“Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt,
die man fragen kann, sondern nur noch Quellen” – Katja Petrowskaja
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- Vorbemerkung
- Wirtschaftsflüchtling Christian Georg Burmeister
- Reisebeginn
- Danzig
- Marienburg
- Litauen – Vilnius
- Lettland
- Sprache der Deutschbalten
- Livland
- Cesis und Fahrt nach Dorpat
- Umsiedlung der Deutschbalten
- Deutschbalten nach der Staatsgründung
- Dorpat – die Stadt
- Tallinn
- KZ Klooga
- Fahrt nach Riga
- Das Leben und Zusammenleben der Deutschbalten
- Begegnungen mit der Stadt
- Die Moskauer Vorstadt und Russen in Riga
- Kurland
- Talsen
- Das Pastorat Talsen
- Lutherische Kirche in Lettland
- Kurland und Livland
- Multikulti in den Ostseeprovinzen
- Eltern
- Noch einmal Kurland und dann heimwärts
Vorbemerkung
Brigittes französische Freundin Nicole hatte die Idee einer gemeinsamen Reise in die Baltischen Länder. Wir einigten uns auf eine Fahrt mit dem Auto, zunächst durch Polen, dann unter Umfahren der russischen Exklave Kaliningrad nach Litauen. Anschließend sollten die Städte Tartu und Tallinn in Estland besucht werden, mehrere Tage wollten wir in Riga bleiben, dann durch die lettische Region Kurland von Ventspils über Liepaja nach Klaipeda fahren, von dort aus das Thomas-Mann- Haus auf der Kurischen Nehrung besuchen und durch Polen nach Hause zurückkehren.
In Riga war Brigittes Mutter aufgewachsen, mein Vater studierte in dieser Stadt. Meine Mutter hatte in Talsen (Talsi) gelebt, dort heirateten meine Eltern vor 75 Jahren. Wir waren deutsch-baltisch erzogen worden, mit dem Klang baltischer Mundart aufgewachsen, mit Gerichten und Bräuchen seit Kindertagen vertraut. Baltische Küche verschönerte auch später verschiedene Festtage, sonst aber hatten wir zunehmend eine kritische Distanz zum Baltischen gewonnen. Mit dem Alter milder geworden, nahm mein Interesse an unserer Herkunft zu. Daher waren wir – Brigitte und ich – elf Jahre zuvor bereits für ein paar Tage in Riga, Talsen und Ligat gewesen. Damals waren wir relativ unvorbereitet ins Flugzeug gestiegen. Einen Reiseführer hatten wir gekauft, im Übrigen stammte unser Wissen über das Land aus den Erzählungen unserer Eltern. Meine Eltern und eine Tante hatten Lebenserinnerungen geschrieben1Elisabth Burmeister, Herta Martinelli: Erinneringenn an Talsen, bjb, 2018, die ich vor der jetzigen Reise – lange nach ihrem Tode – zur Hand nahm und intensiv las. Fragen nach historischen Ursachen für die baltischen Besonderheiten taten sich auf, nach ihrer Wahrnehmung durch Menschen anderer ethnischer Herkunft, nach dem freiwilligen Verlassen ihrer Heimat 1939. Erst jetzt wurde mir das Leben unsere Eltern in einer Parallelgesellschaft, in einer Minderheit innerhalb einer ihnen fremden Mehrheit von Mitbürgern deutlich. Dieser hatten sie oft abwehrend gegenüber gestanden, bedacht auf den Erhalt ihrer deutschen Identität und ihrer Privilegien. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine (2014), die neuen Spannungen zwischen Russland und dem Westen weckten zusätzlich mein Interesse an osteuropäischer jüngster Geschichte.
Diese Reise begann besser vorbereitet als die frühere, mit den Aufzeichnungen meiner Vorfahren und mit Literatur zur baltischen Geschichte auf dem Tabletrechner. Während der Reise stellte Nicole viele Fragen, die wir nicht beantworten konnten. Zurückgekehrt versuchte ich, Antworten auf die Fragen zu finden, las viel und fuhr im Juni 2015 zusammen mit meinem Bruder noch einmal nach Lettland, dieses Mal nur mit der Suche nach Spuren unserer Familie beschäftigt.
Wirtschaftsflüchtling Christian Georg Burmeister
Wir machten den Weg von West nach Ost wie im Jahr 1787 mein Vorfahr Johann Christian Georg Burmeister auf der Suche nach einem besseren Leben in Russlands baltischen Provinzen. Er – 1758 während des Siebenjährigen Krieges in Crivitz (Herzogtum Mecklenburg) geboren – versuchte, sein Glück in einem fremden Land zu finden. Zarin Katharina II. hatte im Jahr 1763 alle Ausländer eingeladen, “ in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen“.
Warum ging auch Johann Christian? Gründe kann man nur vermuten: Den meisten Mecklenburgern geht es schlecht in dieser Zeit. Es ist Krieg, ein erster Weltkrieg. Er wird in Portugal, Nordamerika, Indien, in der Karibik, auch auf den Weltmeeren ausgefochten. In Preußen nennt man ihn den Dritten Schlesischen Krieg. Es geht um die Vorherrschaft in Mitteleuropa, unmittelbare territoriale Interessen treiben die Kriegführenden an. Preußen hatte Schlesien gewonnen und wollte dort nicht wieder weg, Maria Theresia war jedoch daran gelegen, das Land zurückzuerobern. Zarin Elisabeth begehrte Semgallen und Kurland, Länder, die wie Westpreußen zu Polen gehörten. Auch soll sie durch “eine nachtheilige Aeußerung Friedrichs über ihren Privat-Charakter höchlich beleidigt” 22Johann Wilhelm von Archenholz, Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland, 1791 gedruckt bey Johann Thomas Edlen von Trattnern gewesen sein. Man verbündete sich. Der König von Polen und Kurfürst von Sachsen August III. trat dem Bündnis bei. Ludwig XV. von Frankreich kam hinzu, Schweden ebenso. Die Schweden hielten Vorpommern besetzt, ebenso Wismar mit Poel, auch Neukloster. Ein Kriegsgrund wurde gesucht und gefunden. Friedrich II von Preußen stritt sich mit Mecklenburg-Schwerin über die Rekrutierung seiner Truppen. Irgendwie sah man Vereinbarungen des Westfälischen Friedens verletzt. Mecklenburg-Schwerin war selbständiges Herzogtum, Friedrich II. von Preußen gefiel das nicht, er hätte es gern für sich. Auch Sachsen zu haben, wäre schön für ihn – schon als Kronprinz träumte er davon. Für Mecklenburg war die Lage beim Ausbruch des Krieges zwischen Preußen, Sachen und Österreich im höchsten Grad gefährlich. Der Regensburger Reichstag konnte jeden Staat zwingen, sich auch ohne eigenen Antrieb aktiv am Kriege zu beteiligen. Mecklenburgs Herzog Friedrich, sein Volk nannte ihn den Frommen, wollte nicht hineingezogen werden. Nach Meinung von Zeitzeugen verabscheute der fromme Friedrich Gewalt und Unrecht. Ihm widerstrebte Blutvergießen, selbst im gerechtesten Krieg. Doch Preußen drangsalierte die Mecklenburger. Durch die sogenannte Reichsexekution befanden sich preußische Truppen in Mecklenburg, die Rekruten von der einheimischen Bevölkerung pressten. In Friedrich von Preußen sah Herzog Friedrich von Mecklenburg den Störer des europäischen Friedens und stand ganz auf der Seite Österreichs und seiner Verbündeten. Er versprach sich eine Lösung all seiner Probleme, sollte Preußen unterliegen. Es ging aber für Mecklenburg böse aus: Das Land verarmte, es folgten schlechte Ernten, Hungersnot, Krankheiten, denn auch die Natur wandte sich gegen die Menschen im Lande. Im Juni 1783 brach der Vulkan Lakti auf Island aus. Das Wetter wird verheerend schlecht. Zunächst Hitze mit „beständigem Rauch in der Luft, so als die Sonne ganz verfinstert aussah“. Früher Winter, grimmige Kälte bis in den April. Kein Futter für die Tiere. Überschwemmungen im Frühjahr an der Elbe. Menschen kamen ums Leben. 1784 und 1785 war es nicht besser. Harte Winter und Hunger: „Der ganze Sommer war traurig; kalt und fast beständiger Regen, zuweilen große Wassergüsse, daher auch allenthalben groß Wasser. An vielen Orten konnte gar nicht gemäht werden, noch weder Gras noch Korn, alles stund unter Wasser. Bei Sukow und Neuhaus an der Suden bei Breeden an der Elbe und so in vielen anderen Gegenden. Die Ernte war nicht nur spät zum teil bis gegen Michaelis und nach Michaelis sondern auch höchst traurig. Der Roggen musste 5 Wochen im Regen liegen und war alles ausgewachsen. Wegen Heu und Kornmangel war die Not allenthalben groß. Der Bach hier ging immer über. Gegen Michaelis war noch nichts herein, ich selbst konnte auch keine Hand voll winden und wenn ja mancher was herausgefahren hatte aufs Trockene, so war doch kein Wetter zum Trocknen und überdem kam auf den 26 ten September ein großer Sturm, der die Haufen auf dem Felde all verstreute, dass auch das noch leider verloren ging. Die Wege und der Acker waren so tief als über alle Massen. An Säen konnte auch vor Michaelis keiner gedenken, der Acker war ganz morastig“, schrieb ein Mecklenburger Pfarrer in sein Tagebuch 3Wetterbericht des Pastor Friedrich von Camin b. Wittenburg. Angesichts all dessen wird sich Christian Georg gedacht haben: „ Wat Beters as den Dood finnst du överall “ wie die Bremer Stadtmusikanten zum Hahn sagten, der für den Kochtopf vorgesehen war.
