibt keinen bestimmten Moment, in dem es heißt: Oh, das ist palästinensisch. Oh, es ist arabisch. Nein, ich glaube, es ist eher eine Reise. Es ist eher ein Aufbruch hin zum Verstehen, der, zumindest für mich, bis heute anhält. Aber ich bin sicher, du hat eine ganz andere Erfahrung gemacht.

Ibrahim
Jetzt versuche ich herauszufinden, wann ich das erste Mal gemerkt habe, ein Araber zu sein. Als ich aufgewachsen bin, wusste ich automatisch, dass man Araber ist, weil man Arabisch spricht. Man weiß, dass man Arabisch spricht. Wenn man sich den Kinderkanal für die arabischen Hörer anschaut, stellt man Arabisch ein, und man merkt als Kind, dass wir das sprechen. Ich erinnere mich, wie ich als kleines Kind zu meiner Mutter ging, und sie erzählte mir kürzlich diese Geschichte, dass meine Schwester und ich uns auf Fusha1 unterhielten, weil wir den Zeichentrickfilm nachahmen wollten. Denn in meiner Vorstellung sollten wir so auf Arabisch sprechen. Und das war das erste Mal, dass ich mich meiner arabischen Herkunft bewusst wurde, aber ich denke, wenn man sich bewusst wird, dass man eine Gemeinschaft ist, dann wurde mir auch klar, was jüdisch ist. Ich begann zu erkennen, dass man nicht nur Araber ist, sondern dass es Menschen gibt, die anders sind als man selbst. Da lernte ich mehr jüdische Menschen kennen. Und bei mir war das schon sehr früh der Fall, weil meine Cousins in einer jüdischen Stadt aufgewachsen sind. Sie waren die ersten, die jemals in dieser jüdischen Stadt lebten. Und in den Neunzigern war es überhaupt nicht üblich, in einer überwiegend jüdischen Gemeinde zu leben. Und das taten meine Cousins. Ihre erste Sprache war Arabisch. Entschuldigung. Ihre erste Sprache war eigentlich Hebräisch, und die zweite war Arabisch. Und wenn man aufwächst, sind die Cousins und Cousinen die besten Freunde, und ich ging zu ihnen und übernachtete bei ihnen und all diesen Dingen, aber alle ihre Freunde waren jüdisch, sie schauen Zeichentrickfilme auf Hebräisch. Und für mich war jüdisch einfach jemand, der genauso war wie ich, der aber eine ganz andere Sprache sprach. Um meine Cousins und Cousinen ein bisschen besser kennen zu lernen, musste ich Hebräisch lernen und mit ihnen und ihren Freunden spielen.

Amira
Wow. Bei mir war das ganz anders. Weil ich aus den Staaten hierher kam und Englisch konnte, hatte ich die gleiche Erfahrung. Arabisch brauchte ich, um mit meinen Cousins und Cousinen zu sprechen.

Ibrahim
Es gibt eine Menge Slangwörter, die deine Cousins benutzten. Da du in den USA lebtest, bist du sicher nicht mit ihnen in Berührung gekommen.

Amira
Das Gleiche gilt für den jüdischen Slang, für den hebräischen Slang.

Ibrahim
Oh, absolut. Als ich aufgewachsen bin, habe ich angefangen, den Kinderkanal zu gucken. Man lernt den Slang sofort. Ich bin zuerst mit der Kultur in Berührung gekommen, nicht mit dem, was Israel als Staat ist, als Regierung, nicht mit all diesen Dingen.

Amira
Wie alt wast du?

Ibrahim
Ich glaube, ich habe schon vor der Schule angefangen, die Sprache zu sprechen, wahrscheinlich mit fünf, sechs Jahren, als ich anfing, den Kinderkanal zu sehen. Als ich in der zweiten oder dritten Klasse war, habe ich angefangen, meine Lehrerin im Hebräischunterricht zu korrigieren, und sie war beleidigt und hat mir gesagt: “Nein, nein, du liegst falsch”.
Ich war mir sicher, dass ich im Recht war, weil ich die Sprache schon beherrschte. Aber ich glaube, der zweite Augenblick, mich als Araber zu fühlen, war bei einem politischen Thema, der Zweiten Intifada. Das war das erste Mal, dass ich merkte, dass ich nicht nur Araber bin und diese Sprache spriche, sondern merkte, dass es ein politisches Problem gibt, wenn man Araber ist. Denn das ist es, was wir sind. Und ich erinnere mich an die Intifada. Ich bin in Nazareth aufgewachsen, und die Intifada kam bis vor unsere Haustür in meinem Viertel. Wir hatten Zusammenstöße mit der Polizei, zwischen Zivilisten und der israelischen Polizei. Drei Menschen wurden in meiner Straße getötet. Ich erinnere mich daran, dass ich acht Jahre alt war, es war in den 2000er Jahren. Und ich erinnere mich, dass ich zu meinem Vater sagte, wir waren auf dem Balkon und man hörte das Geschrei, und ich fragte ihn, warum gehst du nicht hin? Ich glaube, man hat den Eindruck, dass die Leute uns vor einem fremden Eindringling beschützen wollen. Und das begann sich als das andere zu formulieren. Und ich sagte: “Okay, warum kämpft ihr nicht? Warum beschützt ihr nicht unsere Heimat? Das habe ich meinem Vater schon als kleines Kind gesagt. Und dann wurde mir klar, dass es hier um etwas Politisches geht, nicht nur um die eigene Gemeinschaft. Und ich erinnere mich, wie ich meine Mutter fragte: Warum sind wir geborene Araber und nicht nur Araber? Warum sind wir hier geborene Araber, wo doch Arabischsein hier keine majoritäre Angelegenheit ist ? Und ich erinnere mich, dass ich meiner Mutter damals die Frage stellte, ob ich Araber oder Palästinenser sei. Und ab der zweiten Intifada begann sich das Wort Palästinenser zu formulieren, zumindest für mich, und ich fing an, mehr und mehr von unserer Geschichte zu verstehen, vom zweiten Libanonkrieg. Und ich wurde mir bewusst, dass es einen Konflikt wegen der Palästina-Frage gibt. So sieht man das mit seinen Kinderaugen. Aber das erste Mal, dass ich mit dieser Frage wirklich konfrontiert wurde, war, als ich in der High School ein Stipendium für einen Aufenthalt in den USA bekam. Ich war Austauschschüler, und wir sollten bei einer amerikanischen Familie leben, in einem amerikanischen Haus wohnen. Und die Idee war, Stereotypen zu durchbrechen. Es wurde vom US-Außenministerium finanziert. Die Idee war, Stereotypen über Araber und Muslime aus dem Nahen Osten bei Amerikanern abzubauen. Und das geschah aufgrund von 911. Es war eine Reaktion auf 911. Und sie baten uns, eine Flagge mitzubringen. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.
Ich war ein Kind, ich war 16. Und da ich zu dieser Zeit keinen oder nur einen sehr minimalen Kontakt mit dem palästinensischen Aspekt der Kultur hatte, fühlte ich als Kind eine tiefe Verbindung zur Fahne, denn die Fahne war nicht so weit verbreitet, zumindest nicht so, wie ich sie in der Zeit, in der ich aufwuchs und als ich dort war, empfand. Und dann beschloss ich, die Kefiyyah als meine Flagge zu verwenden, weil ich mit der israelischen Flagge nichts anfangen konnte, weil sie jüdische Symbole enthält. Ich bin kein Jude, ich kann mich nicht anschließen. Und gleichzeitig wusste ich nicht, wie die palästinensische Flagge mich als Kind repräsentiert, also habe ich die Kefiyyah gewählt, weil sie das Symbol meiner Kultur ist. Schließlich begann ich damals, mehr und mehr von der Kultur der Palästinenser zu verstehen, und ich wollte sie in gewisser Weise als meine Flagge nutzen.
Und dann lernt man Leute zum ersten Mal Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen kennen. Es war in Washington, DC, mit all diesen Kindern aus dem ganzen Nahen Osten. Wir hatten eine Woche lang eine Zusammenkunft in DC, und dort ich traf Leute aus dem Westjordanland und aus Gaza. Und da merkt man, dass die eigenen Erfahrungen anders sind als bei anderen. Denn, weisst du, für diejenigen unter unseren Zuhörern, die nicht genau wissen, wer unsere Community ist, wir sind arabische Bürger Israels, oder arabische 48er. Das sind zwei verschiedene Begriffe, die verwendet werden, um unsere Community oder in der israelischen Rhetorik: israelische Araber zu beschreiben. Wir sind 20 % der Bevölkerung in Israel, israelische Staatsbürger. Wir haben den Pass, wir haben die Staatsangehörigkeit. Jeder Fünfte in diesem Land ist also Araber mit palästinensischen Wurzeln, was den Leuten manchmal gar nicht bewusst ist. Und so sind wir als Community gleichzeitig auch Bürger.
Wenn wir uns das Jahr 1948 anschauen, waren unsere Großeltern, die heute in ihren Gemeinden in Nazareth und anderen Gebieten im Norden Israels leben, Palästinenser, die Teil des palästinensischen Volkes waren, das nach Unabhängigkeit strebte. Als der Krieg begann, wurden einige Menschen getötet, einige flohen, andere blieben. Und die Menschen, die in diesem Gebiet blieben, das Teil des heutigen Israel wurde, sind unser Volk. Und sie blieben an diesem Ort etwa zehn Jahre lang unter Kriegsrecht, dann erhielten sie die Staatsbürgerschaft. Und wir sind die Nachkommen dieser Menschen. Heute sind wir etwa 2 Millionen Bürger. Das ist es, was wir sind: die 48er, und die andere Gruppe ist eine Community, die das Westjordanland und den Gazastreifen hat, die beide heute unter der Palästinensischen Autonomiebehörde stehen oder standen. In Wirklichkeit ist der Gazastreifen unter der Hamas, aber er steht unter palästinensischer Herrschaft. Jerusalem ist völlig anders.
Amira
Das ist eine ganz andere Geschichte.
Ibrahim
Und wir sind 48er und ihr seid 67er. Meine Frage an dich lautet also: Wann hast du dich zum ersten Mal als Palästinenserin gefühlt, oder wann hast du dich mit 67ern identifiziert, um zu erkennen, dass du nicht nur eine Palästinenserin bist, sondern eine Palästinenserin aus Jerusalem. 67. Wann hast du erkannt, dass das deine Identität in diesem Sinne ist?

Amira
Bevor ich also über meine Erfahrungen spreche, sollten wir unterscheiden, was 67 bedeutet. Vor dem Jahr 1967 gab es also Jerusalem. Ostjerusalem war unter jordanischer Herrschaft, unter jordanischer Kontrolle. Und dann gab es den 67er-Krieg. Und in der Zwischenzeit hatte Israel die Kontrolle über Westjerusalem. Und während des 67er Krieges annektierte Israel Ostjerusalem und erweiterte damit die Grenzen Jerusalems und blieb dann. Die Frage war, was wird mit den Palästinensern geschehen, die in Ostjerusalem leben? Werden sie die israelische Staatsbürgerschaft erhalten, so wie es mit den Arabern von 48 oder den Palästinensern von 48 der Fall war? Oder werden sie in der Stadt bleiben und umziehen? Das war die Situation. Es war verwirrend. Und die Frage: Was wird mit den Menschen in diesem Land geschehen, die dort leben? Und die Frage bleibt bis heute bestehen, die Bürger, die Bewohner erhielten israelische Aufenthaltsgenehmigungen, vorübergehende israelische Aufenthaltsgenehmigungen, in der Hoffnung, eines Tages eine Lösung zu finden, zu wissen, was passieren wird. Das versetzte die Menschen in Jerusalem in einen Status der Ungewissheit.

Und jetzt komme ich zu meiner Geschichte, als ich mich als Palästinenserin fühlte. Am Anfang, als meine Familie aus den Staaten zurückkam, ich weiß nicht einmal mehr, wie ich es nennen soll, ob ich Israel oder Palästina sagen soll. Aber in unserer Vorstellung kamen wir zurück nach Palästina. Wir wohnten in Ramallah in einem Familienhaus, das uns in Ramallah gehörte. Wir fuhren hin und her, denn die Hälfte unserer Familie lebt in Ramallah im Westjordanland, die andere Hälfte in Jerusalem. Wir fuhren also immer wieder hin und her. Hin und her bedeutet, dass man hin und her durch einen Kontrollpunkt muss, was absolut demütigend ist. Und wenn wir den Aspekt der Demütigung einmal beiseite lassen, dann kostet das Hin und Her, das Warten in der Schlange, sei es mit dem Auto oder in der Schlange, sehr viel Zeit.
Ich erinnere mich, dass ich meine Großmutter besuchte. Ich erinnere mich, dass mein Vater duschen wollte oder jemand wollte duschen. Und meine Großmutter sagte, oh, heute gibt es kein Wasser. Wir haben das Wasser aufgebraucht. Ihr müsst also warten, oder ich kann euch Wasser aufwärmen. Ich fragte: “Was soll das heißen, sie haben kein Wasser? Warum haben sie kein Wasser? Warum sind wir anders?” Und dann kam natürlich: “Oh, Gott sei Dank, wir leben in Jerusalem”.” Warum ist da ein Unterschied?” Und dann kam die Frage: Bin ich ein Palästinenserin? Ich lebe nicht unter denselben Bedingungen wie die Menschen im Westjordanland, das hauptsächlich palästinensisches Gebiet ist, das, was wir als Palästina sehen, oder das, was nur als Palästina bezeichnet wird. Bin ich also Palästinenserin? Ich leide nicht unter dem palästinensischen Leiden, doch ich habe meine eigene spezifische Art von Leiden, nämlich das Leiden einer Jerusalemerin.

Ibrahim
Du sagst also, dass du eine Mischung aus Arabern, Muslimen, Palästinensern und Jerusalemern bist, aber du weißt auch, dass es verschiedene Identitäten gibt, die darüber hinaus existieren.

Amira
Genau. Es war alles eine Mischung aus beidem. Es war muslimisch, es war arabisch, es war palästinensisch. Aber ich bin was? Es war eine Frage, selbst wenn die Leute mich fragten, sagte ich bis heute: Jerusalem, Jerusalem, weil es so einzigartig ist, so spezifisch für das, was ein Palästinenser aus Jerusalem durchmacht.
Und dann hatte ich eine Tante, die in eine Familie eingeheiratet hat, die im Norden lebte. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, finde es interessant, wie unterschiedlich die beiden waren. Wie wir uns gegenseitig sahen und betrachteten. Wenn ich meine Mutter fragte, sagte sie mir, dass sie aus dem Norden kämen, Leute aus dem Norden seien.
Wo ich hingehöre, sind die Grenzen die von Ost-Jerusalem. Und als ich aufwuchs, war ich so fasziniert von der Frage: Moment mal, aber wie unterscheiden wir uns? Und dann begann ich, nach und nach zu lernen.Ich spürte, dass es einen Unterschied gab, so wie ich auch einen Unterschied zwischen meinem Palästinensertum, meinem Gefühl, Palästinenserin zu sein, und dem meiner Großeltern sah, die im Westjordanland lebten.
Und dann ging ich zur Universität. Wir werden gleich über Bildung sprechen, und später werden wir speziell über Jerusalem sprechen. Aber aufgrund des Bildungssystems ist es extrem schwierig , an eine israelische Universität zu kommen, wenn man aus Ost-Jerusalem kommt, wegen der Sprache, wegen des Unterschieds. Und es ist etwas sehr weit Entferntes, über das wir nichts wissen, weil es das andere ist. Man geht an einen Ort, der einem nicht vertraut ist. Und da ist vor allem das Fehlen der Sprache, das Fehlen von Hebräischunterricht.

Ibrahim
Ist Hebräisch in Ostjerusalem nicht Pflichtfach?

Amira
In einigen Schulen schon, aber es ist nicht verpflichtend. Wenn man in Ostjerusalem in ein Restaurant geht, sind die Schilder auf Arabisch, natürlich sind die städtischen Schilder in allen drei Sprachen, Hebräisch, Englisch und Arabisch. Aber die Schilder von Restaurants und Supermärkten sind alle auf Englisch und Arabisch, und das mögen die Leute nicht. Hebräisch hört man nicht jeden Tag, es sei denn, es geht um die Polizei oder um Soldaten. Das haben wir also nicht. Oder es sei denn, wir fahren nach Westjerusalem, um einzukaufen oder aus medizinischen Gründen zur Bank zu gehen, um solche Dinge zu erledigen.
Und das ist eine große Lücke, etwas, das die Jerusalemer im Allgemeinen nicht nur daran hindert, sich zu integrieren, sondern auch daran, im Leben voranzukommen. Ich bin also nicht auf eine israelische Universität gegangen. Meine einzige Möglichkeit war, ins Westjordanland zu gehen und an einer palästinensischen Universität zu studieren. Ich studierte also an der Al Quds Universität. Und ich erinnere mich, dass der Umgang mit den Menschen, die Art, wie sie sich verhalten, völlig anders war als die Jerusalemer, die ich gewohnt bin. Und nicht nur der Dialekt, sondern auch die Kultur der Menschen, ihre Sprache, ihre Körpersprache, alles ist völlig anders. Und dann ist auch ihre Wahrnehmung von mir völlig anders. Du bist anders, ich bin anders. Es ist wie, “Ah, die Jerusalemer”. Oder, “Oh, die Leute von drinnen. Ihr habt es leicht. Ihr werdet fürs Leben bezahlt. Ihr lebt umsonst”.
Ich fragte mich: “Was ist hier los? Das ist nicht die Wirklichkeit, so viele Fehlinformationen.” Und ich habe diese Dinge gehört. Es ist nicht etwas, worüber man spricht. Ich habe diese Dinge mit meinen eigenen Ohren gehört. Die Leute haben darüber geredet und dann ist es passiert. Ich habe israelische Angriffe auf die Universität miterlebt und bin vor Stuntgranaten oder Tränengas in Deckung gegangen. Und dann habe ich gemerkt: “Okay, zu allererst fühle ich mich als Palästinenserin.”

Ibrahim
Du begannst, die Erfahrungen zu verstehen, von denen sie dir erzählen.

Amira
Schließlich gehe ich zurück nach Jerusalem. Und das werden auch meine eigenen Erfahrungen. Es ist jedesmal eine eigene Prüfung, wenn ich jeden Tag zur Universität hin und zurück fahre, was eigentlich nur 15 Minuten mit dem Auto dauern sollte, aber wegen der Checkpoints so viel mehr Zeit braucht. So hat sich meine palästinensische Identität herausgebildet. Das ging für mich immer noch mit arabisch und muslimisch einher.

