Im Westen Mecklenburgs nichts Neues

Ich musste in der vergangenen Woche im Internet lesen:

In Grevesmühlen hat der Kreistag von Nordwestmecklenburg am Donnerstag in einer Dringlichkeitssitzung für die Errichtung einer Containerunterkunft für Asylbewerber und Geflüchtete im Gewerbegebiet von Upahl gestimmt…
Vor dem Sitzungsgebäude in Grevesmühlen – der Alten Malzfabrik – machten am frühen Abend rund 700 Demonstranten ihrem Unmut gegen das Projekt lautstark Luft. Nach Angaben der Polizei waren auch etliche Personen, die dem rechten Spektrum zuzuordnen seien, unter den Demonstranten – ebenso wie bekannte Rechtsextremisten aus der Region sowie Hooligans. Nach Angaben einer NDR Reporterin war die Stimmung sehr aufgeheizt.

Der zuständige Landrat sagte: “Ich verstehe die Sorgen der Anwohner“. Ich verstehe sie auch, denn vor 78 Jahren musste ich als Geflohener lernen, dass man Fremde hier generell nicht mag.

Als Fremde galten in früheren Tagen in Mecklenburgs Dörfern schon die Menschen des Nachbarortes. So waren auf dem Friedhof unserer zuständigen Kirchgemeinde die Begräbnisplätze seit dem 18. Jahrhundert nach Gemeindedörfern unterteilt. Die eigenen waren getrennt von denen der Nachbarorte. Bei einer Friedhofsneuordnung gerieten alle miteinander in heftigen Streit über das jeweils zugewiesene Areal, weil ihren eigenen Toten angeblich durch die Vernässung ihrer Gräber Schaden drohe, während die Fremden im Trockenen lägen. Das sei “von Todten und deren Särgen aller Billigkeit abzuwenden“.
Ganz so ist es im Jahr 2023 in Mecklenburg natürlich nicht mehr, die Angst, durch Fremde übervorteilt zu werden, aber ist geblieben und die macht es Radikalisierern leicht, einen halben Ort gegen Hilfesuchende zu mobilisieren.

Im Januar 1945 war meine Mutter mit uns drei Kindern und ihrer eigenen alten Mutter aus Posen vor der herannahenden Roten Armee nach Westen geflohen und völlig mittellos in einem kleinen mecklenburgischen Dorf gestrandet. Wir waren Flüchtlinge und Heimatlose, die man spüren ließ, nicht willkommen zu sein. Als wir ankamen, regierten die Nazis noch und man hätte annehmen können, dass die germanischen Volksgenossen ihren hilfsbedürftigen deutschen Mitbürgern mit tätiger Hilfe beistehen würden. Eine Mehrheit im Kreis Ludwigslust hatte von 1933 an treu zu Führer und Vaterland gestanden, mehr als eine Hälfte hatte schon damals die Nazis gewählt. Doch jetzt blieb außer einer Einweisung in eine Unterkunft jede weitere Hilfe aus. Die Dorfbewohner sahen nur die Fremden in uns, die möglichst bald wieder weg sollten.

Meine Mutter musste materielle Hilfe erbetteln. Sie sprach ein fremd klingendes Deutsch mit einer eigentümlichen Sprachmelodie, benutze Ausdrücke, die nicht verstanden und für ausländisch gehalten wurden. Nach der Besetzung durch Soldaten der Roten Armee konnten meine Eltern mit den Besatzungssoldaten in deren Sprache sprechen, was vielen suspekt war, wenn es nicht gar für kommunistisch gehalten wurde.

Natürlich gab es auch damals hilfsbereite Menschen, die Notleidenden beistanden. Meine Mutter hatte in der Kirchgemeinde einen solchen Beistand gefunden, eine Dorffremde, die sich unser annahm: Eine Klavierlehrerin aus Braunschweig, hatte sich in den Bauern verliebt und war ihm nach der Hochzeit auf seinen Hof gefolgt. Hier saß sie nun ohne gesellschaftliche Kontakte und freute sich, meiner Mutter in der Kirche begegnet zu sein. Sie hatte jemanden für das Klavierspiel zu vier Händen und für den Austausch über Gelesenes und religiöse Fragen gefunden und konnte uns überleben helfen. Sie unterstützte uns nach Kräften in christlicher Nächstenliebe gab uns Teller und Tassen, Decken und Essen.
Auch der Bauer hatte uns Kinder gern, seine 15jährige Tochter liebte uns. Ich war gern und oft auf dem Hof und hatte das Gefühl akzeptiert zu werden.

Ich hoffe sehr, dass auch die heute aus existenzieller Not in unser Bundesland Kommenden Menschen finden, die sich ihrer annehmen – auch im Kreis Grevesmühlen.