So ging er – heute würde man sagen – als Wirtschaftsflüchtling aus seiner Heimat mit der Absicht, ein besseres Leben zu finden.
Reisebeginn
Wir fuhren mit dem Auto. Christian Georg kam irgendwie voran. Von Crivitz nach Rostock oder Stettin zu Fuß? Auf dem Seeweg von dort nach Riga? Oder auf dem Landweg durch das Königreich Polen? Es ist nicht überliefert.
Zu Beginn unserer Reise war das Wetter nach einem wundervollen Frühjar kalt und nass. Auf der Ostseeautobahn umfuhren wir Stettin. Ich dachte an den ersten Besuch in dieser Stadt in den 70er Jahren, mehr aber noch an meine Eltern, die hier in der Nähe im November 1939 staatenlos abgeladen wurden, um später am Rande Posens eine polnischen Menschen gestohlene Gärtnerei zu okkupieren, Kinder zu bekommen, Bürger Nazideutschlands zu werden.
Hier endete 1939 die mehr als 700jährige Geschichte der Deutschen im Baltikum. Sie sollten die „Blonde Provinz“ – das eben von Polen eroberte „Wartheland“ – in ihre Hände nehmen und sich in geraubtem polnischen oder jüdischen Eigentum einrichteten. Sie taten es, meistenteils im Bewusstsein eines ihnen angeblich zustehenden Rechts, selten mit Scham. Nach dem Inkrafttreten des Hitler-Stalin-Paktes, der Rede Hitlers am 6. Oktober zur “Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten”, wurde die sogenannte “Rückführung der Baltendeutschen” beschlossen. Dem folgte der Umsiedlungsbeschluss der Deutschen Fraktion im lettischen Parlament. Die meisten Deutschbalten hörten den Ruf „Heim ins Reich“ und gehorchten mehr oder weniger willig.
Eine Frage verfolgte mich auf der ganzen Reise: Wie kann es geschehen, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe geschlossen ihr Heimatland verlässt und ins Ungewisse geht, trotz ihrer starken emotionalen Bindung an die Heimat alles aufgibt und trotz christlicher Erziehung anderen offensichtliches Unheil bringt? Wie waren sie, die Deutschbalten? „...die behagliche Breitwürfigkeit des Lebenszuschnitts mochte manchen Fremden phäakisch anmuten. Über der breiten Masse eingeborener Bevölkerung stand eine zahlenmäßig geringe, in jedem anderen Betracht aber ausschlaggebende deutsche Oberschicht von aristokratisch-patrizischer Artung, durch Jahrhunderte gewohnt, herrenmäßig sich zu behaupten und, bei aller Festigkeit ihrer Gemeinschaftsfundamente, großherzig immer wieder Menschen von äußerster Unabhängigkeit und Unbefangenheit, ja Einzelgänger und Eigenbrödler in sich zu dulden und aus sich zu entwickeln” 4 Baltische Köpfe, Baltischer Verlag, Bovenden, 1958, Nachwort “Bekenntnis zur Höhle” von Wernen Bergenguen. So sah es Werner Bergengruen, und so sahen Deutschbalten sich selbst: großherzig, bescheiden, mitmenschlich, patriachalisch-zugewandt und verantwortlich für das Wohlergehen der ihnen Anvertrauten, der mit ihnen lebenden indigenen Mehrheit. Manches davon haben wir Nachkommen an Eltern und Verwandten bemerkt, auch geliebt, vieles jedoch als Wunschbild der Altvorderen erkennen müssen.
Danzig
Danzig war zu der Zeit von Christian-Georgs Reise Freie Stadtrepublik unter polnischer Oberhoheit, wurde aber von Preußen bedrängt und belästigt. Zeitgenossen beklagen den Druck durch Zölle und die Einflussnahme Preußens. Die Versorgung der Armen hatte sich verschlechtert. „Immer lästiger in dieser bedrängnisvollen Zeit die täglich größer werdende Zahl der Straßenbettler…“ Mit Handel und Gewerbe ging es bergab. Berichte der Zeit ließen mich annehmen, dass unser Vorfahr in Danzig nicht bleiben wollte.
Wir verbrachten hier noch den nächsten Vormittag bei unangenehmem Wetter, dennoch wollten wir einen Eindruck von der Altstadt gewinnen. Wie alle Touristen schlenderten wir am Zeughaus (Wielka Zbrojownia) vorbei durch die Piwna. Ich – schlecht zu Fuß – setzte mich in ein Café, Nicole und Brigitte sahen sich in der Stadt um. Das Zeughaus, 1600 bis 1609 gebaut, ist ein Prachtbau, den der junge Mann aus Crivitz in Mecklenburg – sollte er hier gewesen sein – angestaunt haben muss, gewaltig auch die Marienkirche, mit dieser verglichen der Schweriner Dom, den er kannte und dem damals der Turm noch fehlte, ärmlich wirken musste. Er wird ohne Eintrittsgeld hineingekommen sein. Brigitte und Nicole mussten jedoch zahlen, die bettelnde Zigeunerin, die mit ihren Kindern im Eingangsportal Schutz vor dem Regen suchte, konnte es nicht und wurde von guten Christenmenschen verjagt. Im Café belehrte mich der Reiseführer über die wechselvolle Geschichte der Hansestadt nach 1785, über die zweite Teilung Polens 1793, durch die Danzig preußisch geworden war, über das für die Stadt verhängnisvolle Jahr 1806, in dem die Schweden den Hafen blockierten und die Royal Navy alle preußischen Schiffe beschlagnahmte.1807 wurde Danzig erneut Freistaat. Anschließend das Hin und Her in den Kriegen mit Napoleon, der Wiener Kongress, der Danzig wieder preußisch machte, Überschwemmungen 1829, Cholera 1831, Großbrand 1858. Ab 1878 war Danzig Hauptstadt der Provinz Westpreußen.
Marienburg
Mittags verließen wir die Stadt, wollten abends Vilnius erreichen. Dort hatten wir am Vorabend ein Hotelt gebucht. Wir sollten eigentlich zügig fahren, um die fast 600 km Landstraße hinter uns zu bringen, machten aber Halt in Malbork, um die Marienburg zu besichtigen, ein Bauwerk des Deutschen Ordens, des „Ordens der Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens in Jerusalem“. Die Deutschbalten glaubten, in direkter Linie mit dem Orden verbunden zu sein. Dessen mittelalterliches Wappenschild wurde auch ihr Wappen. Im Weichbild dieser Burg sollten und wollten sie nach 1939 wieder siedeln. Die Vertreibung der dort Ansässigen nahmen sie in Kauf, in Treuen fest, dieses Mal zum Führer.