Ibrahim
Und du habst es schon ein bisschen angesprochen. Für mich war die Sprache einer der Gründe, warum ich schon früh in der Lage war, mit Menschen in Kontakt zu treten und mit jüdischen Menschen in Kontakt zu kommen. Die Sprache ist der Schlüssel, und die Sprache gibt dir Zugang zur Kultur, nicht nur die Fähigkeit zu sprechen. Ich bin damit aufgewachsen, dass ich den Kinderkanal auf Hebräisch gesehen habe. Für mich ging es nicht nur darum, die Sprache zu lernen, sondern auch darum, dass es die normalen Zeichentrickfilme gab, die wir uns alle angesehen haben, aber auch andere Sendungen, die kulturell passender waren.

Amira
Ich habe noch nie von diesen Kanälen gehört.

Ibrahim
Weißt du, keiner meiner Freunde in Nazareth hat die Kinderkanäle auf Hebräisch gesehen, außer mir. Außer mir. Ich fühlte mich in diesem Sinne als Außenseiter. Wenn ich über diese Zeichentrickfilme sprach, sprach ich nur mit meinen Cousins und ihren jüdischen Freunden darüber, aber nicht mit meinen Freunden. Ich war ein großer Fernsehnarr. Es gab mir auch einen Einblick in die jüdische Kultur, weil sie an jedem Feiertag über den Feiertag sprachen, woher er kommt, die kulturellen Aspekte. Das habe ich also aufgesogen. Und es gab mir die Fähigkeit, mit den Menschen in Kontakt zu treten und sie nicht mit einem politischen Blick zu betrachten, denn das tat ich von klein auf nicht. Ich betrachtete sie als Menschen mit einer anderen Kultur, die mich faszinierte.
Meine Frage ist, da du erwähnt hast, dass die Sprache eine große Barriere darstellt, wann kam der israelische Teil Ihrer Identität ins Spiel? Und war die Sprache dabei ein Schlüsselelement? Und was geschah, damit Sie auch Teil der israelischen Identität wurde?

Amira
Ich glaube, ich bin immer noch dabei, den israelischen Teil meiner Identität kennenzulernen. Ich bin immer noch auf Suche nach Aspekten meiner Identität. Ich denke, dass Identität etwas sehr Komplexes ist und man ein Leben lang braucht, um sie zu erkunden und zu sehen, was einem gefällt. Und wenn man etwas Eigenes hinzufügen will, dann muss man es auch tun.
Aber wenn es um den israelischen Teil meiner Identität geht, denke ich, dass es mich gebraucht hat. Ich werde Ihnendir sagen, was genau mit mir geschah, weil ich als Außenseiterin kam und Englisch sprach. Wie du sagtest, ist die Sprache ein sehr wichtiges Werkzeug. Ich kam mit meinem Englisch. Wenn ich also von Ostjerusalem, meinem kleinen Dorf, nach Westjerusalem ging, traf ich Leute, hörte sie Englisch sprechen und dachte: Das klingt wie zu Hause. Das klingt wie in den Staaten. Ich sie ansprechen und habe sie als Teenager angesprochen, und wir haben uns auf Englisch unterhalten, mit amerikanischem Akzent, und es war wie bei diesen Leuten. Für mich war das völlig normal, und es war in Ordnung. Und ich dachte, oh, diese Amerikaner.
Dann lernte ich, dass es Juden, Israeli und Besatzer gibt. Denn abgesehen von den Checkpoints,war alles normal. Für mich war es also normal, dass wir in einer beschissenen Situation sind, weil wir Palästinenser sind. Aber ich habe nichts außerhalb davon gesehen. Ich dachte nicht: “Oh, das muss sich ändern. Ich war noch jung. Ich dachte, es ist, wie es ist. Aber dann erinnere ich mich, dass wir eines Tages in ein neues Haus zogen, und einen Monat später, als ich von der Schule nach Hause kam, sah ich einen Haufen Soldaten, die klatschten und den Teilabriss unseres Hauses, ankündigten.

Ibrahim
Wow.

Amira
Und ich schaute hin und fragte mich: Was passiert da? Es gab keine Vorwarnung. Es gab nichts, gar nichts. Wir haben das Haus hier gekauft, und dann, ein oder zwei Monate später, fand der Teilabriss statt. Und wohlgemerkt, es war niemand zu Hause. Sie kamen einfach.

Ibrahim
Sie haben abgerissen und einfach abgerissen.

Amira
Es war niemand zu Hause.

Ibrahim
Du kamst gerade an und sahst nur Soldaten vor deinem Haus und dann, dein Dach ist weg.

Amira
Und da habe ich angefangen zu sehen, okay, es gibt etwas, das man Besatzung nennt. Und es sind nicht nur Checkpoints und es heißt Israel. Und das ist etwas, das wir nicht aussprechen. Wir sagen dieses Wort nicht in Ost-Jerusalem. Es ist wie ein Tabu.

Ibrahim
Es heißt al-ihtilal .

Amira
Es heißt al-ihtilal: Die israelische Besatzung. Es gibt überhaupt keine Anerkennung des Staates Israel. Das ging so weit, dass ich, wenn ich wieder sagen wollte, wo ich herkomme, um den ganzen Quatsch zu vermeiden, einfach sagte: Ich komme aus Jerusalem. Das hat meine Jerusalem-Identität noch mehr und mehr gestärkt. Aber dann, als ich älter wurde, fing ich an zu arbeiten, und ich fing an, Leute aus dem Norden zu treffen, ich fing an, mehr Israelis zu treffen, und ich war wie, okay, ich bin sehr verwirrt. Ich bin extrem verwirrt.

Ibrahim
Bist du immer noch verwirrt?

Amira
Ich bin immer noch verwirrt. Wenn es um Israel und die so genannte Demokratie geht, gibt es viele gute Gesichter. Es gibt viele gute Bilder von Israel, von Situationen, in denen Araber die gleichen Chancen haben und sich gut entwickeln. Es gibt viele gute Geschichten.

Ibrahim
Ja. Ich muss sagen, wir sind immerhin 48er, wir sind 20% der Bevölkerung. Aber wenn man sich die Ärzte und Krankenschwestern anschaut, 50%, wir sind 30% bei den Ärzten und Krankenschwestern, bei den Apothekern sind wir 50%.
Und die Anwälte auch.

Amira
Im Gesundheitswesen im Allgemeinen, glaube ich, sind es 50%.

Ibrahim
Im Gesundheitswesen sind es dreißig Prozent, wirklich. Dreißig Prozent des Gesundheitswesens, zwischen 30 und 40 %, das ist eine Menge für 20 % (Bevölkerungsanteil). Wir können also erfolgreich sein.

Amira
Aber man wird nach seinem schlechtesten Image beurteilt, und das hat mir ein israelischer Freund erzählt. Und das schlimmste Bild Israels ist Jerusalem, wo es Menschen gibt, die keine Bürger sind, sondern in einer Art Vorhölle des Leidens gehalten werden. Jeder einzelne Lebenszyklus ist ein Kreislauf, in dem es keine wirklichen Grenzen gibt, die Ostjerusalem abgrenzen.

Ibrahim
nach Westen.

Amira
Ja, es gibt keine wirklichen Grenzen, nicht wie im Westjordanland, es gibt keine wirkliche Grenze, aber es gibt diese unsichtbare, eine Trennung, die man fühlt. Wenn man vom Damaskustor, von Babel Amud bis zur Mamilla Mall geht, geht man als Palästinenser, als Jerusalemer, in fünf Minuten von einer Mehrheit zu einer Minderheit.

Ibrahim
Interessant.


Amira
Man wechselt also von seinem Volk, von seiner Kultur, vom Hören des Adhan2 in seinem Ohr zu Menschen, die deine Sprache nicht sprechen. Und wenn man aus Ostjerusalem kommt und kein Hebräisch spricht, ist man plötzlich in Chinatown, und es dauert nur fünf Minuten. Es gibt also diese Barriere, die Israel aufrechterhält und den Status quo bewahrt hat. Zugegeben, Jerusalemer können die israelische Staatsbürgerschaft beantragen. Ich für meinen Teil habe die israelische Staatsbürgerschaft, aber ich habe eine besondere, eine einzigartige Situation. Ich wurde mit ihr geboren. Aber die Mehrheit der Ostjerusalemer ist aufgrund des Status quo, aufgrund der politischen Situation und wegen der 67 nicht dafür qualifiziert.

Ibrahim
Sie ziehen es vor, ihre Jerusalemer Macht zu behalten.

Amira
Ich habe vor dem Krieg eine Statistik gelesen, wonach der Prozentsatz der Menschen in Ostjerusalem, die die Staatsbürgerschaft beantragen und haben wollen, gestiegen ist. Ich weiß nicht, was nach dem Krieg geschehen ist, aber unabhängig davon, ob sie alle die Staatsbürgerschaft wollten, ist es für Israel von Nachteil, ihnen die Staatsbürgerschaft zu geben. Und das macht es extrem schwierig. Äußerst schwierig.

Ibrahim
Warte. Es ist ein Nachteil. Für wen?

Amira
Für die? Für Israel.

Ibrahim
Warum ist die Nationalität ein.

Amira
Nachteil, wenn man in der Regierung des einzigigartigen jüdischen Staates ist, zu dem 20% Araber zählen. Wenn man Ostjerusalem herausnimmt, würdest du dann den Prozentsatz der Araber, die den Premierminister wählen können, erhöhen wollen?

Ibrahim
Auf jeden Fall.

Amira
Wenn du Israeli wärst, wenn du ein rechter Israeli in der Regierung wärst?

Ibrahim
Wie viele Einwohner hat Ostjerusalem?

Amira
Heute leben in Ostjerusalem etwa 580.000 Menschen. 61% davon sind Araber, Palästinenser. Und der Rest, die restlichen 39 Prozent sind jüdisch.

Ibrahim
Ich meine, das ist eine Menge. Aber wenn wir uns Jerusalem ansehen, ist es auch sehr kompliziert zu bestimmen, was Jerusalem ist. Ich denke, dass Jerusalem eine eigene Episode braucht.
Denn Jerusalem hat sich vergrößert, die Flüchtlingslager, die vorher nicht zur Stadt gehörten, wurden Teil der Stadt und haben die Bevölkerung der Stadt vergrößert, die ursprünglich gar nicht zur Stadt gehörte. Es gibt also so viele Elemente. Aber wenn wir über Diskriminierung und all diese Dinge sprechen, dann ist sie das Schlimmste. Man wird diskriminiert, weil man anders ist, man wird per Gesetz diskriminiert. Denn ich kann an den Wahlen teilnehmen und du nicht. Richtig. Aber du darfst bei Kommunalwahlen wählen, nicht bei Regierungswahlen.


Amira
Nicht in der Regierung.

Ibrahim
Du hast also viel weniger Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Und das ist ein Problem. Und der Staat muss seine eigenen Antworten finden. Es ist mir egal, ob sie ein Problem damit haben, dass unsere Wahlbeteiligung steigt. Ich meine, wir haben sowieso keine so hohe Wahlbeteiligung. Und die Menschen in Ostjerusalem gehen nicht einmal bei den Kommunalwahlen in so großer Zahl zur Wahl. Wenn also jemand von der extremen Rechten diese Ausrede benutzt, dann ist das eine Ausrede für ihre Angst um ihre eigene politische Macht. Und es ist nicht mein Problem, dass sie sich wegen der Zahlen Sorgen machen werden. Wir sind hier, wir existieren.

Amira
Es hält die Bevölkerung zusammen. Es geht nicht nur darum, nicht zu wählen. Das sind Leute, die keine Staatsbürgerschaft haben. Sie haben zum Beispiel kein Reisedokument. Einige von ihnen haben entweder ein palästinensisches oder ein vorläufiges jordanisches Reisedokument, aber keine Staatsbürgerschaft. Sie haben also keine jordanischen Rechte. Sie haben nur das jordanische Dokument, mit dem sie reisen können. Andere müssen ein so genanntes  Laissez-passer  beantragen, das ist eine Art Reiseerlaubnis, eine Art befristetes Visum. Ich bin auf dieses Privileg gestoßen, als ich an einem Schüleraustausch teilgenommen habe. Mit meiner Schule fuhren wir nach Deutschland, also mussten wir alle reisen. Und jeder wurde gebeten, Papiere auszufüllen, was übrigens ein großes Thema ist, wenn man Palästinenser ist und nicht weiß, was man ausfüllen soll. Aber wir füllten die Papiere aus. Und dann gab es diese Reise zum Innenministerium, und ich fragte mich, warum? Warum gehen wir zum Innenministerium? Oh, nein, das war nicht meine Frage. Ich habe mich gefragt: Warum gehe ich nicht ins Innenministerium? Weil ich und ein anderes Mädchen in der Klasse saßen und an diesen außerschulischen Aktivitäten teilnahmen, während alle anderen in einem Land auf einer Exkursion waren. Warum Innenministerium?, um Laissez-passer  zu beantragen, also Reisedokumente, um das Land verlassen zu können. Da habe ich den Unterschied zwischen meiner palästinensischen Identität und der in Jerusalem selbst gespürt. Ich dachte: Okay, ich unterscheide mich nicht nur von den Arabern im Norden von den Palästinensern im Norden, ich unterscheide mich nicht nur von den Palästinensern im Westjordanland, sondern auch von denen, die ich hier habe. Das ist ein Unterschied. Ich habe die israelische Staatsbürgerschaft, die die meisten meiner Klassenkameraden nicht haben.
Um das klarzustellen, der einzige Grund, warum ich die israelische Staatsbürgerschaft habe, ist der, dass meine Mutter sie hat. Mein Vater hat sie erst kürzlich bekommen, nachdem er sie jahrelang beantragt hatte.

Ibrahim
Also, selbst wenn man sich bewirbt, ist es nicht so, dass man sie mit einem Klick bekommt, wie eine Ost-Jerusalem-Idee, weil es so klingt, als würde Israel einem anbieten, sich zu bewerben. Wenn ich mich also bewerbe, bekomme ich es in 2 Sekunden?

Amira
Aber so ist es nicht. In Wirklichkeit haben sie uns unter die Lupe genommen. Sie haben uns buchstäblich gequält, Papiere hin- und hergeschoben, uns falsche Hoffnungen gemacht. Allerdings können wir wegen der Situation meines Vaters nicht als Familie reisen, denn er ist im Krankenhaus. Er durchläuft diesen langen Prozess, um die israelische Staatsbürgerschaft zu beantragen.
Sie würden uns sagen, dass das Haus zu klein ist dafür, nachdem sie die Hälfte davon abgerissen haben. “Euer Haus ist zu klein, um sechs Personen darin wohnen zu lassen. Wir glauben den Informationen nicht, die Sie uns geben. Da ist etwas faul. Es ist unmöglich, dass Sie so viel Strom verbrauchen.” Das sind die Vorwürfe, die man uns machte. Am Ende schickten sie plötzlich und ohne Vorankündigung jemanden zu uns nach Hause, um sich zu vergewissern, dass alle anwesend waren, und um unser Haus zu vermessen, um sicherzustellen, dass die von uns gemachten Angaben korrekt waren. Und nach einem langen Prozess und einer Menge Geld hat mein Vater sie schließlich bekommen, die israelische Staatsbürgerschaft.


Ibrahim
Dann ist es nicht verwunderlich, dass du dich nicht zurecht findest. Sagen wir es mal so. Bei all diesen komplexen Sachverhalten und auch in deinem speziellen Fall in Jerusalem ist es wirklich schwierig. Es ist ein Weg, die wir alle durchlaufen müssen, um unsere Identität zu entschlüsseln, denke ich. Ich kann dir sagen, dass ich auch lange Zeit nicht durchgesehen habe. Ich wuchs als Kind als Araber in Israel auf. Und ich glaube, als ich dann anfing, wirklich viel auf Hebräisch zu sehen, habe ich später im Leben viel auf Hebräisch konsumiert. Ich glaube, das hat auch meine Selbstwahrnehmung beeinflusst und mich vielleicht ein bisschen israelischer gemacht, weil alles, was ich von der Mittelschule bis zur High School konsumiert habe, so viel auf Hebräisch war. Selbst wenn ich mir einen Film ansah, las ich die Untertitel auf Hebräisch, nicht auf Arabisch.

Amira
Oh, wow.

Ibrahim
Ich habe sie dann schneller gelesen. Und eigentlich hat das meine Wahrnehmung definitiv beeinflusst. Und ich habe das Gefühl, dass der israelische und der palästinensische Teil von mir verschiedene Phasen durchlaufen haben.
Und ich erinnere mich, dass eine der wichtigsten Phasen die war, als ich in der High School in die USA ging, was meine palästinensische Identität stärkte. Und als ich dann an die Universität ging, kam ich auch mit den anderen palästinensischen Identitäten in Berührung, die es da draußen gibt, nicht nur im Westjordanland und im Gazastreifen, sondern auch, weil ich 2011 und zwölf während des Arabischen Frühlings mein Studium an der amerikanischen Universität in Kairo in Ägypten begann.

Vielleicht werden wir eines Tages mehr über die Erfahrung sprechen, eine Revolution in einem Land zu erleben, in dem man eigentlich studieren sollte. Aber ich erinnere mich, dass mein Zimmergenosse damals ein palästinensischer Flüchtling im Libanon war. Und als wir uns zusammensetzten und anfingen, unsere Geschichten und unsere Lebensrealitäten zu vergleichen, konnte ich nicht glauben, wie unterschiedlich wir sind. Ich meine, zunächst einmal war die Tatsache, dass wir eine so unterschiedliche Realität haben, die eine Sache, und die andere war, dass ich nicht verstehen konnte, wie wir hier in Israel in einem Land leben können, in dem man, wenn man eine sehr starke palästinensische Sichtweise hat, in gewisser Weise in einem feindlichen Staat lebt, oder in einem Land, das am Ende des Tages nicht das Beste für einen will.