Immer noch war es kalt, der Parkplatz entfernt von der Burg. Wir begnügten uns mit dem Anblick von weitem, fotografierten und fuhren weiter durch Masuren: kleine Straßen zum Teil, Dörfchen, malerische Alleen. In Biskupiec – deutsch hieß der Ort einmal Bischofsburg -, einer Stadt im historischen Ostpreußen, machten wir Rast. Brigitte notierte: “17 Uhr Einkehr am Markt – Na Rynku – Nicole und ich essen Ente und Apfel mit Moosbeeren, Jörn Rindersteak”. Dann die Weiterfahrt nach Vilnius durch die masurische Seenplatte über Mikolaiki, Elk, Suwalki. Hügelige Landschaft, viele Seen, Siefried-Lenz-Land. Wir dachten an die Geschichten aus Suleyken. EIn Land aber auch mit schrecklicher Geschichte: von der Tannenbergschlacht 1410 über die sogenannte „Schlacht von Tannenberg “ im ersten Weltkrieg 1914 bis zum Führerhauptquartier Wolfsschanze und den Schlachten des Zweiten Weltkriegs.
Litauen – Vilnius
Kurz hinter Suwalki überquerten wir die Grenze nach Litauen. Heute kann diese ohne Kontrollen passiert werden, Litauen gehört zur EU und zum Schengenraum, wir wussten es erst, als kein Grenzposten unsere Fahrt stoppte. Wann wird man auch hier wieder Zäune aufgebaut haben, die „Fremde“ abhalten sollen, fragten wir uns.
Bewohner dieses Landstrichs waren im Laufe der Geschichte Untertanen wechselnder Herren, des Deutschritterordens, dann von 1569 bis 1795 Untertanen der Großfürsten Polen-Litauens. Nach der Dritten Teilung Polens waren Preußen hier die Herren, 1807 wieder der polnische Herzog und ab 1815 herrschte der russische Zar. 100 Jahre später gehörte das Land zur zweiten Polnischen Republik, dann sind die Bewohner wieder deutsche Bürger, zwischen 1922 und 1939 sind sie Polen, dann Sowjetbürger, heute Bürger der Republik Litauen. Vilnius war von 1922 bis zum Einmarsch der Roten Armee 1939 Hauptstadt einer polnischen Wojewodschaft mit geringem Anteil litauischer Bevölkerung (circa 2 %) und einer Mehrheit ethnischer Polen und Juden. Noch heute bezeichnen sich etwa achtzehn Prozent der Bewohner als Polen, und im Umland von Vilnius stellt die polnische „Minderheit“ die Mehrheit.
Spät abends erreichten wir das Hotel. Die Zeit schien eine Stunde weiter als auf unseren Uhren zu sein. Wir waren uns nicht einig und erst sicher, als wir eine einheimische Uhr sahen. Wir versuchten erfolglos, noch etwas zu essen oder trinken zu finden. Die Hotelfrau hat Wasser zu verkaufen, sonst nichts. Zum Hotel gehörte ein kleines Restaurant, das für uns am Morgen ein gutes Frühstück bereithielt. Danach konnten wir zufrieden aufbrechen. Vorher wollten Nicole und Brigitte noch durch ein paar Gassen der Innenstadt gehen, suchten das Denkmal von Elijah Ben Salomon Salman, eines jüdisch-aschkenasischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts. Er hatte Vilnius als Litauisches Jerusalem bekannt gemacht. Wir fanden das Jüdische Viertel, das über tausend Jahre hindurch ein Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Gelehrsamkeit war, eines der bedeutendsten in Europa.
Nicole und Brigitte standen bald vor dem kleinen Denkmal des Arztes Zemach Shabad (1864-1935). Dargestellt ist er mit einem Kind, das ihm eine Katze zur Heilung bringt. Zemach Shabad war nicht nur als Mediziner ein Wohltäter, sondern auch als Sozialpolitiker und Sejm- Abgeordneter der Yidishen Folkspartei hilf- und einflussreich. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren ein Drittel der Bevölkerung Juden, vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa 100.000 von ihnen in der Stadt, heute fast keine mehr.
Wir fahren aus der Stadt. Heute haben wir Zeit. Vom Ziel Sigulda in Lettland trennen uns nur 350 km. Nicole schlägt vor, die Wasserburg in Trakai anzusehen. Es ist nur eine kurze Fahrt dorthin. Trakai war einmal Hauptstadt Litauens, im 14. und 15. Jahrhundert Residenz der litauischen Großfürsten. Die Burg liegt inmitten dreier Seen, günstig, die ständigen Angriffe der deutschen Ordensritter abzuwehren. Nach der siegreichen Schlacht bei Tannenberg 1410 verlor die Burg ihren Verteidigungswert und bereits im 16. Jahrhundert sperrte man hier nur noch unliebsame Edelleute ein. 1655 wurde sie von Russen zerstört und verfiel bis ins 20. Jahrhundert. In den 1980er Jahren wurde sie neu aufgebaut, um von den tapferen litauischen Vorfahren zu künden.
Die Backsteinfassade der Burg sahen wir – vor dem unwirtlichen Wetter geschützt – von einem Restaurant aus. Dort machten wir eine neue kulinarische Erfahrung: Saltibarsciai (gesprochen Schaltibarschtschiai), eine kalte Suppe aus Kefir und Roten Beeten, serviert mit warmen Kartoffeln – gut
Lettland
Unter grauem Himmel ging es weiter nach Norden. Die Landschaft änderte allmählich den Charakter. Zuerst noch viele Weiden ohne Kühe in plattem Land. Je weiter wir nach Norden kamen umso waldreicher wurde es. Zwischen Litauen und Lettland wieder keine sichtbare Grenze, nur ein Hoheitszeichen des neuen Landes.
Wir verließen die Autobahn, fuhren auf kleinen Straßen an einem Stausee entlang durch Oberkurland, dann durch Lettgallen, meistenteils durch Wälder. Es gab wenig Ortschaften, das Land ist fast menschenleer. Hier soll in alten Tagen eine sehr gemischte Bevölkerung gelebt haben, bestehend aus Letten, Litauern, Polen und russischen altgläubigen Orthodoxen, der nachgesagt wird, dass sie „Pferdediebstahl, Straßenraub und Branntweinschmuggel allen übrigen Beschäftigungen vorziehe “. Und weiter heißt es bei meinem Gewährsmann aus dem 19. Jahrhundert: „Der abweichende Charakter dieses verkommenen Winkels theilt sich zuweilen selbst dem Adel mit, der sonst ein rein deutsches Gepräge trägt; der oberländische Baron hat in vielen Fällen etwas von der Wüstheit des polnischen Pan, mit dem er stete Berührungen nicht vermeiden kann, und die Frische und Derbheit der kurischen Natur artet hier häufig zur Rohheit und ungezähmter Wildheit aus“5Julius Eckardt: Die baltischen Provinzen Rußlands, Politische und culturgeschichtliche Aufsätze, Leipzig 1868, Hier hat mein Vorfahr Christian-Georg sein eigenes Gut Schmieden erworben, nachdem er zunächst in der Nähe von Dorpat, im estnischen Hellenorm (Helenurme) am Peipussee (Rasina, Mooste, Estland) als Pächter gearbeitet und offenkundig gutes Geld verdient hatte. Wie er kamen viele Deutschbalten ins Land, besiedelten es, nutzten die Privilegien, die schon die Schweden ihnen verliehen hatten und die Zar Peter I. weiter garantierte.