Aber ich konnte nicht verstehen, wie ich in Israel mehr Rechte haben konnte. Es ist nicht einmal vergleichbar, denn die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon hatten keine Rechte. Und ich konnte nicht verstehen, dass ich in Israel Rechte habe, während alle sagen, er sei der Feind und all diese Dinge, und ein Palästinenser ist in einem anderen arabischen Land und hat keine Rechte. Das war es für mich. Ich konnte diese Erkenntnis nicht begreifen. Und dann bin ich in die USA gegangen und habe dort weiter studiert. Plöötzlich war ich Israeli. Ich wurde aufgefordert, Ägypten zu verlassen, weil ich dort an einer Revolution beteiligt war und niemand mir ein Visum geben wollte, um weiter zu studieren. Letztendlich bin ich ein israelischer Student, und ich erinnere mich, dass ich nach Ablauf meines Visums noch länger geblieben bin, weil ich mit einem Touristenvisum eingereist war und ich von der Universität selbst ein Studentenvisum bekommen sollte. Und ich erinnere mich, dass ich blieb, nachdem mein Visum abgelaufen war, und ich bekam ein offizielles Schreiben von der ägyptischen Regierung und es war buchstäblich, buchstäblich wie folgt an die Universität geschrieben:
Sie haben einen israelischen Studenten namens Ibrahim Abu Ahmad. Der israelische Student, Ibrahim Ahmad, hat seinen Aufenthalt verlängert. Der israelische Student muss die Universität und das Land verlassen. Und sie haben dem israelischen Studenten fünf, sechs Mal geschrieben.

Um das zu unterstreichen. Und ich wurde dort als Israeli beurteilt, nicht als Araber. Ich schrieb eine Petition darüber, dass ich Araber und Muslim bin, aber das interessierte am Ende niemanden und ich musste gehen. Und ich glaube, als ich in Ägypten war, wurde mir klar, dass es ein israelisches Element in meiner Identität gibt, das in gewisser Weise relativ stark ist, denn als ich in Ägypten ankam, hatten meine ägyptischen Freunde keine Ahnung, was arabischer 48er ist. Sie hatten keine Ahnung, dass es uns gibt. Sie waren sich sicher: Israel ist jüdisch, Palästina ist arabisch. So schwarz und weiß ist das. Und als ich ihnen meinen Pass zeigte, wollten die Leute Fotos machen. Sie waren völlig verblüfft. Da steht ein arabischer Name in einem israelischen Pass. Sie konnten es nicht glauben. Aber dann ging ich in die USA, und in den USA wissen Sie, wie die westliche Welt zum israelisch-palästinensischen Konflikt steht. Und ich wollte aufgrund meiner ägyptischen Erfahrungen und weil ich eine Revolution gesehen hatte, internationale Beziehungen studieren. Ich glaubte an die Macht des Einflusses, und deshalb wollte ich dieses Thema studieren. Und dort wollte ich wirklich mehr über meine palästinensische Identität lernen und verstehen, und das hat mich sehr gestärkt. Aber dann bin ich jeden Sommer nach Hause gefahren und habe in einem israelischen Restaurant in Tiberius gearbeitet. Alle meine Kollegen sind jüdisch. Sie sind alle gleichzeitig Freunde von mir. Und ich habe tolle Beziehungen zu ihnen allen aufgebaut. Da merkt man wieder, dass es nicht so schwarz-weiß ist, wie es ist. Und ich war so lange so verwirrt, bis ich, glaube ich, zu meiner eigenen Klarheit gekommen bin.
Heute glaube ich, dass ich all das bin, was ich bin. Ich bin Araber, ich bin Palästinenser und ich bin Israeli. Mein Arabischsein ist die Sprache. Sie ist ein Teil meiner arabischen Welt. Mein palästinensisches Wesen ist für mich die Kultur, unsere interne Kultur, sogar im Norden, wo die Leute das Gefühl haben, dass wir so getrennt und anders sind, aber unsere Kultur, das Essen, die Normen, alles das, war für mich palästinensisch.
Und der dritte Punkt ist, dass Israeli auch Kultur ist, denn das ist es, was Israeli für mich ausmacht. Wenn wir über die Tatsache sprechen, dass wir Araber, Palästinenser und Israelis sind, ist das israelische Element der kulturelle Aspekt. Es geht nicht nur darum, dass ich mit dem Kinderkanal aufgewachsen bin, sondern auch darum, mit anderen Israelis, Juden, zusammenzuleben, Freunde zu haben, zu ihren Hochzeiten zu gehen, ihre Feiertage zu besuchen, die Feiertage gemeinsam zu erleben. Und ich denke, der andere Teil davon ist die Erkenntnis, dass meine Realität als Israeli nicht die Realität des Westjordanlandes ist, nicht die Realität des Gazastreifens und definitiv nicht die Realität eines Flüchtlings. Unsere Realität ist, dass wir in Israel geboren wurden und dies Teil dessen ist, was wir sind. Und der kulturelle Austausch, den wir haben, findet nicht nur auf individueller Ebene statt. Wir tun es als Gemeinschaft und wir als Gemeinschaft mischen eine Menge Sprache. Wenn sich zwei Araber aus dem Norden miteinander unterhalten, wird die Hälfte ihrer Worte mit Hebräisch vermischt sein. Es gibt so viel Hebräisch in unserem Slang. Also haben wir unsere Kulturen miteinander verschmolzen. Wir haben etwas von der israelischen Kultur und der Sprache übernommen. Das ist also ein Teil dessen, was wir heute sind. Und übrigens auch umgekehrt. Jüdische Leute benutzen heutzutage so viel Arabisch, wenn sie Hebräisch sprechen, das ist verrückt.

Amira
Hast du sie fluchen hören?

Ibrahim
Na ja, weißt du, sie tun das am meisten, wenn sie fluchen, weil Flüche auf Arabisch leidenschaftlicher sind. Das ist einfach so. Und die Leute lieben es, auf Arabisch zu fluchen, das verstehe ich. Aber es ist noch bizarrer. Nicht wenn sie fluchen, sondern wenn sie nicht wissen, dass das Wort, das sie benutzen, eigentlich arabisch ist. Ja, manchmal sind sie sich sicher, dass es sich um eine Abwandlung eines hebräischen Wortes handelt, und sie verstehen nicht, dass das, was sie benutzen, eigentlich arabische Wörter sind. Aber so sehr ist unsere Kultur in gewisser Weise miteinander vermischt. Aber wir, als Gemeinschaft, haben das Gefühl, dass es dieses Gefühl gibt, weil wir arabische Israelis sind, gibt es dieses Gefühl. Man ist entweder dies oder das. Und wenn man sich mit der israelischen Seite verbindet, hat man das Gefühl, die palästinensische Seite zu verraten. Und ich glaube, deshalb stecken wir als Gemeinschaft in diesem Schwebezustand zwischen diesen Identitäten fest.
Und für uns stellt sich die Frage, was ist Israel und was ist palästinensisch und wie kommen diese Dinge zusammen? Aber ich hatte das Gefühl, wenn ich alle diese Dinge als Teil meiner Identität ansehe und nicht das eine über das andere stelle, dann ist es nicht so, dass das eine mehr ist als das andere. Und ich habe versucht, dieses Spiel zu spielen, dass mir das eine wichtiger ist als das andere. Ich habe mich persönlich sicherer gefühlt. Ich fühlte mich sicherer, was meine palästinensische Identität anging, und ich fühlte mich besorgter über die israelische Identität. Selbst wenn ich zu dir nach Ostjerusalem komme und einer der Soldaten mich anhält, spreche ich mit ihm wie mit einem Bürger, nicht wie mit einem Araber, nicht wie mit einem Palästinenser, nicht wie mit jemandem, der besorgt ist. Wenn dieser Soldat etwas von mir will, schaue ich ihm einfach in die Augen und frage: “Was wollen Sie? Ich bin ein Bürger. Ich habe Rechte. Und ich brauchte dieses Gefühl. Ich brauchte ein vollständiges Bild meiner Identität, um mich an diesem Ort wohl zu fühlen. Und so ist es auch mit meiner palästinensischen Seite meiner Identität. Jetzt bin ich viel mehr im Frieden.
Und du hast immer noch deinen Weg vor dir, also viel Glück dabei. Es ist nicht leicht, die Antworten zu finden, die man sucht. Und ich bin sicher, dass ich mir diese Frage auch in Zukunft immer wieder stellen werde.
Wie siehst du all diese drei Elemente oder Identitäten zusammengenommen?

Amira
In gewisser Weise sind all diese Identitäten miteinander verschmolzen. Ich antworte genauso, wie du es dargestellt hast. Ich fühle alles von dem oben genannten. Ich fühle all das, weil ich es nicht bin.

Ibrahim
Interessant.

Amira
Ergibt das einen Sinn?

Ibrahim
Nein. Erklär das bitte.

Amira
Ich fühle all das, weil ich es nicht bin. Das bedeutet, dass ich Zeit gebraucht habe, um zu erkennen, dass ich es nicht bin. Ich gehe nicht mit jeder Identität als Ganzes in Übereinstimmung, sondern mit bestimmten Teilen jeder Identität und habe deshalb Teile von jeder genommen und eine einzige daraus gemacht.

Ibrahim
Ganz genau.

Amira
Und wenn ich sage, ich gehe zurück zum Schwarz-Weiß-Denken, wenn ich sage, ich bin Palästinenser, Israeli und Araber, warum passen diese Dinge zusammen? Warum kollidieren diese Dinge nicht?

Ibrahim
Weil man es nicht von der politischen Identität aus betrachtet.

Amira
Ich betrachte es nicht als politische Identität. Und gleichzeitig gebe ich ihm meine eigene Note. Ich bin diejenige, die definiert, was palästinensisch ist, was es für mich bedeutet, Israeli zu sein, denn das bin ich nicht. Ich bin nicht völlig israelisch. Es gibt Dinge in der Kultur, es gibt Dinge in der Religion des Judentums, mit denen ich überhaupt nicht übereinstimme. Das größte Beispiel ist der Unabhängigkeitstag. Ich bin sicher, wir beide lieben unsere jüdischen Freunde. Aber am Unabhängigkeitstag sitze ich in meinem Zimmer ohne sozialen Medien, weil ich diesen Scheiß nicht sehen will, vor allem, weil unser Leid nicht anerkannt wird. Und das war der Punkt, an dem ich das Gefühl hatte. Ja, an einem bestimmten Punkt gibt es ein Hoch und ein Tief für jeden. Meine israelische war auf einem Hoch. Und dann kam der Unabhängigkeitstag und es ging steil bergab. Ich bin also alles, aber nicht alles in vollem Umfang. Also, ja, ich bin alles von allem, wie ich schon sagte, immer noch auf der Reise, das zu entdecken. Alles von alledem. Vielleicht behalte ich es. Vielleicht lasse ich ein paar davon weg, ich habe diese israelische Erfahrung, ich habe diese arabische Erfahrung und ich habe diese palästinensische Erfahrung. Und keine einzige Person kann mir etwas anderes erzählen.

Ibrahim
Auf jeden Fall. Es ist unsere Erfahrung. Das ist die Art und Weise, wie wir all diese Dinge erleben. Für mich ist der israelische Teil die Kultur. Es geht nicht darum, israelisch zu sein im Sinne von jüdisch zu sein und die Nationalhymne zu singen oder zur Armee zu gehen oder irgendetwas von diesen Dingen, mit denen sich ein Jude in Israel vielleicht als israelisch sehen kann. Und vielleicht ist das für ihn so, vielleicht bin ich es nicht. Für ihn wird es auf bestimmte Elemente ankommen, die für mich nicht zutreffen. Aber ich sehe es so, dass ich Hebräisch spreche und jüdische Freunde habe. Und schließlich leben wir hier zusammen und vermischen unsere Kulturen. Und ich würde zu Pessach zu meinen Freunden gehen. Ich liebe die Reinigungsarbeiten an Pessach. Ich erinnere mich noch daran, als ich in einem Restaurant gearbeitet habe, wo ich auch geputzt habe.
Ich erinnere mich, dass wir in einem Restaurant einen Rabbiner hatten. Es war ein koscheres Restaurant, in dem ich gearbeitet habe. Und der Rabbi kam immer am Abend vor Pessach. Und er sagte: “Okay, wenn Ibrahim mit den Tischen fertig ist, sag mir bitte Bescheid. Das wird sein letzter Tisch sein, denn ich brauche ihn bei mir, weil ich will mit ihm zusammen an der Reinigung für Pessach arbeiten, weil er wusste, dass ich das mit Leidenschaft mache.

Amira
Kannst du das erklären? Was soll das bedeuten?

Ibrahim
Okay, ich erkläre es. Es ist so an Pessach, sie putzen Häuser oder als ich in einem Restaurant von allem, was Hefe enthält. Man musste also die Hefe aus dem Haus entfernen. Also haben wir das für das Restaurant getan. Wie meinst du das?

Amira
Okay.

Ibrahim
Und sie haben sogar die Teller in kochendes Wasser gestellt, und ich habe Fragen zu allem gestellt. Es war ein kultureller Austausch für mich, ich lernte es als kulturelle Seite dieser Religion. Auch wenn es ein religiöser Feiertag ist, steckt auch eine Kultur dahinter.

Amira
Wurde das erwidert?

Ibrahim
Das ist eine sehr interessante Frage. Nein, das war es nicht. Ich glaube nicht, dass es auf die gleiche Weise war. Und das ist ein Teil des Problems, denn ich habe ihre Erfahrung und sie nicht meine, und das liegt daran, dass ich ihre Sprache spreche und sie nicht die meine. Das ist buchstäblich ein Teil des Problems. Ich meine, es sind zwei Dinge, denke ich. Das eine ist die Frage der Sprache, denn es ist für unsere Zuhörer wichtig zu wissen, da du Ostjerusalem erwähnt hast und dass es in Ostjerusalem nicht üblich ist, Hebräisch zu lernen. In arabischen Schulen in Israel ist Hebräisch Pflicht. Und wir haben in Israel getrennte Bildungssysteme für arabische Schulen und jüdische Schulen. Und selbst in den jüdischen Schulen gibt es eine eigene Trennung, auf die wir hier nicht näher eingehen werden. Aber in arabischen Schulen ist Hebräisch Pflichtfach. In jüdischen Schulen ist Arabisch nicht obligatorisch. Arabisch ist ein paar Jahre lang Pflichtfach, und dann kann man es für die Bagrut3 nehmen. Also spricht nicht jeder die Sprache. Und wenn man sie lernt, lernt man sie eigentlich gar nicht. Was den kulturellen Aspekt angeht, so bildet man künftige Soldaten aus, man bildet künftige Mitglieder von Geheimdiensteinheiten aus, nicht Leute, die kommen und diese Kultur mit anderen vermischen.

Wir haben Freunde, die jüdisch sind und fließend Arabisch sprechen. Einige unserer engsten Freunde, aber die meisten von denen haben mittelöstliche und nördliche, afrikanische Wurzeln. Ich habe sogar ein paar Freunde, die europäische Wurzeln haben. Und mein Freund hat sogar angefangen, seinen beiden jüngsten Töchtern Arabisch beizubringen. Sie sahen zu, wie ich, weil ich ihm oft erzählte, dass ich den Kinderkanal auf Hebräisch sehe. Also hat er das Gleiche für seine Töchter auf Arabisch gemacht, obwohl sie aus einer religiösen Gemeinschaft kommen, was man in einem stereotypen Rahmen nicht erwarten würde, dass das passiert. Aber für ihn war es so: Ich möchte meine Töchter unterrichten, und dieses Land sorgt nicht dafür, dass meine Töchter die Sprache beherrschen. Ich werde es selbst tun. Und ich fragte ihn: “Sie Du hast diese Leute gewählt? Sie haben die Macht, die Sprache zu verbessern, Arabisch zur Pflicht zu machen.” Und er sagte: “Ich will es. Sie wollen es nicht. “
Das ist ein Teil des Problems. Und der zweite Punkt ist für mich die Anerkennung. Es ist ein Problem der Anerkennung. Man kann nicht erwarten, dass eine Bevölkerung, die in der ganzen Komplexität der arabischen 48er mit der ganzen Komplexität Israels als jüdischem Staat lebt. Wir sind nicht jüdisch. Wir ringen darum, wie wir die demokratischen Werte stärken können, um unser eigenes Leben innerhalb dieser Realität zu verbessern. Aber es gibt eine Erwartung, die Staaten zu akzeptieren, es gibt eine Erwartung, dass wir arabische Israelis sind. Das Wort Palästinenser gibt es absichtlich nicht. Es eliminiert einen Teil unserer Identität. Wie kann der Staat also von uns als Gemeinschaft erwarten, dass wir den Staat mit all seiner komplexen Identität akzeptieren, der ein jüdisches Element hat, mit dem wir nicht übereinstimmen? Wir sind nicht jüdisch und er akzeptiert es nicht.

Amira
Uns, er erkennt uns nicht an.

Ibrahim
Er muss uns als ein Volk anerkennen. An dem Tag, an dem das geschieht, werden sich mehr Araber in Israel, mehr Palästinenser in Israel dem Staat in diesem Sinne näher fühlen, weil ihre Identität anerkannt wurde. Das ist eines der ersten Dinge, die getan werden müssen, um diese Realität zu verändern.

Amira
Und es wird zu einem friedlicheren Miteinander führen.

Ibrahim
Das ist das Schöne an der Sprache, und das ist etwas, was wir so bald wie möglich tun müssen. Und das wird hoffentlich bald geschehen. Hoffentlich werden sich diese Dinge ändern.

Amira
Ich glaube, wir nähern uns der Realität, wir nähern uns unserem jetzigen Zustand, in dem wir beide gerade arbeiten, du mit dem Hintergrund, den du hast, und der Erfahrung und der Realität, die du hast, und ich, das Gleiche, aber in einigen Aspekten zu zweit, die parallele Seite. Aber am Ende arbeiten wir beide in der fördernden gemeinsamen Sache, über die wir uns einig sind: Shared Society.

Ibrahim
Auf jeden Fall.

Amira
Warum hast du dich unter all den Möglichkeiten, die du hättest wählen können, für diesen Bereich entschieden?