Ab 1721 nach dem Frieden von Nystadt waren die Provinzen Livland und Estland von Schweden an Russland gegangen. Fast 200 Jahre lang gab es keinen Krieg mehr auf dem Boden der baltischen Provinzen, wenn es dort auch nicht immer für alle gemütlich war. Besonders nicht für die lettischen und estnischen Leibeigenen und Bauern. Peter I. nahm wegen seiner Vorliebe für westliche Kulturerrungenschaften gern Deutsche in seinen Dienst, ebenso hielten es seine Nachfolger. Diese ruhige Zeit muss die folgenden Generationen von Deutschbalten geprägt haben, ihre Sprache, Küche, Eigenarten, Charakterzüge wie Standesdünkel und politischer Konservatismus, Festhalten an überkommenen Sitten und Gebräuchen, Ablehnung von allem, was den statischen Charakter ihrer Lebenswelt tangieren könnte. Diese festen Anschauungen wurden in der lutherischen Kirche und den Studentenverbindungen sozial kontrolliert und somit weitgehend verinnerlicht.
Sprache der Deutschbalten
Wir waren im Land unserer Vorfahren. Jetzt hätte ich gern meinen Vater hier gehabt, um Fragen nach dem „Früher“ zu stellen, die Antworten in der den Deutschbalten eigenen Sprache zu hören, eine Sprache, die Deutschen im Reich merkwürdig vorkam, deren Ausdrücke vielfach nicht verstanden wurden und “an der Balten selbst bei Orkangeräuschen auf Meilen gegen den Wind zu erkennen waren” 6Patrick von zur Mühlen: Baltische Geschichte in Geschichten, Tallinn 2012. Einfluss auf diese Sprachfärbung soll das Niederdeutsche gehabt haben. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in den baltischen Ostseeprovinzen durchaus noch Platt gesprochen, habe ich gelesen, nicht verwunderlich, kam doch ein Großteil der deutschen Einwanderer aus dem niederdeutschen Sprachraum, aus Westfalen, Bremen, Hamburg, Lübeck, Mecklenburg. So hatte es mein Vorfahr gewiss nicht schwer, sich verständlich zu machen, denn ich gehe davon aus, dass Hochdeutsch ihm fremd war.
Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich ein eigenes Idiom entwickelt, mit einer eigentümlichen Sprachmelodie, speziellen Ausdrücken unterschiedlichen Ursprungs, sei es aus dem Lettischen oder Estnischen, dem Jiddischen oder Russischen. Begriffe, die meine Eltern gebrauchten, wurden nach der Flucht in Mecklenburg oftmals nicht verstanden. Mein Bruder hat einen fiktiven Satz erfunden, der – natürlich so nie gesprochen – eine Reihe idiomatischer Ausdrücke zusammenfasst: “Wai Erbarmung, Kinderchen, wir müssen uns doch auch um solche Paschpuiken (Straßenjungen) kümmern, die in ihren abgekankerten (schäbigen) Lupatten (Lumpen) auf der Straße herumdammeln (herumlungern) oder sich völlig bedripst (beklommen) in die Buschkaden (ins Gebüsch) schlagen, auch wenn darunter so mancher Knot (ungehobelter Mensch) sein sollte. Mir wird ganz koddrig (übel), wenn ich das besehe.“ Wir kannten auch „Goggelmoggel“ (mit Zucker schaumig geschlagenes Eigelb) und „Komm-Morgen-Wieder“ (gerollte Eierkuchen mit Fleischfüllung), wir wussten, dass „Manna“ Griesbrei ist, „Bubbert“ eine wunderbare Süßspeise und ein Zubiss zum Schnaps „Sakuska“ heißt. Wir aßen gern „Schmalunz“ (geschlagenes Obstmus) oder “Kissell” (Fruchspeise) und ein „Ochsenauge“ (Spiegelei), bekamen aber niemals wirklichen „Schmantschaum“ (Schlagsahne), einen Luxus, den man sich nach dem Kriege nicht leisten konnte. Wir freuten uns jedoch, wenn unsere Mutter „Gelbbrot“ (Rosinenbrot mit Safran) gebacken hatte.
Wenn ich Siegfried von Vegesack lesen höre, meine ich, mein Vater spricht.
Siegfried von Vegesack liest einen Ausschnitt: “Woran ich glaube”
Das deutsche Idiom war in Riga bis zur Russifizierung 1880 durch Alexander III. die Sprache der Stadt – jedenfalls die ihrer gebildeteren Einwohner unabhängig ihrer ethnischen Wurzeln. Auch in der Provinz war Deutsch die Sprache der Gebildeten, selbst in Petersburg. Aber schon 1850 gab es Versuche durch das offizielle Russland, Russisch zur Amtssprache zu machen, ohne jedoch das Deutsche aus den ständisch geprägten Behörden und Gerichten zu verbannen, wie es später geschah.
Livland
Am Abend erreichten wir das Hotel Aparjods in Sigulda (Segewold) – eine schöne Anlage aus einzelnen Holzhäusern, wie sie traditionell in Livland und Estland seit Generationen gebaut wurden, mein Vater erzählte: ohne den Gebrauch eines einzigen Stahlnagels. Am nächsten Morgen nach einem guten Frühstück im leerem Restaurant fuhren wir nach Cesis – Wenden. Auf dem Weg dorthin bogen wir von der Straße nach Ligat zur Papierfabrik ab, dem Ort der Kindheit und Jugend meines Vaters. Wir nutzten den von ihm beschriebenen Weg zur Fabrik. „In der Zeit meiner Kindheit spielte sich denn auch die Ankunft eines Gastes etwa so ab: Man entsteigt dem Zug und tut gut daran, nicht die Seite nach dem Bahnhofsgebäude hin zu benutzen, sondern entgegengesetzt aus dem Abteil zu klettern, denn nur hier befindet sich, um einen großen Umweg zu ersparen, die Anfahrt der Equipagen. Meistenteils wird es eine Kalesche gewesen sein, ein Gefährt mit aufklappbarem, nach vorn offenem Verdeck. Auf dem Bock sitzt in guter Haltung der Kutscher in blauer Livree und lenkt zwei muntere, gut eingefahrene und genährte Braune aus dem Bestand der Fabrik. In Bahnhofsnähe sieht der Gast kleine Gehöfte, Holzhäuser mit primitiven Nebengebäuden. Dort wohnen arme Häusler, die sich von einer kleinen Landwirtschaft mühsam ernähren und nebenbei größtenteils Lohnfuhren für die Fabrik machen. Sie fahren Steinkohle, Lumpenballen, Fässer mit Kolophonium (für die Gewinnung der benötigten „Harzseife“) oder Chlorkalk und andere Materialien, die für die Papierherstellung benötigt werden, oder bringen Papier in Rollen oder Ballen zur Bahn. Auf der ganzen Fahrt begegnet man solchen Fuhren, meist in Kolonnen, seltener als Einzelfahrer. Die Landschaft ist in Bahnhofsnähe recht flach oder leicht hügelig. Vor uns taucht eine Eichenallee auf. Sie überquert die Pflasterstraße und führt links zu einer Gruppe alter Bäume. Nachdem das Gefährt eine leichte Anhöhe genommen hat, öffnet sich der Blick ins Land hinein. Die Landschaft erhält einen neuen Charakterzug. Sie wirkt jetzt richtig hügelig. Schaut man aber genauer hin, sind in Wirklichkeit nur vereinzelte Hügel zu erkennen, der Zepurit, der Flutscheberg und mehr rechts der Baltenruh, dahinter der Aaberg. Was dem Lande aber hauptsächlich den hügeligen Eindruck gibt, sind die Flusstäler, so das weite Aatal, das Ligattal und die dazugehörigen Verästelungen der Nebentäler. Man sieht viel Wald, ja von dem hohen Standort unserer Fahrstraße aus erscheint es ein geschlossenes Waldgebiet zu sein. Der Einheimische jedoch weiß, dass sich viel Ackerland und so manche Wiese dazwischen befindet.“7Robert Burmeister: Lebenserinnerungen, bjb, 2018
Wir fuhren mit dem Auto, keinem Zweispänner oder Phaeton, passierten die Fabrik, dann ging es den Remdenberg hinauf. An der Steigung liegt das Haus, in dem mein Vater aufwuchs. Es gehörte der Fabrik, war geräumig, mit einer Veranda davor und einem Garten ringsum. Weiter hinten säumen kleine Holzhäuser der Fabrikarbeiter die Straße. Mein Vater schreibt darüber: „Die langgestreckten, eingeschossigen, beigegetünchten Holzgebäude mit flachem Satteldach lagen locker verstreut, meist als sehr kleine Gruppen nebeneinander, nur auf dem Remdenberg in Form einer kleinen Siedlung beiderseits entlang des Schlackenweges. Die Gesamtbevölkerung von Ligat wurde zu meiner Zeit auf etwa 2000 Menschen geschätzt, darunter waren mehr als 700 Männer und Frauen als Arbeiter und Arbeiterinnen, meist aus der lettischen Bevölkerung, in der Fabrik beschäftigt. Die Verkehrssprache mit den Arbeitern war deshalb auch lettisch, obwohl eine ganze Anzahl der Letten auch etwas Deutsch verstehen konnte. Das Verhältnis der Fabrikleitung zur Arbeiterschaft wies ausgesprochen patriarchale Züge auf. Die Leitung fühlte sich für das Wohl der Arbeiter verantwortlich. So hatte man verschiedene Vergünstigungen eingeführt, zu meiner Zeit bereits Selbstverständlichkeit: neben dem Geldlohn, der dem eines Industriearbeiters im Rigaer Stadtbezirk entsprochen haben mag, erhielten die Ligater Arbeiter freie Wohnung und Beheizung, wobei ihnen Brennholz zur Verfügung stand, soviel sie benötigten. Es gab freie ärztliche Behandlung und Medikamente (immerhin gab es damals noch keine staatlichen Krankenkassen). In Ligat existierten sogar ein Krankenhaus und eine Entbindungsstation, eine freie Schule für alle Kinder (im Rahmen einer Grundschule) mit freiem Schulmaterial. Auf alle Fälle aber erhielten die Fabrikarbeiter Deputate aus den Erzeugnissen der zur Fabrik gehörenden Landwirtschaft bzw. sie konnten sich einiges dazukaufen, was sie für ihr tägliches Leben benötigten und in dem zu ihrer Wohnung gehörenden Blumen- und Gemüsegarten nicht selbst angebaut hatten. Meist hielt man sich Hühner und ein Schwein, eventuell noch eine Ziege und bezog das Futter auch aus der fabrikeigenen Landwirtschaft. Zur Fabrik gehörte auch eine Badeanstalt. Bei uns hieß sie „Pirts“ und entsprach einer finnischen Sauna. Sonnabend für Sonnabend zogen die Arbeiter klappernd mit ihren Holzpantinen, in der Hand die typische flache Basttasche mit der frischen Wäsche und unter dem Arm die Birkenrute in die Badestube, eine für Männer, die andere für Frauen. Auch gab es ein Arbeiterklubhaus, das „Gesellschaftshaus“, mit großem Tanzsaal, mit einer Bibliothek, einer Kegelbahn, einem Billardzimmer und einer Gartenanlage“.
Mein Großvater hatte in Riga am Polytechnikum Chemie studiert, zu der Zeit eine bedeutende wissenschaftliche Anstalt, an der der spätere Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald zeitgleich als Ordinarius wirkte. Das Studium wurde möglich, da die Nachfahren von Christian Georg offensichtlich relativ schnell zu einigem Wohlstand gekommen waren. Durch welche Lebensstationen sie gegangen sind, war mir unbekannt, jedenfalls war mein Urgroßvater, ein direkter Nachkomme Christian Georgs, bereits Ältester der Rigaer Großen Kaufmannsgilde.
Mein Vater wuchs in zunächst sicheren wirtschaftlichen Verhältnissen auf, mit Kindermädchen, Privatlehrer und deutschen Spielkameraden. Kinder lettischer Arbeiter wohnten nur einen Steinwurf entfernt. In seinen persönlichen Schilderungen wie auch in seinen Lebenserinnerungen kamen sie nicht vor, wohl aber das lettische Kindermädchen, an dem er sehr hing. Das war typisch: Die Deutschen blieben unter sich, abgegrenzt von anderen ethnischen Gruppen. Letten dienten ihnen, Juden gab es, meist als Kaufleute, die man brauchte, ohne ihnen nahezukommen. Über persönliche Beziehungen zu Letten oder Juden schreibt auch meine Mutter nichts, obwohl sie im Elternhaus eines Gärtners aufwuchs, dessen Kunden zum größten Teil nichtdeutscher Herkunft gewesen sein mussten. In adligen Häusern galt, was ich bei Alexander Steenbock-Fermor las. Wenig älter als mein Vater, wuchs er als Nachkomme eines hochadligen Geschlechts ganz in dessen Nähe auf: „Eine Beziehung zur lettischen Bevölkerung gab es nicht… ein Balte gehörte keinem Volk an, nur einer ‘oberen’ Volksschicht “ 8Alexander Graf Stenbock-Fermor: Der rote Graf. Autobiographie. Berlin 1973. Seit Jahrhunderten lebten Deutsche als Herren im Land, von den jeweiligen russischen Herrscherhäusern mit Privilegien ausgestattet. Adlige, in Ritterschaften vereinigt, leiteten die kommunalen Angelegenheiten, erhoben dafür Steuern. Ihnen unterstand die Polizei und Gerichtsbarkeit, Steenbock-Fermor nennt es „Adelsdemokratie“. Diese Ordnung sah man als gottgegeben an. Zwar hatten die Deutschen nach 1885 ihre ständischen Privilegien teilweise aufgeben müssen, aber das hinderte sie nicht, sich weiterhin als legitime Herren des Landes zu fühlen, entsprechend der Accordpunkte von 1710 und der Zusicherung der Privilegien durch Zar Peter I., bei deren Unterschrift in Riga 1712 er bezüglich der Deutschbalten Rechte beteuert haben soll, er wolle sie einhalten: „By Gott, Ick will’t houden“ 9Patrick von zur Mühlen: Baltische Geschichte in Geschichten, Tallinn 2012 Lettische Emanzipationsbestrebungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sahen die Deutschen zunächst mit Erstaunen, dann Empörung, als sich 1905 während der Revolution Letten auch mit nationalen Forderungen meldeten. Die Einführung einer neuen russischen Städteordnung 1877 war ein Schock für die deutschen Eliten. Ständische und ethnische Ordnungsprinzipien waren dahin, eine von „ungebildeten“ Besitzenden gleich welcher Herkunft gewählte Duma begann mit der Ausübung legislativer Macht, auch Letten, Russen und Juden durften wählen, sofern sie Eigentum hatten. Dennoch stellten Deutsche weiterhin die Mehrheit der Wahlbürger auch noch 1913, bei sehr geschrumpftem Anteil an der Gesamtbevölkerung, fast 35 % der Abgeordneten. 1918 – im Geburtsjahr der Lettischen Republik – änderte sich für die Deutschen alles radikal: Sie wurden zur Minorität ohne Privilegien und die einstigen Untergebenen zu ihren Herren. Deutsche reagierten mit Abgrenzung, nur wenige waren bereit, bewusster Teil des neuen lettischen Staates zu sein. Die ihnen eingeräumten kulturellen und politischen Rechte genügten den meisten nicht. Eine Ausnahme war der Politiker Paul Schiemann – keine Figur allgemeiner baltendeutscher Erinnerung. Als Herausgeber der „Rigaschen Rundschau“ setzte er sich nach 1920 für eine nationale Volkstumspolitik im Rahmen des neuen Lettlands ein und engagierte sich für eine übernationale Europapolitik im Rahmen der Nationalitätenkongresse. Ihm ging es darum, „neue Rechtsformen des nationalen Zusammenlebens zu finden, die jedem Volke eine seiner geschichtlichen Bedeutung angemessene Existenz sichern” 10 Hans von Rimscha: Paul Schiemann als Minderheitenpolitiker, in Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 4 (1956), 1 und dies im Rahmen der jeweiligen staatlichen Gegebenheiten.