Ibrahim
Ich meine, zuerst war da die ägyptische Erfahrung. Wie ich schon sagte, wenn man eine Million Menschen auf einem Platz sieht, die eine Veränderung fordern, und wenn man sieht, welchen Einfluss das hat, dann war das definitiv ein Motiv für mich und gab mir eine Aufgabe. Ich ging aufs College und dachte, ich könnte vielleicht Psychologie oder etwas in der Art studieren, aber dann sah ich, dass ich Ägypten zu verlassen hatte. Ich habe mir gesagt: Okay, ich muss etwas tun, das für mich Sinn macht, und ich wollte in die Politik gehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Möglichkeit habe, Einfluss zu nehmen und etwas zu verändern, und deshalb habe ich studiert. Als ich mein Studium fortsetzte, war ich mir nicht einmal sicher, in welcher Weise ich einen Beitrag zu meiner Gesellschaft leisten würde, denn ich hatte meinen Master an der Universität Haifa in Israel in nationalen Sicherheitsstudien gemacht. Mein Gedanke war, vielleicht politischer Analyst zu werden und eine Analyse in die israelischen Medien zu bringen, die einen arabischen und palästinensischen Blick einbringt, den es dort nicht gibt, denn sie haben so genannte Experten für die arabische Welt, die aber keine Araber sind. Sie können es nicht mit unseren Augen sehen und sie können nicht die gleiche Botschaft vermitteln. Und ich wollte die Person sein, die das tut. Aber die Welt hat mich irgendwie an den Ort gebracht, an dem ich heute bin. Und jetzt arbeite ich in der Friedensarbeit aufgrund meiner Erfahrungen, aufgrund des gemeinsamen Lebens, das ich mein ganzes Leben lang mit jüdischen Menschen hatte. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, dass wir zusammenleben können, weil ich es geschafft habe. Warum also nicht? Warum können wir das nicht? Natürlich ist es viel komplizierter als das. Aber ich glaube an die unmittelbare Botschaft: Wir können zusammenleben. Ich habe es gesehen, ich habe es getan. Andere können es auch tun. In dieser Hinsicht bin ich nicht außergewöhnlich. Und ich habe so viele andere gesehen, die das Gleiche tun, und ich glaube, dass wir das ausweiten können. Warum hats du dich für den Frieden eingesetzt?

Amira
Es ist nicht so, dass ich mir das Feld des Friedens ausgesucht hätte, das Friedensfeld hat mich gewählt. Ich war auf einem ganz anderen Weg. Als älteste Tochter in einem traditionellen muslimischen palästinensischen Haushalt war ich auf das Gesundheitswesen ausgerichtet.

Ibrahim
Ich kann mir vorstellen, dass ich im medizinischen Bereich arbeiten werde.

Amira
Ich sollte entweder Ärztin oder Anwältin oder Ingenieurin oder Ingenieurin werden.

Ibrahim
Dinge mit Titeln. Das ist es, was Araber mögen.

Amira
Genau. Dieses politische PC-Zeug ist wie, oh, du wirst Lehrer werden, wenn du groß bist. Da gibt es keine Zukunft für. Das war also keine Option für mich. Also habe ich in meinen ersten Jahren an der Universität nachgegeben. Ich gab dem nach, was ich eigentlich wollte, nämlich medizinische Bildgebung. Ich war also voll im Gesundheitswesen. Ich war gut dabei. Aber, ich war unglücklich. Ich war überhaupt nicht glücklich. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es meine Sehnsucht befriedigte, denn ich wollte den Menschen helfen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Seele den Menschen wirklich helfen wollte. Ich fühlte mich in keiner Weise damit verbunden. Akademisch gesehen, würde ich das tun.

Ibrahim
Du bist nicht dazu bestimmt, in einem Raum im Krankenhaus zu sitzen und Röntgenaufnahmen zu machen. Ein sehr wichtiger Job.

Amira
Ich sehe dich als politischen Führer, Mama Baba. Verstehst du? So wurde ich angesprochen, als ich dort war. Ich war in einem Alumni-Club von Access. Kennen Sie das Amity-Access-Stipendium? Ich nahm also an ihren monatlichen oder zweimonatlichen Treffen oder Aktivitäten teil und traf dort eine Menge Leute. Und einer von ihnen stellte mir ein Programm vor, ein Journalismusprogramm. Aber da war ich noch nicht dabei. Ich habe nicht über Frieden nachgedacht. Ich dachte nicht an eine gemeinsame Gesellschaft. Ich dachte nicht an die israelische Seite, an die andere Seite, abgesehen von dem Checkpoint, den ich täglich passierte, und der Polizei, die immer in unserem Haus war. Rund um unser Haus in Sheikh Jarrah, so habe ich es gesehen. Und dann sagte er mir “Nimm. Du solltest diesen Kurs in Journalismus belegen. Und ich sagte: “Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Artikel gelesen oder geschrieben. Wovon redet ihr? Wie soll ich denn in den Journalismus gehen? Und dann sagte er: “Man kann nie wissen. Probiere es einfach aus. Vielleicht wirst du für sie arbeiten. Eines Tages. Ich belegte den Kurs. Er hat meine Liebe für Englisch ins Unermessliche gesteigert. Aber er hat es mir auch gezeigt. Er gab mir eine Plattform. Es zeigte mir, dass ich mich in der palästinensischen Gesellschaft wegen meiner Ansichten, weil ich eine Frau bin, extrem ungesehen und ungehört fühlte. Ich fühlte mich einfach ungehört und ungesehen. Diese Plattform war für mich zweideutig. Ich verstand nicht, dass es sich um das Stück oder das Wort Normalisierung handelte, das ich wirklich nicht mag, oder ich mag nicht, wie es verwendet wird, Normalisierung. Ich wusste nichts über diese Welt. Und dann lernte ich Leute kennen, die mich nach meiner Meinung fragten, Leute, die das taten. Die das, was ich sage, zu schätzen wussten. Und da wurde mir klar, dass sich auch meine Gesellschaft ändern muss, dass ich in meiner Gesellschaft als Ganzes nicht akzeptiert wurde und dass ich als Minderheit innerhalb einer Minderheit angesehen wurde, und so kam ich dazu, ich bekam einen Job angeboten, auf die gleiche Art und Weise, wie ich meinen Freund zitiere, ein Jahr später bekam ich einen Job in der gleichen Einrichtung, in der ich den Kurs gemacht hatte, und so kam ich in den Bereich der Friedensarbeit. Und ich erinnere mich an mein erstes Treffen, bei dem diese Friedensorganisation über Palästina und Palästinenser sprach und ich die einzige Palästinenserin im Raum war. Und ich dachte: Das ist so falsch.

Ibrahim
Das zeigt schon das Problem der friedensfördernden Gemeinschaft, die es hier gibt, und das ist ehrlich gesagt auch der Grund, warum wir das alleine machen und nicht mit jemand anderem und nicht mit. Wir kennen so viele Friedensorganisationen und wir arbeiten für eine und. Aber wir wollten unsere eigene Stimme einbringen, weil wir sehen, dass wir auch in der Friedensbewegung die Minderheit sind. Man arbeitet mit dem israelischen Gegenpart zusammen, der in gewisser Weise das Sagen hat. Und ich glaube, das hat uns genervt, mich und dich auch, okay? Wir machen unser eigenes Ding, wir geben unsere eigene Stimme da draußen ab. Keine Philtres, nicht was Leute. Keiner kann uns sagen, was wir tun sollen, keine bestimmte Agenda, nur das, was wir für richtig halten.

Amira
Ja. Also ging ich in das palästinensische, ich ging in das friedensstiftende Feld mit meiner Frauenkarte vorne dran, so wie ihr mir zuhört, ich habe eine Stimme. Ich denke, die Dinge müssen sich ändern, und ihr werdet unterdrückt und unterdrückt auch andere. Ich hatte also eine Botschaft. Ich hatte das Gefühl, dass ich eine Botschaft an die Palästinenser und eine Botschaft an die Israelis hatte, und ich war extrem wütend. Ich war wütend. Ich fragte mich: Wie könnt ihr beide so viel Mist bauen und es nicht sehen? Also sagte ich mir: Ich fange bei mir selbst an, ich übernehme die Verantwortung, ich recherchiere selbst und informiere mich über beides. Und ich werde mich irren und dann korrigiert werden, und ich werde mich wieder irren und mich korrigieren lassen. Und nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass ich in der Friedensbewegung mitarbeiten wollte. Gleichzeitig war ich immer noch im Gesundheitswesen tätig. Ich beschloss, das Gesundheitswesen ganz aufzugeben und mich zu 100 % der Friedensarbeit zu widmen. Und ich lerne immer noch Tag für Tag, was falsch gemacht wurde und welche Terminologie im Namen des Friedens verwendet wird, die uns an diesen Punkt gebracht hat. Und ich denke, und ich tue das ganz unverblümt. Ich tue es unapologetisch als Israeli und unapologetisch als Palästinenser. Und der Antrieb ist, dass ich von beiden Seiten unterdrückt werde.

Ibrahim
Ja, ich verstehe vollkommen, woher das kommt. Ich denke, für mich war die einzige Erkenntnis, die ich hatte, die Tatsache, dass ich so aufgewachsen bin und sehr früh mit der israelischen Kultur in Berührung gekommen bin und meine eigene und all diese Dinge verstanden habe, dass ich zwei Augen für die Welt hatte. Ich hatte ein Auge, mit dem ich die Welt aus palästinensischer Sicht betrachten konnte, und eines, mit dem ich die Welt aus israelischer Sicht betrachten konnte. Und dann habe ich die Fähigkeit, wirklich beide Seiten zu erfassen und zu verstehen, aufgrund der einzigartigen Position meiner Gemeinschaft. Und dann habe ich mich gefragt: Wie können wir das nicht nutzen, um eine Brücke zu sein? Ein Freund hat mir gesagt, ich solle das Wort Brücke nicht benutzen, denn die Brücke, die man überquert, lässt man zurück. Wir sollten nicht die Brücke sein, aber wir sind der Schlüssel zum Konflikt, denn wir sind die einzigen, die sowohl Palästinenser als auch Israelis sind. Wir sind die Einzigen, die die Fähigkeit dazu haben. Wir sind noch nicht so weit, aber wir haben die Fähigkeit, beide Seiten zu verstehen, beide Erzählungen zu verstehen, beide zusammenzubringen, weil man beide sehen kann.

Amira
Ich würde noch hinzufügen, dass wir nicht nur die Fähigkeit dazu haben, sondern auch den Willen dazu. Wir haben den Willen, es zu sein. Nicht die Brücke, aber die Verbindung.

Ibrahim
Ich sehe also, ich benutze das Wort.

Amira
Schlüssel, ich denke das Wort Schlüssel zum…

Ibrahim
Freischalten des Konflikts.

Amira
So wie ich es formuliere, habe ich das Gefühl, dass es uns eine spezifischere Rolle gibt. Ja, weil wir das Bindeglied sind. Aber beide Gesellschaften müssen sich ändern. Das ist der Schlüssel. Wir sind das Bindeglied. Sie müssen begreifen, dass die politische Lösung etwas ist, und dass die Veränderung innerhalb der Gesellschaft das ist, was den Frieden bringen wird, um ihn zu erreichen. Die politische Lösung ist so, wie wir sie schon einmal gesehen haben. Die politische Lösung ist nur eine Vereinbarung auf dem Papier zwischen Politikern. Die tatsächliche Veränderung findet in den Menschen statt, wenn sie die Bereitschaft haben, den anderen nicht als den anderen zu sehen.

Ibrahim
Ich verwende das Wort “Fähigkeit”, weil ich es so sehe, dass wir als Gemeinschaft, nicht als Ibrahim und Amira, als arabische Gemeinschaft, das Bindeglied sind, weil wir beide Realitäten haben und auch Bürger sind. Deshalb sage ich, wir haben die Fähigkeit, aber wir sind noch nicht so weit. Wir haben die Fähigkeit, die Welt mit beiden Augen zu sehen, aber sind wir das wirklich als Gemeinschaft? Ich glaube, wir sind noch nicht so weit. Ich habe das Gefühl, dass ich an dem Punkt angelangt bin, an dem ich das tun kann, und ich möchte andere dazu ermutigen, das Gleiche zu tun.

Ich kann beide Seiten des Konflikts sehen. Wie kann es sein, dass die Jungs das nicht sehen? Und das hat mich dazu gebracht, zu sagen: Okay, wenn sie es nicht sehen, muss ich es den Leuten zeigen, denn es wird nicht von alleine passieren. Und Menschen ändern sich nicht von selbst. Deshalb habe ich es auch zu meiner persönlichen Mission gemacht, die Ansichten zu ändern, Stereotypen zu durchbrechen. Manche Leute meinen, die Menschen müssten sich von selbst ändern. Dem kann ich nicht zustimmen. Jemand, der rassistisch ist, wird nicht eines Tages aufwachen und sagen, na ja, weißt du was? Ich hatte gerade eine Erweckung und heute höre ich auf, Araber zu hassen, und ich werde alle Menschen gleich lieben. Das ist in den USA nicht passiert, kein weißer Rassist ist eines Tages mitten in der Nacht aufgewacht und hat gesagt: “Wisst ihr, was mir gerade klar geworden ist? Ich hasse Schwarze nicht mehr dafür, dass sie schwarz sind.” So funktioniert das nicht. Es musste sich etwas ändern, und die Menschen mussten diese Stereotypen durchbrechen. Und für mich ist das eine Rolle, die wir alle selbst übernehmen müssen. Es klingt hart, weil es hart ist, aber sie werden nicht von alleine aufwachen. Die Mehrheit kann sich nicht ändern, weil sie sich dort wohlfühlt, wo sie ist. Wenn man die Mehrheit ist, wenn man Israeli ist und sein ganzes Leben israelisch und jüdisch in diesem Sinne ist, warum sollte man sich dann die Mühe machen? Warum sollte man sich aus dem Nichts, aus dem Nichts heraus bemühen? Wir müssen diese Anstrengung unternehmen. Wir müssen diese Ansichten ändern. Und das ist möglich.
Am ersten Tag mit einer Kellnerin in dem Restaurant, in dem ich gearbeitet habe, habe ich all den Neuen geholfen, sich mit allen vertraut zu machen und all diese Dinge. Sie sagte mir, hör zu, sei nicht beleidigt. Sie hat mich vorgewarnt, ich solle nicht beleidigt sein, aber ich mag keine Araber. Danke für die Vorwarnung. Und ich hatte zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Entweder ich spreche nicht mit ihr, weil sie mich beleidigt hat. Und meine Identität beleidigt. Und die andere Möglichkeit ist, ich werde ihre Meinung ändern. Und ich habe es nicht getan, indem ich sie belehrt habe. Ich habe nicht einmal erklärt, was Araber sind. Ich habe einfach ganz normal gehandelt, als hätte ich diesen Satz nie gehört. Und ich habe mich ihr gegenüber so verhalten, wie ich mich jeder einzelnen Person gegenüber verhalte, zu der ich zwei Jahre später zur Hochzeit eingeladen werde. Man kann also Menschen beeinflussen, die wir ändern können.
Wir können Stereotypen durchbrechen und Menschen haben die Fähigkeit, sich zu ändern.

Amira
Ich möchte dich fragen, ob du dich jemals schuldig gefühlt hast für das, was du tust? Hattest du jemals das Gefühl, dass du aufgrund deiner Höhen und Tiefen, deiner palästinensischen Identität und deiner israelischen Identität, Schuldgefühle hast, weil du den einen über den anderen stellst, besonders in seinem Arbeitsbereich?

Ibrahim
Ich denke, als ich zu dem Schluss kam, dass ich diese Vergleiche zwischen den verschiedenen Identitäten nicht mehr anstellen muss. Als ich aufgehört habe, darauf zu achten, was vor was kommt und was höher ist als was, habe ich aufgehört, mich schuldig zu fühlen. Als ich jünger war, habe ich mich vielleicht schuldig gefühlt, weil ich hier geboren bin und nicht im Westjordanland oder in Gaza oder als Flüchtling.

Amira
Etwas, das du nicht kontrollieren kannst.

Ibrahim
Aber ich kann es nicht kontrollieren. Und zumindest habe ich erkannt, dass ich meine Position nutzen kann, um zu helfen. Zum Beispiel, ich bin an einem Ort, an dem ich, ein Bürger in diesem Land bin. Ich habe also die Möglichkeit, etwas zu tun, etwas zum Guten für alle meine Leute in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen zu verändern. Das war ein Pflichtgefühl, das die Schuldgefühle beseitigte. Ich würde fragen: Fühlst du dich schuldig?

Amira
Irgendwann. Das habe ich, weil es jetzt einfacher ist, weil ich nicht mehr so oft im Westjordanland bin und auch, weil ich mein Israeli-Sein erkenne und weiß, wie ich mich in bestimmten Situationen gegenüber einem Polizeibeamten verhalten muss, nämlich so: Yo, ich bin Israeli und du behandelst mich als solchen und du lernst deine Rechte kennen. Aber davor, bevor ich mein Israeli-Sein erkannt habe, habe ich es als reines Privileg gesehen. Ich dachte: Ich bin zufällig privilegiert, weil ich mit der israelischen Staatsbürgerschaft geboren wurde, aber ich bin Palästinenserin. Und ich würde nicht sagen, dass ich Israeli bin, ich würde sagen, dass ich die israelische Staatsbürgerschaft habe. Und das ist nur auf dem Papier. Es bedeutet nichts. Und dann hatte ich eine Diskussion mit meiner Mutter und fragte mich: Ist das, was ich tue, falsch? Ob das, was ich tue, falsch ist? Sollte ich mich schuldig fühlen? Und sie sagte: “Was machst du da? Und ich analysierte für sie, dass ich eins, zwei, drei auf technische Art und Weise mache. Und dann hat sie mich wieder gefragt, was machst du denn? Wie helfen Sie den Menschen? Wie schadest du ihnen? Und ich antwortete: Ich schade ihnen nicht. Ich helfe ihnen in erster Linie, die andere Seite zu sehen. Und jede einzelne Gelegenheit, die sich mir bietet, gebe ich weiter. Und ich zeige den Menschen, dass wir auf dieser Reise hierher kommen können. Und sie sagte: “Das ist deine Antwort. “
Unsere Eltern gehen natürlich durch das politische Umfeld, das hier wie ein Würfel ist, der alle fünf Minuten eine neue Zahl zeigt. Es gibt eine neue Zahl, ein neues Ergebnis, die Meinungen ändern sich.

Ich habe mich schuldig gefühlt. Aber dann habe ich weiter gesehen, was ich eigentlich gemacht habe. Und jetzt, und darüber haben wir schon gesprochen, habe ich keine Angst, mein Privileg zu nutzen. Ich fühle mich nicht schuldig wegen meines Privilegs, weil ich mir nicht erlaube, ein Auge zuzudrücken.
Schauen wir, ob wir etwas falsch machen. Diese Schuldgefühle sind sehr gesund. Ich fühle mich schuldig. Und man erkennt zu 100 % an, dass man privilegierter ist als andere, aber man nutzt dieses Privileg, das wir jetzt haben, als Plattform. Wenn wir woanders wären, könnten wir nicht sprechen.