Cesis und Fahrt nach Dorpat
Wir fuhren weiter nach Cesis (Wenden). Eine kleine Straße führt an der Gauja (Aa) entlang. Wenden ist eine alte Stadt, im 13. Jahrhundert gegründet vom Schwertbrüderorden (Fratres miliciae Christi de Livonia, Brüder der Ritterschaft Christi von Livland). Die Burg war Hauptsitz des Ordens bis in das 16. Jahrhundert. 1577 soll sich die Besatzung mitsamt Burg in die Luft gesprengt haben, um die Belagerung durch Truppen Ivans des Schrecklichen zu beenden.
Die Farben der lettischen Fahne sollen hier ihren Ursprung haben. Nach Überlieferungen wurde hier einst ein lettischer König im Kampf gegen fremde Eindringlinge verwundet. Als er sich auf die weiße Flagge der Kapitulation legte und starb, färbte sein Blut die Fahne rechts und links seines Körpers in tiefem Rot. Da, wo der Körper des Königs lag, blieb das Banner weiß. Seit 1270 ist das rot-weiß-rote Banner schriftlich bezeugt. Das Rot ist sehr eigenwillig und es hat sich dafür die Bezeichnung lettisch-rot eingebürgert.
Wir umrundeten die Altstadt, gingen in die Johanniskirche – ein alter Bau (1284 geweiht) mit neuem Turm aus dem 19. Jahrhundert. Die dreischiffige Basilika ist prächtig, wenn auch der Zierrat ausgefallen.
Wir wollten an diesem Tage noch nach Estland und in Tartu (Dorpat) in einem universitätseigenen Hotel (Domus Dorpatensis) übernachten. Es erwartete uns ein gut eingerichtetes Appartement am Rathausplatz (Raekoja plats) in einem der ältesten Häuser. Auf dem Platz bauten junge Leute eine Bühne und wir konnten nicht an das Haus heranfahren, sondern mussten etwas abseits parken. Nicole und Brigitte gingen einkaufen, ich umrunde humpelnd den Platz.
Im Hause finden wir ein gemütliches Café (Noir) für unser Abendbrot und reden über Baltendeutsche. Warum sind sie nicht nach der Aufforderung „Heim ins Reich“ im Lande geblieben, was hat sie veranlasst, ihre Heimat, die ihnen so am Herzen lag, zu verlassen? Wie kann es sein, dass innerhalb weniger Wochen der größte Teil einer Landsmannschaft ein Land verlässt, nicht als Flucht, sondern geplant, mit ungeheurem Aufwand organisiert.
Der Versuch von Erklärungen meinerseits, Erklärungen, die ich gehört, gelesen, zum Teil auch einleuchtend gefunden habe, bleibt unbefriedigend.
Ich will über die Situation – besser: über die deutschbaltische Eigenwahrnehmung der Situation – Genaueres wissen, lese viel und finde im Internet die deutsch-baltischen Zeitungen im Faksimile11LNB Digital Biblioteka, Periodika – Rigasche Rundschau, Jahrgang 193912Lars Bosse: Vom Baltikum in den Reichsgau Wartheland. In: Baltendeutsche, Weimarer Republik und Drittes Reich / hrsg. Im Auftr. Der Karl Ernst von Baer-Stiftung in Verbindung mit der Baltischen Historischen Kommission von Michael Garleff., Köln, Weimar, Wien 2001., Hinweise in Aufsätzen, Büchern13 Besprechung zu 21: Klaus Ehrlich: Vom Baltikum in den Warthegau – Baltendeutsche in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Infoblatt Baltische Staaten 2(2001) . Mir wird klar, der Wille, im Lande zu bleiben und sich mit den politischen Verhältnissen anzufreunden, war nach der Gründung der Lettischen Republik unter den Deutschen gering und das hatte eine längere Vorgeschichte.
Der Verlust der ökonomischen, politisch und kulturellen Privilegien nach Gründung der lettischen Republik wog schwer. Viele fühlten sich zunehmend fremd im Land. Die Zahl der Deutschen hatte nach dem Ersten Weltkrieg stark abgenommen. Viele waren wegen der unzureichenden materiellen Lebensbedingungen in den von Deutschland besetzten russischen Provinzen ins „Reich“ gezogen, auch wenn man zunächst die deutschen Truppen mit Hurra begrüßt hatte.
Umsiedlung der Deutschbalten
Die Familie meines Vaters gehörte auch zu denen, die zeitweise im Reich ihr Auskommen suchten. Sie kam aber zurück, als es in Ligat wieder Arbeit gab und die Fabrik unter lettischen Besitzern erneut zu produzieren begann.
In den Lebenserinnerungen meines Vaters las ich über die Situation 1939: „Für uns im Baltikum, die wir zwar alle Nachrichten aus Rundfunk und Presse empfangen konnten, aber nur wenig Einblick in die inneren Verhältnisse im „Reich“ hatten, sah dann auch alles (die Besetzung Polens) sehr glänzend und begeisternd aus. So wurden die Sondermeldungen begierig aufgenommen und jeder Sieg bejubelt. Von dem, was sich hinter den Kulissen abspielte, hatten wir keine Ahnung. Wir glaubten an die Lauterkeit von Hitler, waren wir doch meist durch Propaganda der Nationalsozialisten stark beeinflusst. Wir glaubten wirklich, der „nationalen Schmach“ des „Versailler Vertrages“, der das große Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg tief gedemütigt hatte, ein erstarktes Vaterland entgegensetzen zu können. Wir sahen im „Führer“ einen „nationalen Heilsbringer“, quasi einen „Erlöser“, waren beeindruckt von dem Gedanken, einer klassenübergreifenden „Volksgemeinschaft“ anzugehören, die gegen das „jüdisch-bolschewistische Untermenschentum“ auftritt und neuen „Lebensraum“ braucht. …Schon bald nach Kriegsbeginn erreichten uns Nachrichten, dass der Staat Lettland mit der Sowjetunion paktieren würde und der Roten Armee Stützpunkte überlassen wolle. In Talsen bemerkten wir, dass das lettische Militär in Libau seine Kasernen räumte und sich bei uns einzurichten begann. Auch in unserem Hause zog ein Offiziersehepaar ein. Nun verbreitete sich auch das Gerücht, dass die Deutschen im Baltikum bedroht seien. Sie waren verängstigt und fürchteten sich, wieder in russische Hand zu geraten. Sie hatten dies lange genug ertragen müssen, vor allem als die „Bolschewiken“ nach dem Ersten Weltkrieg das Land für einige Zeit okkupiert und unter der deutschen und auch lettischen Bevölkerung ziemlich gewütet hatten. Eines Tages wurden in Talsen alle deutschen Männer zusammengerufen, und man begann, allen Ernstes darüber zu beraten, wohin man sich notfalls in Sicherheit bringen könne, z.B. auszuwandern, eventuell sich durch Litauen nach Deutschland mit Pferd und Wagen durchzuschlagen, oder sich Verstecke im Walde einzurichten… Es wurde den Baltendeutschen allmählich klar, wirklichen Schutz nur auf reichsdeutschem Gebiet finden zu können. So fiel Hitlers Aufruf, seine Landsleute „heim ins Reich“ zu holen, auf fruchtbaren Boden. Wir glaubten, dies als einzige Möglichkeit zu erkennen, um uns aus einer immer feindlicher werdenden Umklammerung zu lösen. Man wolle uns im neu eroberten Land um Posen, das jetzt die Bezeichnung „Warthegau“ führte, ansiedeln – hieß es –, uns zurückgeben, was wir zurücklassen würden, auch stünden große neue Aufgaben vor den Balten. Wir würden Deutsche unter Deutschen sein, nicht mehr bedroht von einer feindlich gesinnten Umwelt. Natürlich konnten wir die Konsequenzen einer Umsiedlung nicht völlig übersehen, erkannten allerdings, dass wir unsere Heimat aufgeben müssen. Wie sollten wir auch wissen, welche große Kluft es geben würde zwischen den Reichsdeutschen und uns, die wir durch etliche Generationen von unserem Land geprägt worden sind, ja, dass wir uns im „Vaterland“ wie Fremde fühlen würden. Auch waren wir wirklich so blauäugig, nicht darüber nachzudenken, dass anderen Menschen genommen werden musste, womit unser verlorener Besitz ausgeglichen werden sollte. Nein, dies alles konnten wir uns damals nicht vorstellen. Aber wären wir sonst geblieben? Wohl kaum. Wir kannten die Russen. Denen wollten wir wirklich nicht wieder in die Hände fallen. Das wäre weitaus schlimmer gewesen!“ 14Robert Burmeister: Meine Erinnerungen, bjb 2018
Meine Mutter schreibt dazu nichts, aber meine Tante, verheiratet mit dem deutschen Pastor der lettischen Gemeinde in Talsen Oskar Martinelli:„Mein Mann erklärte gleich, er würde nicht fortgehen und seine Gemeinde nicht verlassen. … Aber der Telefonanruf eines lettischen Rechtsanwalts macht ihm klar, dass es für die Deutschen eine Notwendigkeit sei, fortzugehen… Mein Vater hatte immer gesagt, man solle nie die Heimat verlassen, auch nicht bei politischen Veränderungen…“15Erinnerungen an Talsen, bjb 2018
Deutschbaltische Zeugnisse späterer Jahre sprechen immer von erzwungener Umsiedlung, selten von der eigenen Mitwirkung.