Ibrahim
Nicht in der Art und Weise, in der wir hier sprechen.

Amira
Nein. Also nutzen wir dieses Privileg, um unsere Stimme zu erheben, um uns an einen anderen zu wenden, um uns an eine Lösung zu wenden, um beide Leiden zu beleuchten und uns an etwas heranzuführen, das die Menschenwürde für beide zum Ziel hat.

Ibrahim
Und deshalb ist dieses Privileg für mich eine Pflicht. Es verwandelte sich in eine Pflicht.

Amira
Das ist es.

Und da habt ihr es, Leute. So kreuzen sich die Wege zweier völlig unterschiedlicher Geschichten, zweier Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten, aufgrund ihrer gemeinsamen Vision von einer gemeinsamen Gesellschaft, von Frieden und Menschenwürde für alle. Und ich danke euch allen, dass ihr zugehört und mitgemacht habt. Es war, zumindest für mich, eine faszinierende Diskussion, in der ich viele Dinge über Ibrahim erfahren habe, die ich noch gar nicht kannte. Wir sind euch sehr dankbar, Leute. Bitte macht weiter.

Ibrahim
Nochmals vielen Dank an alle für eure Unterstützung.

  1. Das klassische Arabisch Fusha ist die älteste Form des Arabischen und basiert auf den mittelalterlichen Dialekten der arabischen Völker, die vor ca. 1500 Jahren in Mekka gesprochen wurden. Es ist das Arabisch des Korans, sowie klassischer vorislamischer Gedichte und gilt daher als besonders edel und beredet. ↩︎
  2. Gebetsruf ↩︎
  3. entspricht dem Abitur ↩︎

Unapologetic: Ibrahim Abu Ahmad und Amira Mohammed

Ibrahim Abu Ahmad und Amira Mohammed moderieren den Podcast „Unapologetic“als Stimmen von Palästinensern in Israel, die Wege nach Frieden suchen. In dieser Eröffnungsfolge befassen sie sich mit der Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts inmitten des anhaltenden Kampfes zwischen Israel und der Hamas.

Für alle, die Englisch nicht genug verstehen, werde ich ihre Podcasts auf Deutsch mehr oder weniger zusammmengefasst veröffentlichen.

Episode 1:

Oktober 2023

Ibrahim
Mein Name ist Ibrahim Abu Ahmed. Ich bin in Nazareth geboren und aufgewachsen. Heute arbeite ich bei ROPES, der regionalen Organisation für Frieden, Wirtschaft und Sicherheit, wo ich Direktor für Alumni-Beziehungen bin. Außerdem habe ich einen BA in Internationalen Beziehungen von der James Madison University in Virginia und einen Master in Nationalen Sicherheitsstudien von der Universität Haifa.
Aber heute spreche ich als Ibrahim, nicht als Alumni-Direktor von ROPES oder einer NGO, für die ich in der Vergangenheit gearbeitet habe oder mit der ich zusammengearbeitet habe, oder einer Friedensinitiative, bei der ich mitgewirkt habe, weil ich meine eigene Authentizität und meine eigene Meinung zu diesem Konflikt einbringen möchte.

Amira
Mein Name ist Amira. Ich bin einaus Jerusalem, wurde in Großbritannien geboren, bin in den USA aufgewachsen und habe mein Teenager- und Erwachsenenleben hier in Jerusalem verbracht. Außerdem bin ich Friedensaktivistin und freiberufliche Beraterin für Friedensorganisationen und -initiativen. Derzeit bin ich auch Programmkoordinatorin für ROPES, spreche aber hier für mich.

Ibrahim
Und wir sind beide als palästinensische Israelis hier.

Amira
Lass es uns erklären.

Ibrahim
Was genau bedeutet das, palästinensische Israelis? Obwohl wir aus derselben Gruppe stammen, haben wir gleichzeitig auch unterschiedliche Identitäten. Ich denke, es ist wichtig, diese Frage zu beantworten, da ich aus der Arab48-Community stamme. Dies ist ein Slang, den unsere Gemeinschaft verwendet. Dabei handelt es sich um die Mehrheit der Bevölkerung, die im Staat Israel blieb, natürlich die palästinensische Bevölkerung, die nach der Staatsgründung dort war und immer noch dort ist, ruhnd 20 % der Bevölkerung hier, über 1,8 Millionen arabische Bürger, die aus der palästinensischen Gemeinschaft stammen.

Amira
Und nur ein Teil dieser arabischen Israelis oder der arabischen Bürger Israels sind Staatsangehörige mit dauerhadtem Wohnsitz. Wir werden nun in Zukunft näher auf Jerusalem und spezifische Identitäten Palästinas eingehen.

Ibrahim
Ja, um ehrlich zu sein, braucht es eine eigene Episode. Es gibt so viele Komplexitäten und unterschiedliche Identitäten innerhalb der palästinensischen Identität. Wir werden uns in unserer nächsten Folge ausführlicher damit befassen. Amira, wir sind mitten im Krieg. Draußen tobt gerade der Krieg. Anstatt mit Freunden und Familie zusammen zu sein, sind wir hier in einem Studio und machen diesen Podcast. Warum sind wir hier?

Amira
Ich werde versuchen, das zu beantworten. Ich bin wütend über das, was gerade passiert ist, den Status quo von Israel und Palästina im Allgemeinen, aber auch über en aktuellen Krieg, den wir gerade führen. Ich bin auch hier, weil ich es satt habe, zu sehen, wie die palästinensische Stimme gefiltert, manipuliert und diskutiert wird. Und als jemand, der Islamophobie und Antisemitismus im Internet wahrnimmt, sehe ich die Zunahme des Hasses in den sozialen Medien, die Hasskriminalität in den USA, im Vereinigten Königreich und auf der ganzen Welt.

Ibrahim
Wir müssen zu diesem dunklen Samstag am 7. Oktober zurückkehren. Weil wir Palästinenser und israelische Staatsbürger sind, sind wir in einer sehr privilegierten Lage. Ich würde sagen, dass wir die Einzigen sind, die die Möglichkeit haben, die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, mit palästinensischen Augen, aber auch aus mitisraelischen Augen. Wir sind hier geboren und aufgewachsen, haben jüdische Freunde, Kollegen, Mitarbeiter, Partner und so weiter. Was am Samstag passiert ist, hat alle in diesem Land verbunden. Jeder hatte das Gefühl, sich von jemandem zu verabschieden.
Und ich hatte viele Freunde, die an diesem Tag Freunde verloren haben. Und dann, ein paar Tage später, mussten sie sich um Freunde in Gaza kümmern.

Amira
Und das Gefühl… Du wirst in beide Richtungen gedreht.

Ibrahim
Du bist verwandelt, und ich möchte nicht verwandelt werden. Ich möchte hier in diesems Podcast nicht entschuldigen. Ich möchte mich für mein Gefühl, den Schmerz, nicht entschuldigen. Ich spüre den Schmerz der Menschen auf beiden Seiten. Und will mich nicht entschuldigen. Und du hast erwähnt, wie wir Palästinenser als fremd angesehen werden.
Und mein anderes Problem ist, dass, wenn etwas pro-palästinensisch ist, der Eindruck entsteht, dass alles in einen Topf geworfen wird. Und aus pro-palästinensischer Sicht, vor allem im Westen, muss man alles Palästinensische unterstützen. Und wenn nicht, bist du auf der anderen Seite, pro-israelisch.
Das Denken ist Schwarz und Weiß, nur diese zwei Narrative gibt es. Man ist entweder pro-israelisch oder pro-palästinensisch. Daher haben einige Menschen im Westen, die sehr pro-palästinensisch eingestellt sind, das Gefühl, sie könnten sich nicht gegen die Hamas aussprechen. denn dann liegen sie auf der anderen Seite des Spektrums. Und was wir hier mit dieser Initiative schaffen wollen, ist im Westen ein drittes Narrativ.

Amira
Es gibt keine Seite, die sagt, was pro-palästinensisch und was pro-israelisch bedeutet. Du kannst eine liberale Frau sein und gegen das Kämpfen. Und nein, wir haben uns nicht für eine Seite ausgesprochen. Wir plädieren hier für eine Lösung. Man kann Menschen, die sich für die Sache einsetzen und sich die Zeit nehmen, zu protestieren, Beiträge zu posten und Menschen aufzuklären, nicht in eine einzige Kategorie einordnen.

Es gibt Dinge, die wir als Schwarz und Weiß bezeichnen können. Und es gibt Dinge, die äußerst komplex sind, weil es um Identität geht, weil es darum geht, wie dieses Land derzeit gespaltent ist.

Ibrahim
Der Westen muss eine Rolle spielen. Die Rolle, die der Westen bisher gespielt hat, war eine des Widerstands, der Unterstützung einer Seite gegenüber oder der anderen, wie im Fußballspiel. Es fühlt sich an, als hätten wir zwei Gruppen von Fans. Und jeder unterstützt das Team, das er liebt.
Ich weiß es nicht. Aber es fühlt sich an, als würde man nur einen unterstützen. Und wegen dieser Unterstützung soll die andere Seite verlieren.
All dies führt letztendlich zum Krieg. Das Einzige, was wir auf diese Weise haben, ist mehr Zerstörung, mehr Hass.
Wir wollen natürlich den Krieg beenden. Was aber passiert nach dem Krieg? Wir brauchen echte langfristige Lösungen, denn was erreichen wir damit, wenn wir diesen Krieg heute beenden und morgen einen weiteren Krieg haben?

Amira
Nichts.

Ibrahim
Wir müssen eine echte Lösung finden. Ich meine nicht, dass wir Freunde sein und über Tel Aviv und Ramallah fliegen müssen. Aber zumindest einen echten Vorsatz haben, eine klare Grenze setzen und die Menschen dazu bringen, ihr eigenes Leben in Frieden selbst zu bestimmen.

Amira
Genau. Wir befinden uns in einer Situation, in der Namen und Gesichter zu Statistiken und Zahlen werden, Weder von israelischer noch von palästinensischer Seite wollen wir zu Statistiken und Zahlen werden, die von Politikern und Aktivisten nennen.

Ibrahim
Wir versuchen, Botschaften der Einheit und auch Botschaften der Verteidigung zu überbringen.
Ja, ich lehne das ab, was die Hamas am 7. Oktober getan hat. Aber gleichzeitig werde ich es der Hamas nicht überlassen, meine eigene palästinensische Identität zu zerstören. Ich bin Palästinenser. Das ist was ich bin. Und es wird nicht durch einen Akt einer Terrororganisation oder einen Tag eines Terroranschlags zerstört.
Und wir werden später in dieser Folge darüber sprechen, was ein Palästinenser ist. Aber wir sollten unsere Meinungen und unsere Ansichten nicht ändern , auch nicht, wer wir sind, nur weil manche Leute versuchen, es für sich zu vereinnahmen. Stattdessen sollten wir zu unserer Identität stehen und ompromisslos palästinensisch sein.

Amira
ich würde es nicht anders sagen, ich stimme dir zu 100 % zu.
Das darf man nicht vergessen. Wir werden als Palästinenser behandelt. Wenn ich in Ostjerusalem bin, stehe ich innerhalb meines Volkes und meiner Kultur. Aber sobald ich von Ostjerusalem nach Westjerusalem komme, ist es anders.

Ibrahim
Ja, wir müssen standhaft bleiben und an unseren eigenen Weg vorwärts glauben, egal ob jemand versucht, ihn zu sabotieren. Egal ob Hamas, die rechte Regierung in Israel oder jemand anderes.
Wir werden unseren Wunsch nach einer besseren Zukunft nicht aufgeben. Wir schauen auf die Menschen. Wir haben jüdische Freunde und wir suchen sie und unsere palästinensische Familie und Freunde. Dabei spielt es keine Rolle, wer sie zu vertreten versucht, ob radikale Regierungen oder radikale Organisationen. Wir sehen in ihnen Menschen und das ist das Wichtigste.
In diesem Podcast werden wir über den Krieg in Gaza sprechen. die Friedenskonsolidierungsprozesse, wo es fehlte und wo wir weitermachen sollten.

Amira
In jeder Episode werden wir einige Abschnitte besprechen, Abschnitte, die sich mit geprüften Fakten, widersprüchlicher Terminologie und mit Stimmen aus dem wahren Leben befassen.

Ich denke, wir können mit Fakten beginnen.
Lass uns in unserem ersten Abschnitt über die beiden wichtigsten Dinge sprechen, die derzeit in den Medien kursieren. Eine davon ist die tragische Ermordung und Enthauptung der über 40 Babys während des Schwarzen Samstags. Der zweite Grund ist der Bombenanschlag auf das Krankenhaus in Gaza und der Tod von über 500 Opfern. Bevor wir zu dem kommen, was wir eigentlich sagen wollen, sollten wir kurz sagen, dass alles, was passiert, ungeachtet der Einzelheiten äußerst tragisch ist.

Ibrahim
Es gibt einen Kampf zwischen beiden Seiten, wer mehr leidet. Ist es das Schlimmste: die 40 Babys oder die 500 Palästinenser in den Krankenhäusern? Und jede Seite hat das Gefühl, dass sie ihr Leid das Schlimmere ist und es kommt zu einer Art Social-Media-Krieg. Was wird auf den Social-Media-Seiten häufiger? Die 40 Babys oder das Krankenhaus? Das wird zur Frage.
Und wie du sagtest, am Ende sterben Menschen. Es ist nicht eine Frage des Wettbewerbs. Menschen sterben, und das ist der Fall …
Und wir haben für diesen Teil einen Faktencheck geschrieben aber führen keinen echten Faktencheck durch. Wer hat das getan? Oder, um die wirklichen Antworten darauf, ob es 500 oder mehr oder weniger sind, ob es 40 Babys oder weniger sind und ob sie als Geiseln genommen wurden oder nicht. Gekidnapped, getötet,erschlagen, was auch immer. Es starben die Babys, es sterben Menschen in Gaza und sie sterben in einem Krankenhaus.
Menschen sterben, und das ist das Wichtigste, was wir den Menschen betonen wollten: Wir wollen nicht nur ein Problem zu lösen, sondern es geht darum, den gesamten Konflikt und den gesamten Krieg zu beenden.

Amira
Natürlich ist dies nur unsere erste Episode und daher unser erster Abschnitt zum Thema Fakten. Später in zukünftigen Episoden werden wir über weitere Beispiele sprechen, mehr Dinge auf den Tisch bringen, über die wir sprechen können, und vielleicht werden wir in bestimmten Fällen auch über die Realität reden, und prüfen, was tatsächlich passiert ist.
Doch kommen wir zum nächsten Abschnitt. Terminologie im Konflikt. Die Terminologie ist so mächtig. Es ist extrem kraftvoll. Es macht aus einer Person oder einer Seite sowohl einen Teufel als auch einen Engel. Und der Begriff, den wir heute besprochen haben, ist: Das ist Terror, das ist Palästina.
Wieder extrem gefährlich. Es ist … Ich nenne einen anderen Slogan, der gerade verwendet wird, nämlich: Hamas ist gleich ISIS. Wenn wir diese beiden zusammenfassen, ist das Terror, das ist Palästina, und darunter ist Hamas gleichbedeutend mit ISIS. Sie setzen Palästinenser mit Hamas und ISIS gleich.

Ibrahim
Ich denke, dass sogar die palästinensische Hamas gleich ISIS ist. Es war nicht einmal nur die Hamas, es war die palästinensische Hamas. Man kann den palästinensischen Begriff also auch mit ISIS in Verbindung bringen.

Amira
Die Terminologie ist so wichtig und äußerst wirkungsvoll. Wenn man die Worte verwendet, Palästinenser sind Barbaren, Palästinenser sind dies, Palästinenser sind das, macht es es wieder aus einer Seite einen Dämon und einen Engel auf der anderen Seite, egal über welche Seite wir reden. Die Terminologie äußerst wichtig und vielleicht reden wir darüber, was eigentlich ist ein Palästinenser und was Palästinensertum ist.

Ibrahim
Wie du gesagt hast, und wir haben es auch unseren Zuhörern gesagt, werden wir eine ganze Episode über die verschiedenen Identitäten innerhalb der palästinensischen Identität, der übergreifenden Identität, machen. Aber aufgrund dieser Dämonisierung und des Versuchs, die Palästinenser, alle Palästinenser, also die Hamas und dann den IS, gleichzusetzen, ist es wichtig, sich damit zu befassen, was genau ein Palästinenser im Allgemeinen ist.
Palästinenser sind ein Volk. Und was ist ein Volk? Eine Volk mach aus: Kultur, Essen, Normen, Gewohnheiten, Interaktionen, Sprache, Kunst. In dieser Kultur gibt es Kunst, Musik und so viele andere Elemente. Und eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Geschichte. und ein geografisches Streben nach Selbstbestimmung. Genau. Das ist es, was ein Volk ausmacht. Das palästinensische Volk wurde in den 1920er Jahren, direkt nach dem Fall des Osmanischen Reiches, geschaffen, um einen Staat zu gründen, selbstbestimmt zu werden. Das gab es damals noch nicht, aber das ist kein Grund, dass es das Volk nicht gibt.
Wir wurden geografisch gespalten, als unser Volk sich dem Streben nach einem Staat näherte. Wir hatten den Krieg von 1948, einige unserer Leute wurden israelische Staatsbürger, einige befanden sich im Westjordanland, einige im Gazastreifen. Und einige wurden zu Flüchtlingen. Aber am Ende sind wir ein Volk, das gemeinsame Eigenschaften hat, die uns alle verbinden. Unsere Kultur, unser Erbe, unsere Geschichte. Das sind wir.

Amira
Oder es ist eine neue Identität.

Ibrahim
Das jüdische Volk wurde zum Volk, nachdem es vor dem Pharao nach Ägypten geflohen war. Dieses Volk entstand, weil alle im Land Knaan die gleiche Sprache, Kultur und das gleiche Streben nach Selbstbestimmung hatten. Und sie wurden zu den Menschen auf dem Weg in das Land Kanaan. Nicht nachdem sie ihren Staat gegründet haben. Und bei uns ist es genauso. Ob es 1920, 1948 geschah … Vor einem Monat? … oder sogar letzte Nacht passiert ist. Es macht nichts. Wir als Gemeinschaft haben uns entschieden, diese Identität zu schaffen. Und das sind wir.

Amira
Ich stimme dir zu. Ich denke, dass dieses Argument nur dazu dient, von der eigentlichen Diskussion abzulenken, die stattfinden sollte, nämlich den Rechten der Palästinenser und ihrem Recht auf Rückkehr.

Ibrahim
Und noch einmal: Wir wollen hier nichts rechtfertigen, sondern versuchen, unsere Stimme als Palästinenser ins rechte Licht zu rücken, um unseren Zuhörern Folgendes zu sagen: „Wir entschuldigen uns nicht für unsere Identität und stellen uns gegen Behauptungen, die versuchen, das zu sabotieren oder zu zerstören und unsere palästinensische Identität auf die gleiche Stufe wie Terroristen, Radikale und ISIS zu setzen. Und gleichzeitig werden wir von palästinensischer Seite auch Versuche nicht akzeptieren, die die Tötung unschuldiger Menschen zu rechtfertigen. Dagegen stellen wir uns und werden das auch weiterhin tun.

Amira
Ich denke, das Wort „unapologetic“ ist bei uns extrem wichtig. In unserem Denken und in unseren Gefühlen. Weil wir nicht nur kompromisslose Palästinenser sind, sondern auch kompromisslose israelische Bürger. Im Grunde habe ich Rechte als Israeli und nicht, weil ich Palästinenser bin. Kompromisslos Palästinensersein, nicht zu übertreiben, mich selbst stark in Frage zu stellen und diese Rechte zu bekommen. Und gleichzeitig diese Zivilgesellschaft zu haben und mich und meine palästinensische Identität nicht zu übertreiben. Ich denke, das ist die klarste Art und Weise, wie ich es erklären kann.

Ibrahim
Absolut. Für einige Menschen ist es nur eine Erinnerung daran, dass dies unsere Realität ist. Wir wurden in dieser Situation geboren. Wir können nicht vergessen, wer wir sind. Ich möchte meine jüdischen Freunde daran erinnern, dass wir israelische Staatsbürger sind, weil wir hier geboren wurden. Aber wir wären Palästinenser gewesen, egal wo wir geboren wurden. Wir wären sowieso Palästinenser gewesen. Deshalb sind wir so.
Und gleichzeitig ist unsere Realität nicht dieselbe wie die von jemandem, der aus dem Westjordanland kommt. Es ist nicht dasselbe wie jemand von aus Gaza. Ich kann ihren Schmerz nicht als meinen erklären, weil sie viel mehr darunter leiden als ich.

Amira
Und auf viele verschiedene Arten.

Ibrahim
Auf viele verschiedene Arten. Und wir haben unsere eigenen Probleme.

Amira
Auf jeden Fall. Hier gibt es nicht Sonnenschein und Regenbögen. Absolut. Ich denke, dass es genau die Israelis selbst sind, die seit 35 Wochen gegen die Regierung protestieren. Überall. Sie sagen auch, dass es für sie selbst kein Sonnenschein und kein Regenbogen ist. Was sagt es also über arabische oder palästinensische Bürger aus?

Ibrahim
Was ich mit diesem Podcast erreichen möchte, ist, mit Worten diese Realität zu ändern, weil wir schon lange im gleichen Status quo leben.

Ist es wirklich das, was sich das jüdische Volk erhofft? Nach allem, was das jüdische Volk durchgemacht hat. Ist es das was du willst? Ein Leben voller Konflikte, das immer weitergeht? Sie haben etwas Besseres verdient, wir haben etwas Besseres verdient. Jeder verdient etwas Besseres. Araber, Juden, Israelis, Palästinenser, Muslime, Christen. Jeder, der auf diesem Land lebt, verdient ein besseres Leben als das, was wir hatten.
Und solle ein Statement für mein palästinensisches Volk sein. Ein 80-jähriger Kampf gegen die Armut hat uns nirgendwohin gebracht, außer der Demontage von zwei wichtigen Dingen. Palästinensische Rechte, denn nach jeder Krise hatten wir immer mehr weniger. Und das zweite ist der Zerfall des Landes. Das Land schrumpft nach jedem Konflikt, den wir geführt haben, immer mehr, und es ist fast nichts mehr übrig.
Und deshalb glaube ich, dass der einzige Weg nach vorne darin besteht, zu einer Zweiparteienlösung zu gelangen, einer echten Lösung, in der beide Seiten leben und ihre eigenen Rechte auf Selbstbestimmung und Wohlstand haben können.

Amira
Wir alle müssen uns ändern., diese Tatsache müssen wir akzeptieren.


Ibrahim

In den nächsten Episoden werden wir tiefer auf den Krieg in Gaza eingehen, fragen, wo wir heute sind. Wir werden zurück in die Geschichte des Konflikts schauen, und insbesondere in Bezug auf das, was in Gaza passiert ist.

Kunst geht nach Brot

Der Prinz. Guten Morgen, Conti. Wie leben Sie? Was macht die Kunst?
Conti. Prinz, die Kunst geht nach Brot1.
Der Prinz. Das muß sie nicht; das soll sie nicht – in meinem kleinen Gebiete gewiß nicht. – Aber der Künstler muß auch arbeiten wollen.
Conti. Arbeiten? Das ist seine Lust. Nur zu viel arbeiten müssen kann ihn um den Namen Künstler bringen.

Gotthold Ephraim Lessing – Emilia Galotti


Berlin war ein Leuchtturm der künstlerischen Freiheit. Gaza hat alles verändert.
Die Heimat Grenzen überschreitender Künstler aus der ganzen Welt wurde durch Debatten darüber, was über Israel und den Krieg gesagt werden darf und was nicht, auf den Kopf gestellt.

lese ich in der Überschrift zu einem Beitrag von Jason Farago (NewYork Times vom 6. April).
Am Anfang des Artikels wird Laurie Andersons Rückzug von der Pina-Bausch-Professur an der Folkwang Universität der Künste beschrieben. Es war bekannt geworden, dass sie Unterzeichnerin des “Letter Against Apardheid2” gewesen war. Die Universität bat um eine politische Erklärung ihrer Haltung, die abzugeben sie ablehnte: For me the question isn’t whether my political opinions have shifted. The real question is this: Why is this question being asked in the first place? Based on this situation I withdraw from the project. My colleagues at the University and the Pina Bausch Foundation have discussed this with me at great length and we have jointly decided this is the best way forward.3”, so Anderson.

Ok, für Laurie Anderson war diese Professur sicherlich nicht lebenswichtig, das Bohai darum aber gut für sie. Ich denke, jede mediale Aufmerksamkeit hat – wie das Finanzamt sagen würde – einen geldwerten Vorteil. Auch für andere der Kunstszene. Doch sehr viele Menschen dort benötigen für ihre Arbeit und ihr persönliches Leben Geld, das der deutsche Staat in historisch bisher unerreicht dicker Mäzenatengeldbörse4 bereithält. 
Auch dieses Geld hat gewiss manche der Grenzen überschreitender Künstler aus der ganzen Welt nach Deutschland und Berlin gezogen, neben den im Gegensatz zu anderen Weltstädten moderaten Mieten, der nach 1990 rasant gewachsenen Off-Szene in Berlin und dem Gefühl, wo alle hingehen, da will auch ich sein.

Und nun kommt 20223 der Überfall der Hamas auf Israel dem Künstlerleben in die Quere – quel malheur d’avoir une vache et pas de beurre!!! Und, da man tatsächlich nur wenig selbst vom Krieg betroffen war, beschoss man sich mit wechselseitigen Anfeindungen: du Antisemit! und du zionistischer Kolonialist und Mörder! :

Originalton Jason Farago in der NYT:
Die Preise wurden zurückgezogen. Konferenzen abgesagt. Plays taken off the boards5. Kulturschaffende haben der Regierung vorgeschlagen, die Finanzierung daran zu knüpfen, was Künstler und Institutionen über den Konflikt sagen, und in den Medien – sowohl traditionellen als auch sozialen – wimmelt es von öffentlichen Verunglimpfungen dieses Schriftstellers, jenes Künstlers, dieses DJs, dieser Tänzerin. Die Ausladungen führten zu Gegenboykotten. Und ein Klima von Angst und Vorwürfen vergiftet das Künstlerleben in Berlin.
Fargo nennt das eine sehr deutsche Geschichte:
Die Schuld für den Holocaust verpflichte die Kulturinstitutionen noch immer zum Schuldbekenntnis und zur Sühne und führe zur Unterstützung Deutschlands für Israel und zu strengen Grenzen der Kritik an dem Land. Künstler auf der ganzen Welt – von der Oscarverleihung bis zur Whitney Biennale – würden sich lautstark über den Krieg äußern. Doch in Deutschland hätten solche Aussagen einen hohen Preis: abgesagte Aufführungen, verlorene Finanzierung und Vorwürfe des Antisemitismus in einer Gesellschaft, in der keine Anklage schwerwiegender sei. Es gäbe ein Gefühl der Angst.
Ich frage mich, warum Angst? Wovor Angst? Angst muss man in Israel vor der Hamas haben und im Gaza-Streifen, von Bomben getötet oder mehr oder weniger versehentlich als feindlicher Kombattant erschossen zu werden. Aber in Berlin? Weil man eine Meinung äußert ? Ok, die Finanzierung eines eigenen Projektes ist natürlich auch etwas. Es kann schon sein, dass man nach einem “From the River to the Sea Palestine Will be Free” – Posting sein Projekt erklären muss oder dass man in einer großen deutschen Zeitung kritisiert wird. Doch zur Beruhigung der Gemüter: Demonstrationen unter diesem Slogan kann man in Deutschland richterlich bestätigt abhalten6. Man darf wirklich noch seine Meinung in Deutschland äußern, auch wenn
der chinesische Künstler Ai Weiwei meint: „Immer wenn ich von deutschen Regierungsbeamten höre, die die Meinungsfreiheit von Künstlern einschränken, erfüllt mich das mit Verzweiflung.“ Welche Regierungsbeamte meint er? Er denkt vielleicht, wenn andere ihre Meinung mit gleicher Vehemenz vortragen wie er selbst, sei seine Meinungsfreiheit eingeschränkt?

Jason Farago erkennt sehr wohl den wachsenden Antisemitismus auch in der Kulturszene Deutschlands und beklagt die Reduzierung der Kulturausgaben im jetzigen Bundesetat:
Und das alles, während in Deutschland unbestreitbar antisemitische Rhetorik und sogar Gewalt zugenommen haben. Im Oktober warfen maskierte Angreifer Molotowcocktails auf eine Synagoge (sie verfehlten ihr Ziel; niemand wurde verletzt). Auf Regierungsgebäude und Wohnhäuser wurden antijüdische Beleidigungen und Davidsterne gemalt.
Als pro-palästinensische Aktivisten in den Hamburger Bahnhof kamen, eine der führenden Institutionen für zeitgenössische Kunst in Berlin, und den Direktor eines der jüdischen Museen des Landes mit Slogans wie „Zionismus ist ein Verbrechen“ beschimpften, bekräftigten sie die Überzeugung vieler, dass hier antiisraelische Rhetorik nur einen Schritt vom Antisemitismus entfernt ist7.

Der Autor mahnt Kulturpolitker zum Ende des Textes:
Sicherlich sollte diese Stadt inzwischen gelernt haben, dass es selten gut endet, wenn man die Kultur auf politische Ziele ausrichtet
Friedrich Schiller, meint er, sagte uns, wie Kultur und Regierung einander beeinflussen, denn er sah, dass die Künste kein aristokratischer Luxus und keine Dekoration wären, sondern der eigentliche Motor der menschlichen Freiheit. Schiller lehrte seine deutschen Landsleute 17958 :
Von allem, was positiv ist und was menschliche Conventionen einführten, ist die Kunst wie die Wissenschaft losgesprochen, und beide erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkür der Menschen. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht. Er kann den Wahrheitsfreund ächten, aber die Wahrheit besteht; er kann den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er nicht verfälschen. Zwar ist nichts gewöhnlicher, als daß beide, Wissenschaft und Kunst, dem Geist des Zeitalters huldigen, und der hervorbringende Geschmack von dem beurtheilenden das Gesetz empfängt. Wo der Charakter straff wird und sich verhärtet, da sehen wir die Wissenschaft streng ihre Grenzen bewachen und die Kunst in den schweren Fesseln der Regel gehen; wo der Charakter erschlafft und sich auflöst, da wird die Wissenschaft zu gefallen und die Kunst zu vergnügen streben. Ganze Jahrhunderte lang zeigen sich die Philosophen wie die Künstler geschäftig, Wahrheit und Schönheit in die Tiefen gemeiner Menschheit hinabzutauchen; jene gehen darin unter, aber mit eigener unzerstörbarer Lebenskraft ringen sich diese siegend empor.9

Ich denke, hier überteibt der Klassiker in seinem Wunsch nach Erhabenem. Es ist wohl ehr so, wie der Autor der NYT Tobias Haberkorn10 zitiert: „Menschen in Kultureinrichtungen sind risikoscheu. Wenn sie sich also entscheiden müssen: ‚Werde ich diesen oder jenen Künstler mit nahöstlichem Hintergrund einladen oder nicht?‘ Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sie nicht einladen. Nur um möglichen Ärger zu vermeiden.“ Und ich ergänze mit den Worten Lesings:

Die Kunst geht nach Brot.

  1. Büchmann: Citatenschatz des deutschen Volkes ↩︎
  2.  „Letter against Apartheid
    Zwischen dem 10. und 21. Mai feuerte Hamas 4.350 Raketen in israelische Städte hinein, 434 pro Tag, 13 Israelis wurden ermordet. Israel reagiert mit militärischen Mitteln, zerstört Abschussrampen in ziviler Infrastruktur. 248 Palästinenser wurden dabei getötet, kollateral oder auch Kämpfer der Hamas? Man kann es nicht wissen. Am 26. Mai erschien auf diversen Websites im BDS-Umfeld ein Letter Against Apartheid, den rund 250 palästinensische Künstler erstunterzeichneten. „Wir“, heißt es darin  „sind ein Volk, das durch die Architektur des israelischen Staates gewaltsam getrennt wird.“ … „Seit An-Nakba, dem Beginn der israelischen Siedlerkolonialherrschaft im Jahr 1948“  –  also seit Gründung des Staates Israel gemäß Beschluss der UN-Vollversammlung  –  „wurden unsere Gemeinschaften (…) gewaltsam zersplittert und ausgelöscht.“ Längst sei klar, „dass es keine Trennung zwischen dem israelischen Staat und seiner militärischen Besatzung gibt“: Die Existenz Israels und die „Besatzung“ bildeten zusammen ein „einziges Apartheidsystem“ und darum ein „Verbrechen gegen die Menschheit“. (Ruhrbarone) ↩︎
  3. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob sich meine politischen Ansichten geändert haben. Die eigentliche Frage ist die folgende: Warum wird diese Frage überhaupt gestellt? Aufgrund dieser Situation ziehe ich mich von dem Projekt zurück. Meine Kollegen an der Universität und die Pina Bausch Stiftung haben dies ausführlich mit mir besprochen und wir haben gemeinsam entschieden, dass dies der beste Weg ist. ↩︎
  4. Die Ausgaben für Kultur von Bund, Ländern und Gemeinden erhöhten sich zwischen 2005 und 2020 für Kultur von ca 8 Mrd auf 14,6 Mrd €, um ungefähr 82 %, während die Preise gleichem Zeitraum um ungefähr 24 % zunahmen. Allerdings waren das im Jahr 2020 nur ca. 1,9 % des Gesamthaushalts von Bund, Ländern und Gemeinden. Ob das viel oder wenig ist, um die Kulturaufgaben eines reichen Landes wahrzunehmen, muss jeder selbst beantworten. ↩︎
  5. “Plays taken off the boards” ist eine englische Redewendung, die oft im Zusammenhang mit Theater oder Sport verwendet wird. Im Theater bezieht sich “taken off the boards” auf die Entscheidung, ein Stück von der Bühne zu nehmen, es also nicht mehr aufzuführen. Im Sport kann es sich darauf beziehen, dass ein Spiel aus dem Spielplan genommen wird, möglicherweise aufgrund von Änderungen im Zeitplan, Verletzungen oder anderen Gründen (ChatGPT) ↩︎
  6. Im August 2023 hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden, dass die Parole “From the river to the sea” per se und für sich genommen noch nicht strafbar ist. In dem Urteil heißt es:
    „Zwar drückt der Slogan den Wunsch nach einem freien Palästina vom (Jordan)Fluss bis zum Mittelmeer aus, das heißt in einem Gebiet, in dem Israel in seinen heutigen Grenzen liegt. Der Slogan sagt aber als solches nichts darüber aus, wie dieses – politisch hoch umstrittene – Ziel erreicht werden soll. Grundsätzlich sind politisch verschiedene Mittel und Wege denkbar, dieses abstrakte Ziel zu erreichen, beispielsweise durch völkerrechtliche Verträge, eine Zwei-Staaten-Lösung, einen einheitlichen Staat mit gleichen Bürgerrechten für Israelis und Palästinenser oder aber mittels des bewaffneten Kampfes. Ob die aufgezeigten alternativen Wege politisch realistisch sind, ist dabei unerheblich. Einen zwingenden Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen Israel beinhaltet der Slogan als solcher jedenfalls nicht . Dementsprechend plädieren auch namhafte Antisemitismusforscher dafür, den Slogan in erster Linie als Ruf nach Freiheit und Gleichberechtigung für das Gebiet zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer zu verstehen und – wenn nicht zwingende zusätzliche Beweise das Gegenteil nahelegen – eben nicht als Aufruf zu Gewalt und Zerstörung.“  ↩︎
  7. Lohnend zu lesen ist der Beitrag von Mirjam Wenzel,Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt: Antisemitismus in deutschen Kultureinrichtungen ↩︎
  8. ich schreibe das Zitat in größerer Länge ↩︎
  9. Das Verhältnis von Kunstfreiheit und Politikeingriff durch Antisemitismusklauseln in der Kultur hat der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers in einem Gutachten dargelegt. ↩︎
  10. Herausgeber der Berliner Rezension ↩︎

Staatsraison?

Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.