Deutschbalten nach der Staatsgründung
Die Deutschen bewegte die Frage, ob sich das Schicksal der Volksgruppe in den Jahren nach 1917/1918 nicht endgültig erfüllt hatte. Was bedeutete das Bleiben in den neuen nationalen Staaten? Die 20er Jahre hindurch wurde diese Frage unter Deutschen diskutiert. Für sie alle galt, die ethnische Eigenständigkeit auch unter den neuen Bedingungen zu verteidigen. Darüber war man sich einig, über das Wie aber nicht. Die einen forderten für die Volksgruppe die alten Privilegien zurück, den anderen genügten vom Staat akzeptierte Minderheitenrechte, kulturelle Eigenständigkeit, Religionsausübung, Sprache und Schulen. Als die faschistischen Bewegungen in Europa erstarkten, wurde zunächst in kleinen Kreisen, meist von baltischen Jugendlichen, eine erneute Aufwertung des Baltentums gefordert. Die Machtergreifung der Nazis in Deutschland beflügelte die sogenannte „Bewegung“, das Gedankengut der Nationalsozialisten wirkte16David Fest Abgrenzung oder Assimilation. Gefördert wurde diese Haltung durch die erstarkende autoritäre Staatsführung nach dem Staatsstreich unter Karlis Ulmanis in Lettland 1934 und Konstantin Päts in Estland. Man forderte, sich der Anerkennung eines bloßen Minderheitenstatus in Lettland entgegenzustellen und dem „Opportunismus“, sich als Bürger dieses Staates zu fühlen, ein Ende zu machen: „Wir wollen eine Bewegung organisieren, die bereits da ist und die man in den Herzen vieler spürt. Wir wollen alle die vielen Kräfte sammeln, die innerlich zur Mitarbeit bereit sind. Wir wählen aus formalen Gründen dazu den Rahmen einer Partei. Wir erklären ausdrücklich, dass wir keine Partei im hergebrachten Sinne sein wollen, keine Partei unter vielen. Wir wollen die Keimzelle einer neuen Gemeinschaft unseres Volkes bilden. Unsere Bewegung soll alle Schichten unseres Volkstums und namentlich die Jugend umfassen und innerlich lebendig machen.“17Erhard Kroeger Nationalpartei der deutschen Balten – Baltischer Landesdienst – Was wir wollen, Baltische Monatshefte 1933, S. 298-300, so der neue Führer der Bewegung Erhard Kroeger. Mit der Zeit durchdrang die nationalsozialistische Propaganda das deutschbaltische Bewusstsein. So bemerkte der aus dem Baltikum stammende Dresdner Bischof Hugo Hahn, führender Vertreter der Bekennenden Kirche Sachsens, bei seinem Besuch in der Heimat 1939: „Wir verstanden uns politisch nicht mehr mit unseren Landsleuten. Die NS-Propaganda hatte sich in der Zwischenzeit ausgewirkt. Insbesondere hatte sie die Jugend eingenebelt, aber die Alten ließen sich von der Torheit der Jugend ins Schlepptau nehmen.“18Wilhelm Kahle, Politische Fragen und kirchliche Antworten in den deutschen Volksgruppen Lettlands und Estlands 1918 – 1939, in P. Maser (Hg.): Der Kirchenkampf im deutschen Osten und in den deutschsprachigen Kirchen Osteuropas, Göttingen 1992. Die zunehmende Radikalisierung und Übernahme politischer Argumentation aus Nazideutschland, sowie die offen kirchen- und christentumsfeindliche Propaganda schreckte allerdings einige Christen im Baltikum ab. Für sie galten die Worte der Apostelgeschichte 5,29: „Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Aus diesen Kreisen kam der größte Teil derjenigen, die die „Bewegung“ im Baltikum und den Nationalsozialismus ablehnten. In einer „Kundgebung der Pastoren der Deutschen Evangelisch-lutherischen Kirche in Lettland“ wurde angesichts des erstarkenden deutschen Nationalismus hervorgehoben: „Nur Jesus Christus, der Herr der Geschichte, macht uns frei von Schuld, Tod und Verderben, aus dem uns kein menschliches Wollen und Tun, Denken und Sein erlösen kann.“.19Wilhelm Kahle, Politische Fragen und kirchliche Antworten in den deutschen Volksgruppen Lettlands und Estlands 1918 – 1939, in P. Maser (Hg.): Der Kirchenkampf im deutschen Osten und in den deutschsprachigen Kirchen Osteuropas, Göttingen 1992. Darin stimmte man mit den Grundsätzen der Bekennenden Kirche völlig überein.