Rudolf Dreßler – Botschafter in Israel 2000 – 2005

Auf Israels Seite zu stehen und sein Existenzrecht zu verteidigen, kann nicht bedeuten, alles, was eine israelische Regierung tut, bedingungslos zu unterstützen, vor allem nicht, wenn sie wie das jetzige Kriegskabinett handelt. Die Zeitung Ha’aretz beschrieb am Tag nach dem Überfall am 7. Oktober Netanyahus Regierung so:
Bewaffnete Milizen im Westjordanland mit Unterstützung der Regierung; die Rechtsstaatlichkeit wird immer schwächer; faschistische Elemente innerhalb der Regierung; ein nationaler Sicherheitsminister, der ein Versager ist; Knesset-Abgeordnete, die Mörder verherrlichen; eine Ansammlung ahnungsloser Likud-Minister, die über keine einschlägige Berufserfahrung verfügen.

Einen Krieg gegen eine kriminelle Organisation wie die Hamas zu führen, ist unter Achtung des Völkerrechts schwer. Zivilisten, Krankenhäuser, Schulen und soziale Einrichtungen werden von ihr als Schutzschilder benutzt. Dennoch ist Israel für das Schicksal der Zivilbevölkerung, für deren Gesundheit und Ernährung in ihren Einsatz- und Besatzungsgebieten verantwortlich! Diese Verantwortung wird nur ungenügend wahrgenommen. Dennoch bin ich nach dem halben Jahr Krieg in Gaza und dem Leid der Bevölkerung in Gaza überzeugt:
Der Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 war ein Angriff auf die Fundamente der Existenz dieses Staates durch die Terrororganisation Hamas. Ohne dieses Verbrechen wäre in Gaza niemand durch Israels Waffen gestorben oder verletzt worden.

So hatte ich von Beginn des Krieges an Verständnis für Israels militärische Antwort, Verständnis dafür, Hamas und ihre militärischen Fähigkeiten zerstören zu wollen, Terrorangriffe aus dem Gazastreifen heraus künftig unmöglich zu machen und die Bewohner Israels dauerhaft vor Angriffen zu schützen.
Fraglich war für mich von Beginn an, ob die Geiselbefreiung mit militärischer Gewalt möglich sein würde oder ob diese es vielmehr unmöglich machen würde, die Geiseln lebend zurückzuholen

Am 10. Oktober 2023 begann die Militäroperation „Eiserne Schwerter“  mit massiven Angriffen der israelischen Luftwaffe auf militärisch genutzte Objekte und Gebiete im Gazastreifen, am 27. Oktober 2023 dann die Bodenoffensive.
Die Bombardierung kostete tausenden Menschen in Gaza das Leben. Auch nach einem halben Jahr Krieg in Gaza wächst die Zahl der Getöteten, Kranke und Verwundete werden nicht versorgt, Nahrung und Wasser fehlen, da nicht genügend davon durch Israel ins Land gelassen wird. Übergroßes Leid ist über Gazas Zivilbevölkerung hereingebrochen. Diskussionen in der Weltöffentlichkeit über tatsächliche oder angebliche Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des Völkerrechts durch Israel gab es bereits kurz nach Beginn des Krieges. Diskutiert wurde und wird darüber, wie viele Zivilisten für einen Kombattanten getötet werden dürfen, ohne das Völkerrecht zu verletzen1,2. Das israelische Militär behauptet, alle Möglichkeiten des Schutzes von Zivilisten vor Schäden in Gaza zu ergreifen, spricht gar vom Goldstandard. Ein amerikanischer Militäranalyst verneint das explizit:
Es scheint, dass sich Israels Risikotoleranz gegenüber zivilen Schäden im Vergleich zu den erwarteten operativen Vorteilen erheblich von der Vergangenheit unterscheidet. US-Beamte, die sich mit israelischen Amtskollegen trafen, um den IDF-Prozess zur Berechnung der Zahl der Zivilisten, die als akzeptabler Kollateralschaden gelten, zu besprechen, sagten , dass die Messlatte Israels weitaus höher liegt als die der Vereinigten StaatenDer Ansatz der IDF für Vorsichtsmaßnahmen bleibt weit hinter dem Goldstandard für die Schadensminderung für die Zivilbevölkerung zurück. 3.

Humanitäre Hilfe von Außen bleibt mehr und mehr aus, auch wenn es eine zusätzliche Versorgung aus der Luft gibt. Israels Kriegskabinett hat jüngst entschieden, den Hafen von Aschdod sowie den Grenzübergang Erez vorübergehend für Hilfslieferungen zu öffnen.
Sieben Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Central Kitchen wurden bei einem israelischen Drohnenangriff in der vorigen Woche getötet. Netanyahu sagte dazu: “Leider ist es gestern zu einem tragischen Zwischenfall gekommen… Das passiert im Krieg …”. Das hört sich an wie Shit happens, denke ich4, Empathie und Schuldgefühl ist nicht zu erkennen5.

Ein „totaler Sieg“, den Premierminister Benjamin Netanyahu verspricht, wird nicht gelingen, wenn auch sehr viele Hamas-Kämpfer getötet wurden6. Doch es wachsen jeden Tag neue Feinde Israels heran, die zum Kämpfen und Sterben bereit sein werden, fürchte ich.

Wohin soll dieser Krieg für Israelis und Palästinenser führen? Ha’aretz hatte schon am 24.10.2023 an das Kriegskabinett die entscheidenden Fragen gestellt:
Eine Eskalation mag unvermeidlich sein, aber was ist Israels Endziel? Gibt es ein kohärentes, realisierbares politisches Ziel? Die Hamas so weit wie möglich zu zerschlagen und zu eliminieren, ist ein legitimes und berechtigtes Ziel, aber steht es im Einklang mit einem umfassenderen Ziel? Leiten sich militärische Ziele aus einer klaren politischen Vision vom „Tag danach“ ab? Eine Antwort darauf gibt es bis heute nicht.

Und was ist mit den Geiseln in der Hand der Hamas?
Einige israelische Geiseln kamen frei – nicht durch militärische Aktionen, sondern durch Verhandlungen. Geiseln, die die IDF hätte befreien können, wurden durch eigene Militärs versehentlich getötet und in einer Aktion mit mehr als 100 Zivilisten als Kollateralschaden wurden zwei Geiseln militärisch befreit. Mehrere Geiseln sind in der Geiselhaft gestorben, wie es den Lebenden heute geht, weiß die Welt nicht. Viele der Geiseln werden wohl in der Hand der Hamas sterben.

Und die Ziele der Hamas?
Ich glaubte schon am 8. Oktober, dass Hamas diese Eskalation ohne Rücksicht auf die eigenen Bürger in Gaza wollte. Je mehr Schaden und Leid in Gaza, desto größer würde die Wut und Empörung in den arabischen Ländern und in der Welt werden und alle Palästinenser würden sich dem Kampf anschließen. Der Hamas-Führer Chalil al-Haja sagte das auch offen in einem Interview mit der New York Times:
Aber nach der blutigen Berechnung der Hamas-Führer ist das Blutbad nicht das bedauerliche Ergebnis einer großen Fehleinschätzung. Ganz im Gegenteil sagen sie: Es ist der notwendige Preis für eine große Errungenschaft – die Zerstörung des Status quo und die Eröffnung eines neuen, volatileren Kapitels in ihrem Kampf gegen Israel.
Es sei notwendig, „die gesamte Gleichung zu ändern und nicht nur einen Konflikt auszulösen“, sagte Chalil al-Haja. „ Es ist uns gelungen, die Palästinenserfrage wieder auf den Tisch zu bringen, und jetzt gibt es in der Region keine Ruhe mehr “.
Führer der Hamas lobten das Massaker und hofften, dass es einen anhaltenden Konflikt auslösen würde, der jeden Anschein einer Koexistenz zwischen Israel, Gaza und den umliegenden Ländern endgültig beenden würde. „Ich hoffe, dass der Kriegszustand mit Israel an allen Grenzen dauerhaft wird und dass die arabische Welt an unserer Seite steht“, sagte Taher El-Nounou, ein Medienberater der Hamas.

Der israelische Journalist Shlomi Eldar berichtete jüngst von der Begegnung in Kairo mit einem alten Bekannten:
Abu Zaydeh aus Gaza hat eine für uns ungewöhnlich bewegte Geschichte, die für einen Palästinenser in Gaza vielleicht so ungewöhnlich nicht ist7 . In dem Gespräch fragt Eldar Abu Zaydeh, ob er sich vor dem 7. Oktober hätte vorstellen können, dass Hamas eine solche Aktion durchführen könne und würde. “Es war für uns schwer zu begreifen, dass sie glaubten, dass sie Israel mit 3.000, 5.000 oder sogar 10.000 bewaffneten Kämpfern erobern würden. Aber wenn man glaubt, dass Gott einen schickt, um seinen Befehl auszuführen, gibt es niemanden, mit dem man streiten konnte. Die Zeichen waren die ganze Zeit da draußen .“, sagte er und berichtet weiter:
Die Hamas-Führung unter Yahiya Sinwar hatte in den letzten Jahren davon gesprochen, das „letzte Versprechen“ (alwaed al’akhir) umzusetzen: die erzwungene Konvertierung aller Ungläubigen zum Islam oder deren Tötung. Außerhalb des harten Kerns der Hamas-Führung galt die Rede von einem apokalyptischen Showdown in Gaza nur als Wunschtraum, als unsinniges Geschwätz von Sinwar und seiner Gruppe. Dabei hätte jeder, der den Hamas-Fernsehsender sah, Sinwars Reden hörte, verstehen können, dass in Gaza ein Prozess im Gang war, um die Menschen auf eine groß angelegte Militäroperation vorzubereiten.
Ein anderer Palästinenser aus Gaza berichtete dem Journalisten:
Als die Hamas-Führung anfing, über das „letzte Versprechen“ zu sprechen, hielt auch er es nicht für ernst. Doch 2021 wurde ihm klar, dass dies keine abwegige Idee von Spinnern war, sondern dass die gesamte Führung der Sinwar-Gruppe an den Plan glaubte, eine von Gott verordnete Mission zu erfüllen. Für sie war klar, dass sie mit Allahs Hilfe Israel stürzen würden. Er berichtete von ausgearbeiteten Plänen, das gesamte Land neu zu ordnen, eine vollständige Liste der Ausschussvorsitzenden für die neu zu bildenden Kantone war vorbereitet. Im September 2021 fand in einem Hotel in Gaza die „The Promise of the Hereafter Conference“ statt, bei der die künftige Verwaltung des Staates Palästina nach seiner „Befreiung“ von Israel besprochen wurde. Sinwar erklärte der Konferenz in einer schriftlichen Rede, die vollständige Eroberung des „Staates der Zionisten“ stünde kurz bevor, der Sieg und die Befreiung Palästinas vom Meer bis zum Fluss sei nahe.
Teilnehmer der Konferenz begannen, eine Liste aller Immobilien in Israel zu erstellen, Verantwortliche für die Verteilung von Vermögenswerten zu ernennen. Ein Register aller israelischen Wohnungen und Institutionen, Bildungseinrichtungen und Schulen, Tankstellen, Kraftwerke und Abwassersysteme war bereits vorhanden. Unter dem Punkt 15 heißt es:
(15) Im Umgang mit den jüdischen Siedlern auf palästinensischem Land muss eine Unterscheidung getroffen werden: ein Kämpfer, der getötet werden muss; ein [Jude], der flieht und in Ruhe gelassen werden kann oder für seine Verbrechen gerichtlich belangt werden kann; und ein friedliches Individuum, das sich selbst aufgibt und integriert werden kann oder dem Zeit gelassen wird zu gehen. Dies ist eine Frage, die eine gründliche Überlegung und die Entfaltung des Humanismus erfordert, der den Islam seit jeher charakterisiert hat.
Ich habe das für eine Verschwörungserzählung gehalten, bis ich das Dokument selbst gelesen hatte.

Der Überfall der Hamas am 7. Oktober sollte der Tag des Beginns der Befreiung Palästinas vom Meer bis zum Fluss sein. Wer meint, der Slogan From the sea to the river sei nicht antisemitisch und glaubt, die Hamas als Befreiungsorganisation feiern zu müssen, sollte dieses Dokument lesen!


Fußnoten:

  1. New York Times 08.November 2023  ↩︎
  2. Markus Lanz vom 3. April 2024  ↩︎
  3. Larry Lewis: Israeli Civilian Harm Mitigation in Gaza: Gold Standard or Fool’s Gold?  ↩︎
  4. Ich lese heute in Haaretz einen Bericht von Shlomi Eldar:  ein Beispiel für das Nachlassen der Einhaltung humanitärer Regeln im Krieg bei der IDF:
    Tatsächlich achtete Israel im Gegensatz zu dem, was heute in Gaza geschieht, viele Jahre lang darauf, Massenangriffe auf Zivilisten zu vermeiden. Wenn Zivilisten verletzt wurden, erklärte Israel dies schnell, drückte Reue aus und lernte aus dem Vorfall. Die israelischen Medien äußerten sich kritisch und stellten Fragen.
    Das beste Beispiel ist die Reaktion auf die Entscheidung, Salah Shehadeh, den Chef des militärischen Flügels der Hamas, auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada im Juli 2002 zu ermorden. Die Rakete, die sein Haus traf, tötete auch weitere 14 Zivilisten. Der Vorfall löste in Israel öffentliches Aufsehen aus, und 27 Piloten der israelischen Luftwaffe schickten bekanntlich einen Brief, um gegen die Aktion zu protestieren.
    Der damalige Kommandeur der IAF, Generalmajor Dan Halutz, der das Attentat verteidigte, wurde in einem Interview in Haaretz zu dem Vorfall befragt und antwortete, dass ein Pilot in einer solchen Situation „ein leichtes Zittern im Flügel verspüre.” Der Ausdruck wird als Synonym für den Verlust von Mitgefühl benutzt. ↩︎
  5. Der Angriff auf den Hilfskonvoi in dieser Woche war nicht nur das Ergebnis mangelnder Disziplin. Es besteht Unempfindlichkeit gegenüber der Tötung palästinensischer Zivilisten. Dies verschlimmert sich mit der Dauer des Krieges und es fällt dem Generalstab schwer, die Streitkräfte vor Ort zu kontrollieren. ↩︎
  6. Nach IDF Schätzungen sind bis heute zwischen 9.000 und 12.000 Kämpfer getötet worden. Hamas gab Mitte Februar 6.000 an. Die tatsächliche Zahl dürfte irgendwo in der Mitte liegen. ↩︎
  7. Abu Zaydeh war einer der ersten Palästinenser, die nach der Unterzeichnung der Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung 1993 aus der israelischen Haft (wegen Mitgliedschaft in der Fatah) entlassen wurden. Unter Israelis wurde er so etwas wie ein palästinensischer Medienstar, der im lokalen Fernsehen in fließendem Hebräisch die palästinensische Sicht auf den Vertrag von Oslo analysierte.  Er studierte israelische Geschichte am Sapir College in Sderot, promovierte in England und wurde 2005 zum Minister für Gefangenenangelegenheiten der Palästinensischen Autonomiebehörde ernannt. Im Jahr 2006 wurde er von den Iz al-Din al-Qassam-Brigaden aus seinem Haus entführt und anschließend vom palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas verfolgt, weil er als loyal gegenüber Abbas’ Rivalen Mohammed Dahlan galt. Abbas entzog ihm sein Gehalt und beschlagnahmte seine Rente und sein Haus in Ramallah. Im Jahr 2019 musste Abu Zaydeh in den Gazastreifen zurückkehren, aus dem er nach dem Putsch der Hamas geflohen war. Er lebte im Flüchtlingslager Jabalya, das von Yahya Sinwars Bande – wie er sie nennt – regiert wurde.
    Er arbeitete für Sinwar im Zusammenhang mit der Verteilung von Geldern aus den Vereinigten Arabischen Emiraten an die Bewohner von Gaza und für Projekte mit Studienstipendien an junge Menschen.  ↩︎

Friedensfreunde ?

Ich bin sicher, den allermeisten der Unterzeichner des “Manifests für Frieden” vom Februar 2023, initiiert von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, ist es ernst mit ihrem Wunsch nach einem Ende des Sterbens und Leidens in der Ukraine. Sie glauben, ein Stopp der Waffenlieferungen führe zumindest zu einem Waffenstillstand und weitere Verhandlungen zum Frieden.


Nicht sicher bin ich mir allerdings, ob Frau Wagenknecht das auch wirklich glaubt. Das zu wissen wäre auch nicht wichtig, wäre sie nicht das Sprachrohr und die Ideengeberin für die verunsicherten, verängstigten und sich nach Frieden sehnenden Menschen, die ihr folgen.

In der TAZ vom 16. März 2024 wurde sie gefragt:
Wie können Sie ausschließen, dass Putin diese Zeit (… wenn der Westen keine Waffen mehr liefert) nicht zur Aufrüstung nutzt, um die Ukraine endgültig zu unterwerfen?

Ihre Antwort:
Die Frage ist: Was will Russland? Viel spricht dafür, dass Russland mit diesem Krieg vor allem einen absehbaren Nato-Beitritt der Ukraine, inklusive amerikanischer Militärstützpunkte und Raketenbasen, verhindern wollte. Die Russen wären bei den Verhandlungen in Istanbul im März 2022 dazu bereit gewesen, sich auf die Linien des 24. Februar 2022 zurückzuziehen. Das hat auch der ukrainische Vertreter bestätigt. Das könnte der anzustrebende Kompromiss sein: Neutralität gegen ein Ende dieses Krieges.

Sahra Wagenknecht wiederholt bis jetzt regelmäßig: Gleich nach Kriegsbeginn im März 2022 sei man kurz davor gewesen, einen Waffenstillstand zu erreichen. Die Kompromissbereitschaft beider Seiten war damals sehr hoch, doch London und Washington blockierten alles.

Um das zu belegen, beruft sie sich auf eine Aussage des damaligen israelischen Premier Naftali Bennett, der in einem Interview gesagt hatte, für einen Waffenstillstand eine 50-prozentige Chance gesehen zu haben. (Ob fifty-fifty eine große Wahrscheinlichkeit ist, möge jeder für sich entscheiden) .

Auch wenn sie den Angriff Russlands verbal immer wieder kritisiert, hält sie daran fest, die eigentlichen Verursacher des Krieges seien in Washington, London, Paris und Berlin zu suchen: „Aber historische Wahrheit ist auch: Die Nato hat sich nach Osten ausgedehnt, nicht Russland gen Westen. Viele westliche Experten – auch der CIA-Direktor William Burns – haben darauf hingewiesen, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eine knallrote Linie war.
Auf die Frage: „Putin sagt selbst, dass Russlands Interessen nicht in der Ukraine enden. Warum nehmen Sie ihn nicht beim Wort?“ antwortet sie, sie habe dem Interview mit Tucker Carlson entnommen, für Putin sei die Ausdehnung der amerikanischen Einflusszone das zentrale Problem. Putins Reden zu den Kriegsgründen scheint sie bis zum Tag des Interviews am 16. März nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Wall Street Journal über den Inhalt des Entwurfs des sogenannten Friedensplans, den Putin in den Verhandlungen 2022 durchsetzen wollte, bereits berichtet (am 2. März schrieb t-online darüber, in den folgenden Tagen auch andere deutsche Zeitungen). Ich denke, auch Sahra Wagenkechnt kannte zu dem Zeitpunkt den Inhalt Putins Friedensplans vom März 2022. Spätestens jetzt musste klar sein: Dieser Friedensvertrag war keine Grundlage für einen nachhaltigen Frieden mit Russland. Richtig ist: Ukrainische Vertreter sprachen mit Russland, weil sie zu dem Zeitpunkt mit dem Rücken zur Wand standen. Als die Ukraine militärisch jedoch vorankam und beim Vorrücken in die von Russland besetzen Vororte von Kyiv Butscha und Irpin die Massaker sichtbar geworden waren, brachen ihre Vertreter die Gespräche ab. Sie konnten einen Vertrag unmöglich unterschreiben, der vorsah, die Armee auf ein Drittel zu reduzieren, vertraglich zuzusichern, nie der Nato beizutreten, sich „Schutzmächten“ wie China und Russland (neben USA, GB und Frankreich) auszuliefern. Mit dem Vertragsstaat Russland hatte man schon nach dem Einmarsch Russlands und der Krimannektierung 2014 Erfahrungen machen können. Das Budapester Memorandum 1von 1994 war dabei zu wertlosem Papier geworden.
Eine Unterschrift unter Putins Vertrag von 2022 hätte für die Ukraine bedeutet, ohne eine funktionale Armee und mangels Unterstützung des Staatenbundes sich künftigen russischen Angriffen schutzlos auszuliefern. Nach Sahra Wagenknechts Meinung wäre das also der Weg zum Frieden in der Ukraine gewesen.

Ich fürchte, ihr ist das Schicksal der Ukrainerinnen und Ukrainer herzlich gleichgültig, ihr ist es wichtig, die NATO, Amerika, den Westen und besonders die Regierenden in Deutschland für den Krieg und seine Fortsetzung verantwortlich zu machen. In der Talkshow von Markus Lanz am 21.Februar 2023 stellte
Kevin Künert fest:
Sie (zu Sarah Wagenknecht) blenden den entscheidenden Faktor (bei der vorher besprochenen Suche nach Verhandlungslösungen) aus, und das ehrlicherweise auch aus Gründen. Das entscheidende Puzzleteil nehmen Sie aus dem Spiel raus, was Sie eigentlich für eine Lösung brauchen.:
Und das ist die Ukraine selbst.
Sie sprechen höchstens pflichtschuldig, auch in diesem Manifest über die Ukraine.
Sie machen, so nehme ich das wahr, die Ukraine von einem Subjekt, von einem handelnden Subjekt, zu einem Objekt, zu einem Spielstein, der in der internationalen Politik hin- und hergeschoben wird.

Sie reden über mögliche Lösungen und Vereinbarungen, die irgendwo wer aufgeschrieben hat, ohne einmal zu hinterfragen, ob eigentlich die Ukraine damit einverstanden gewesen wäre.

Sie antwortet darauf nicht, sondern sagt:
“Ich finde, dass der Westen auch eine Verantwortung hat. Wir munitionieren diesen Krieg. Selenskyj hat aktuell die Position (keine Verhandlungen mehr mit Russland), wie gesagt, im Frühjahr hatte er eine andere. Da haben sich andere über seinen Kopf hinweggesetzt.”

Die Schuldigen am Krieg sind im Westen zu finden, Russland konnte und kann nicht anders, als sich zu wehren. Das ist die Grundmelodie. Vor deutschen Publikum wird sie etwas abgemildert vorgetragen, wenn dieses jedoch nicht zuhört, dann kann Klartext geredet werden, so z.B. vor chinesischen Genossen, wie im Interview am 21. Februar 2024, das Sevim Dagdelen (Bündnis Sahra Wagenknecht) der chinesischen Global Times gab. Darin wird Russland zum Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine mit keinem Wort als Aggressor erwähnt, dafür aber der Westen als Kriegstreiber ausführlich beschrieben. Ein paar Zitate:

Die US-Regierung zeigt offensichtlich weiterhin kein Interesse an einem Waffenstillstand oder einer diplomatischen Lösung. Die Torpedierung des Istanbuler Friedensabkommens vom Frühjahr 2022 durch den damaligen britischen Premierminister Boris Johnson im Auftrag der USA macht sich weiterhin bemerkbar

Wir erleben derzeit eine regelrechte Kriegshysterie in der politischen Klasse in Deutschland und Europa, die immer wieder von einem Krieg gegen Russland spricht und eine Aufrüstung fordert, was die Situation zu einer äußerst gefährlichen Situation macht. Darüber hinaus werden mit der faschistischen Politik der Vertreibung der Russen aus den baltischen Staaten neue Provokationen inszeniert. Dadurch entsteht eine hochbrisante Situation. Solche Kriegstreiberei geht einher mit Hybris und der Wiederbelebung deutscher Vorstellungen von der Schutzmacht Osteuropas, wie sie am Ende des Ersten Weltkriegs zu beobachten waren...

 Neben der Ukraine ist Europa damit (mit den Ausgaben für die militärische Unterstützung der Ukraine) zum Verlierer des Krieges geworden. Dennoch haben die politischen Eliten Europas bisher keine Anzeichen einer Kursänderung gezeigt. Im Gegenteil: Sie suchen ihre eigene Rettung, indem sie ihre Vasallenbeziehung zu den USA noch weiter vertiefen und versuchen, die Hauptlast des Stellvertreterkriegs gegen Russland zu tragen...

Die NATO ist ein Kriegsbündnis mit globalen Ambitionen. So wie es seit 1994 bis an die Grenzen Russlands vordringt, versucht es nun auch in Asien zu expandieren, durch bilaterale Aggressionspakte gegen China gemeinsam mit Südkorea, Japan, den Philippinen und Australien sowie durch die Stärkung des Militärs Zusammenarbeit mit den Ländern der Region. Damit entwickelt sich die NATO zu einer großen Bedrohung für den Weltfrieden im 21. Jahrhundert.


Fußnoten

  1. Abkommen zwischen Russland, den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, das Sicherheitszusagen für die Ukraine im Zusammenhang mit ihrem Verzicht auf Atomwaffen machte. Die Unterzeichner verpflichteten sich, die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine zu respektieren, keine Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen die Ukraine oder ihre territoriale Integrität anzuwenden, sich bei internationalen Organisationen gegen Bedrohungen oder Angriffe auf die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine einzusetzen. Russland brach diesen Vertrag bereits 2014 und dann 2022. ↩︎

Der Krieg in der Ukraine – und kein Ende?

Immer noch sterben Menschen in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ukrainerinnen und Ukrainer werden aus der Luft beschossen und an der Front wird um jeden Meter gekämpft. Die Rufe nach Waffenstillstand und Verhandlungen reißen nicht ab. Zentrale Themen der Ostermärsche waren die Forderungen nach Waffenruhe, diplomatischen Lösungen und einem Ende der Waffenlieferungen. Tage vor Ostern hatte der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vom “Einfrieren” des Krieges gesprochen, Papst Franziskus legte der Ukraine jüngst in einem Interview nahe, Mut zur “weißen Fahne” zu zeigen. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer forderte die Europäer auf, darauf hinwirken, noch vor der Präsidentschaftswahl in den USA Gespräche über einen Waffenstillstand zu erreichen. Die Logik von Gewalt und Sterben müsse durchbrochen werden und er teile den Aufruf „Mut zu Verhandlungen“ von Papst Franziskus. Man müsse sich mehr anstrengen, das Sterben im Krieg zu beenden. Sarah Wagenknecht meinte jüngst: “Der Westen sollte Russland anbieten, keine Waffen mehr zu liefern, wenn Russland dafür zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bereit ist. Das setzt allerdings voraus, dass auch die Ukraine dazu bereit wäre.”

Ausgerechnet die angegriffene Ukraine soll als vermeintlich schwächere Seite nachgeben. Explizite Aufrufe an Russland, den Krieg bedingungslos zu beenden fehlen, wie mir scheint.

Ich verstehe nicht, woher die Annahme gewonnen werden konnte, der Westen müsse nur zu diplomatischen Verhandlungen bereit sein, dann würden erfolgreiche Verhandlungen zum Ende des Sterbens und Leidens in der Ukraine führen. Der frühere Präsident Medwedew postete auf Telegam am 14. März 2024 :

Der Wille der sogenannten ehemaligen Ukraine zu verhandeln ist nicht erkennbar. Zumindest nicht auf der Grundlage der Anerkennung der Realitäten, wie Wladimir Putin gestern sagte. Für sie sind die Realitäten die hirntote “Friedensformel” eines Provinzclowns in grüner Strumpfhose. Und sonst nichts.

Seine Friedensformel:

  1. Anerkennung der Niederlage durch die “ehemalige Ukraine” in der militärischen Komponente des Konflikts. Vollständige und bedingungslose Kapitulation der “ehemaligen Ukraine”, vertreten durch die neonazistische Clique in Kiew. Entmilitarisierung der “ehemaligenUkraine” und ein Verbot der Bildung paramilitärischer Formationen auf ihrem Territorium in der Zukunft.
  2. Anerkennung des nazistischen Charakters des politischen Regimes in Kiew durch die internationale Gemeinschaft und erzwungene Entnazifizierung aller Machtorgane in der “ehemaligen Ukraine” unter Aufsicht der UN.
  3. Die Bestätigung des Verlustes der Rechtspersönlichkeit der “ehemaligen Ukraine” durch die UN. Verlust der internationalen Rechtspersönlichkeit und die Unmöglichkeit für jeden ihrer Rechtsnachfolger, ohne Russlands Zustimmung Militärbündnissen beizutreten.
  4. Rücktritt aller verfassungsmäßigen Organe der “ehemaligenUkraine” und die sofortige Abhaltung von Wahlen für eine provisorische Regierung und die sofortige Abhaltung von Wahlen zum provisorischen Parlament des Territoriums der “ehemaligen Ukraine”, das sich unter der Schirmherrschaft der UNO selbst verwaltet.
  5. Verabschiedung von Gesetzen durch das provisorische Parlament über die Zahlung aller fälligen Entschädigungen an Russland, einschließlich der Zahlungen an die Angehörigen der toten Bürger unseres Landes und der Zahlungen für Gesundheitsschäden der Verwundeten. Festlegung der Ordnung für die Entschädigung für die den Subjekten der Russischen Föderation zugefügten Vermögensschäden.
  6. Offizielle Anerkennung durch das provisorische Parlament der “ehemaligen Ukraine”, dass ihr gesamtes Territorium das Territorium der Russischen Föderation ist. Verabschiedung eines Gesetzes über die Wiedervereinigung der Territorien der “ehemaligen Ukraine” mit Russland.
  7. Selbstauflösung des provisorischen Parlaments. Anerkennung des Wiedervereinigungsgesetzes durch die UNO.

Das könnte die weiche russische Formel für den Frieden sein. Das ist doch die Kompromissposition, oder? Ich denke, sie ist die Grundlage für die Suche nach einem wohlwollenden Konsens mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der angelsächsischen Welt, für die Abhaltung produktiver Gipfeltreffen und für das Verständnis unserer engen Freunde – unserer westlichen Partner.

Vor mehr als einem Jahr habe ich zur Selbstvergewisserung im Internet nach offiziellen Stimmen Russlands zu den Gründen des Überfalls auf die Ukraine gesucht. Nach der Lektüre konnte ich nicht mehr glauben, dass eine Friedenslösung in Verhandlungen mit Russland ohne vollständige Zerstörung der Ukraine zum heutigen Zeitpunkt möglich ist.

Frieden in der Ukraine – wie?

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Im Westen Mecklenburgs nichts Neues

Ich musste in der vergangenen Woche im Internet lesen:

In Grevesmühlen hat der Kreistag von Nordwestmecklenburg am Donnerstag in einer Dringlichkeitssitzung für die Errichtung einer Containerunterkunft für Asylbewerber und Geflüchtete im Gewerbegebiet von Upahl gestimmt…
Vor dem Sitzungsgebäude in Grevesmühlen – der Alten Malzfabrik – machten am frühen Abend rund 700 Demonstranten ihrem Unmut gegen das Projekt lautstark Luft. Nach Angaben der Polizei waren auch etliche Personen, die dem rechten Spektrum zuzuordnen seien, unter den Demonstranten – ebenso wie bekannte Rechtsextremisten aus der Region sowie Hooligans. Nach Angaben einer NDR Reporterin war die Stimmung sehr aufgeheizt.

Der zuständige Landrat sagte: “Ich verstehe die Sorgen der Anwohner“. Ich verstehe sie auch, denn vor 78 Jahren musste ich als Geflohener lernen, dass man Fremde hier generell nicht mag.

Als Fremde galten in früheren Tagen in Mecklenburgs Dörfern schon die Menschen des Nachbarortes. So waren auf dem Friedhof unserer zuständigen Kirchgemeinde die Begräbnisplätze seit dem 18. Jahrhundert nach Gemeindedörfern unterteilt. Die eigenen waren getrennt von denen der Nachbarorte. Bei einer Friedhofsneuordnung gerieten alle miteinander in heftigen Streit über das jeweils zugewiesene Areal, weil ihren eigenen Toten angeblich durch die Vernässung ihrer Gräber Schaden drohe, während die Fremden im Trockenen lägen. Das sei “von Todten und deren Särgen aller Billigkeit abzuwenden“.
Ganz so ist es im Jahr 2023 in Mecklenburg natürlich nicht mehr, die Angst, durch Fremde übervorteilt zu werden, aber ist geblieben und die macht es Radikalisierern leicht, einen halben Ort gegen Hilfesuchende zu mobilisieren.

Im Januar 1945 war meine Mutter mit uns drei Kindern und ihrer eigenen alten Mutter aus Posen vor der herannahenden Roten Armee nach Westen geflohen und völlig mittellos in einem kleinen mecklenburgischen Dorf gestrandet. Wir waren Flüchtlinge und Heimatlose, die man spüren ließ, nicht willkommen zu sein. Als wir ankamen, regierten die Nazis noch und man hätte annehmen können, dass die germanischen Volksgenossen ihren hilfsbedürftigen deutschen Mitbürgern mit tätiger Hilfe beistehen würden. Eine Mehrheit im Kreis Ludwigslust hatte von 1933 an treu zu Führer und Vaterland gestanden, mehr als eine Hälfte hatte schon damals die Nazis gewählt. Doch jetzt blieb außer einer Einweisung in eine Unterkunft jede weitere Hilfe aus. Die Dorfbewohner sahen nur die Fremden in uns, die möglichst bald wieder weg sollten.

Meine Mutter musste materielle Hilfe erbetteln. Sie sprach ein fremd klingendes Deutsch mit einer eigentümlichen Sprachmelodie, benutze Ausdrücke, die nicht verstanden und für ausländisch gehalten wurden. Nach der Besetzung durch Soldaten der Roten Armee konnten meine Eltern mit den Besatzungssoldaten in deren Sprache sprechen, was vielen suspekt war, wenn es nicht gar für kommunistisch gehalten wurde.

Natürlich gab es auch damals hilfsbereite Menschen, die Notleidenden beistanden. Meine Mutter hatte in der Kirchgemeinde einen solchen Beistand gefunden, eine Dorffremde, die sich unser annahm: Eine Klavierlehrerin aus Braunschweig, hatte sich in den Bauern verliebt und war ihm nach der Hochzeit auf seinen Hof gefolgt. Hier saß sie nun ohne gesellschaftliche Kontakte und freute sich, meiner Mutter in der Kirche begegnet zu sein. Sie hatte jemanden für das Klavierspiel zu vier Händen und für den Austausch über Gelesenes und religiöse Fragen gefunden und konnte uns überleben helfen. Sie unterstützte uns nach Kräften in christlicher Nächstenliebe gab uns Teller und Tassen, Decken und Essen.
Auch der Bauer hatte uns Kinder gern, seine 15jährige Tochter liebte uns. Ich war gern und oft auf dem Hof und hatte das Gefühl akzeptiert zu werden.

Ich hoffe sehr, dass auch die heute aus existenzieller Not in unser Bundesland Kommenden Menschen finden, die sich ihrer annehmen – auch im Kreis Grevesmühlen.

Batalha – Битва

Der Präsident der Russischen Föderation beschloss, die Ukraine zu überfallen, einen Krieg zu beginnen. Seit Februar 2022 ist das für uns alle Undenkbare Realität geworden. Russlands Soldaten verwüsten das Land, bringen Tod und Zerstörung zu den Menschen, die sie zu ihren orthodoxen Brüdern zählen.
Die russischen Angreifer legten während der dreimonatigen Eroberung Mariupols diese Stadt fast vollständig in Schutt und Asche.

Das Foto Evgeniy Maloletkas einer zu Trümmern gewordenen Kirche in Mariupol wurde zum Zeichen dieser sinnlosen Zerstörung. Ich habe es als Vorlage für mein eigenes Bild Batalha – Битва oder der Blick von West nach Ost benutzt. Durch die seit Jahrhunderten unzerstörten Gitter des Kreuzgangs im Kloster Batalha (port. Schlacht ) in Portugal sieht man auf die Ruine der orthodoxen Kirche – für mich ein Symbol für unseren hiesigen Blick von West nach Ost auf diese Tragödie. Während dort das Land im Chaos versinkt, betrachten wir aus sicherer Entfernung unsere intakten Kulturgüter und machen uns Sorgen, ob das nächste Konzert stattfinden wird, ob wir ein Restaurant ohne Maske betreten dürfen oder ob wir es im Winter warm genug haben werden.

Beitragsbild: Von armyinform.com.ua – https://armyinform.com.ua/2022/03/26/francziya-vymagatyme-vid-rf-znyaty-oblogu-mariupolya/, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=116431122