Auf diese zwiespältige geistige Haltung der Deutschen im Baltikum traf die Rede Hitlers vom 6. Oktober 1939. Ziel sei nunmehr die „Herstellung einer Reichsgrenze, die den historischen, ethnographischen und wirtschaftlichen Gegebenheit gerecht wird“ und die „Befriedung des gesamten Gebiets“, die „Gewährleistung der Sicherheit“ und der Neuaufbau von Wirtschaft und Verkehr. „Als wichtigste Aufgabe aber: eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten so, dass sich am Abschluss der Entwicklung bessere Trennlinien ergeben, als es heute der Fall ist.“. Und weiter heißt es in der Rede: “Ja diesem Sinne aber handelt es sich nicht um ein Problem, das auf diesen Raum beschränkt ist, sondern um eine Aufgabe, die viel weiter hinausgreift. Denn der ganze Osten und Südosten Europas ist zum mitnichthaltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt. Gerade ihnen liegt ein Grund und eine Ursache fortgesetzter zwischenstaatlicher Störungen. Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch, zu glauben, daß man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne. Es gehört daher zu den Aufgaben einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens, hier Umsiedlungen vorzunehmen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen “. Wer Hitlers Rede aufmerksam und kritisch gehört hatte, dem konnte das umfassende völkisch-rassische Neuordnungskonzept nicht entgangen sein, das durch Vertreibungen, Deportationen und Völkermord Siedlungsgebiete für „arische“ Deutsche schaffen sollte. In einer Passage seiner Rede sprach Hitler deutlich nicht mehr nur von der „Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten“, sondern auch von einer „Ordnung und Regelung des jüdischen Problems“20Redeprotokoll der Hitlerrede vom 6.10.1939. Wenige nur wollten das unter den Deutschbalten kritisch bewerten, im Gegenteil:
„ Ich habe immer unsere baltische Aufgabe darin gesehen, Deutschlands Vorposten zu sein und Asien zurückzudrängen. Wenn unser oberster Befehlshaber uns zurückruft, so haben wir zu gehorchen, ohne Wenn u. Aber. Es erfüllt uns mit Stolz, dass wir wieder im Osten Aufbauarbeit zu leisten haben, und mit Dankbarkeit, wenn wir an unsere jungen Menschen denken, die nun endlich eine Zukunft haben… Wir sind glücklich, geschlossen siedeln zu dürfen und wieder gemeinsam arbeiten zu können…“ schreibt Brigittes Großmutter ihrer Tochter in Halle an der Saale. Dem Aufruf aber folgten auch die Kritiker des Nationalsozialismus und der baltisch-deutschen „Bewegung“, wie meine Tante Herta, ihr Mann, der Pfarrer Oskar Martinelli und meine Mutter, denn die offizielle Kirche rief dazu auf, dem Ruf des Führers zu folgen, was eine Forderung Gottes sei, wie der Bischof der deutschen lutherischen Gemeinden Lettlands Peter Harald Poelchau in der Rigaschen Zeitung schrieb: „Gott der Herr redet zu Seinen Menschen und Völkern nicht allein durch Sein Wort, sondern auch durch Seine Führung. Er hat uns in eine Stunde gestellt, in der uns keinerlei Wahl bleibt. … Die Kirche aber hat es unseren Gemeinden unumwunden zu sagen, daß wenn Gott der Herr uns jetzt vor eine unausweichliche Forderung stellt, wir aus Seinem Walten den Anruf zu vernehmen haben: …’Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in in Land, das Ich dir zeigen will.’ … Wenn Gott der Herr befiehlt, gilt keine Widerrede. Wir haben Ihm bedingungslos zu gehorchen.”21Peter Harald Poelchau, Unser Bischof an seine Gemeinden:Ev.-Luth. Kirchenblatt für die deutschen Gemeinden Lettland, Nr. 42, 13.10.1939 . Kein Kanzelwort von Unrecht, das begangen werden muss, kein Wort der christlichen Eigenverantwortung, denn Gott befahl ja, ins neue Land zu gehen. Gleichzeitig machte die “Bewegung ” Druck: “Wer sich in diesen Tagen von seiner Volksgruppe löst, um im Lande zu bleiben, scheidet sich für alle Zeit vom deutschen Volke”22Deutsche Volksgenossen, Rigasche Zeitung vom 30.10.1939 So packte man und ging wie ge- und verheißen: „In Treuen fest“. Der Pastor Oskar Marinelli allerdings weigerte sich, im Warthegau mitzuhelfen, Menschen zu vertreiben. Er suchte und fand eine Pfarrstelle in der Neumark. Auch sonst folgten nicht alle Deutschbalten dem Ruf des Führers, ca.15000 blieben. Für einige sprach Paul Schiemann und sagte in einem Interview zur Umsiedlung: „Als Deutsche, als Menschen von Ehre und Christen brauchen wir keinen Befehlen von außen zu gehorchen oder auf irgendwelche Direktiven von auswärts Rücksicht zu nehmen. Zahlreiche Leute lassen sich von der Panikpropaganda beeinflussen, die mit dem Schreckmotiv der Bolschewistengefahr und der Agitationsphrase: „wer bleibt, ist kein Deutscher!” betrieben wird. Wir, die wir beschlossen haben, vom Optionsrecht keinen Gebrauch zu machen, lassen uns u.a. von folgenden Gesichtspunkten leiten: Wir betrachten es als ein Unrecht, gerade zu einer so kritischen Zeit unsere Heimat zu verlassen und durch die Kapitalflucht im Zusammenhang mit der Evakuierung ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten herbeizuführen. Wir wollen nicht in ein Land reisen, dessen Bürgern eine Weltanschauung aufgezwungen wird, die unseren Vorstellungen von Religion, Lebensführung und Recht entgegengesetzt ist.“23Zur Umsiedlung in einem Bericht des „SYDSVENSKA DAGBLADET” über ein Gespräch mit Paul Schiemann. Er sprach nicht für alle Bleibenden, denn darunter waren auch Alte, die in der Heimat sterben wollten, und solche, die enge familiäre Bindungen zu Letten oder Esten hatten. Wieder Brigittes Großmutter: „Es spielen sich erschütternde Szenen ab: ein Teil der Familie will durchaus fahren, der andere durchaus bleiben und die gegenseitige Liebe ist doch so groß, dass sie nicht voneinander lassen wollen. Ja, es werden viele Tränen geweint, aber es wird noch viel mehr Arbeit geleistet und darin ist unsere Jugend ganz groß.“
Dorpat – die Stadt
Am nächsten Morgen frühstückten wir in unserm Appartement. In Estland gibt es ein sehr wohlschmeckendes Schwarzbrot, auch in Lettland fanden wir es, sehr dunkles Brot mit Kümmel.
Brigitte und Nicole besuchten vor unserer Weiterfahrt die Altstadt. Nach der Rückkehr berichten sie von der Universität und Johanneskirche, von der Domruine. Danach beluden wir das Auto und fuhren ab, eine Touristengruppe – offensichtlich Nachfahren von Deutschbalten – winkte uns zu, als sie unser deutsches Nummernschild sahen und fragen sich gewiss, was sich hinter dem Kennzeichen „MÜR“ verbirgt. Das Wochenende hatte in der Stadt mit einem Radrennen begonnen. Straßen waren schon abgesperrt und wir hatten Mühe, eine Ausfahrt aus der Stadt zu finden. Die Fahrt sollte uns nach Tallinn führen, doch nicht auf direktem Wege. Wir nahmen eine Straße in Richtung Narva am Westufer des Peipussee entlang. Jenseits des Sees ist Russland. Unsere Freundin Maria B. hatte Brigitte vom Badeort ihrer Kindheit erzählt, von Vösu. Den wollten wir besuchen, auf die Ostsee sehen, ein Foto machen, das Maria als E-Mail bekommen sollte. Jetzt war es sonnig und endlich wärmer geworden. Das unfreundliche Wetter blieb zurück, schöne Frühlingstage begannen. Während in Mecklenburg der Raps schon verblüht war, wurden die Felder hier gerade gelb. In Vorgärten blühte der Flieder. Vösu erwies sich als menschenleerer Ort, und es war schwierig, ein Café zu finden. Man schickte uns nach Käsmu, dort sei in einem Ferienlager ein Kaffee zu bekommen. Wir fanden den Ort, kamen zu unserer Erfrischung, das Foto wurde gemacht und nach Deutschland geschickt. Wieder war ich erstaunt, dass hier in jedem noch so abgelegenen, kleinen Lokal der frei zugängliche Internetanschluss selbstverständlich ist.
Die Weiterfahrt führte uns auf kleinen Straßen durch dichte Wälder und Wiesenlandschaften, vorbei an einzelnen Gehöften.
Tallinn
Wir näherten uns Tallinn. Auf der autobahnähnlichen Autostraße 1 fuhren wir von Osten kommend durch unschöne Industriegebiete und Vororte der Hauptstadt. Rechts der Straße auf Schienen unendliche Reihen von Tanklastzügen. Die Abhängigkeit von russischem Erdöl war sichtbar. Dann die Wohnsilos mit sozialistischer Architektur, ein Kraftwerk. Der Verkehr wurde dichter, Baustellen, Straßeneinengungen, dann leere Grundstücke, die noch auf eine Bebauung warten. Links vor uns sahen wir Türme der Altstadt, dann das Hinweisschild zum Hotel PK Ilmarne. An einem gelben Industriebau entlang führt die Straße zum Hotel, das in einer ehemaligen Fabrik sehr modern eingerichtet wurde. Links war ein Platz, ein Kreisverkehr, dahinter ein gedrungener Turm, die Dicke Margarethe.
Wir bogen rechts ab. Durch einen gemauerten Torbogen geht es auf den Parkplatz des Hotels und zum Gästeeingang. Die Straße geradeaus scheint direkt ins Meer zu führen. Es ist die Straße zur Linnahall – ein Betonkomplex, der zu den Olympischen Sommerspielen 1980 fertiggestellt wurde, das Zentrum der Segelwettbewerbe.
Da man mit unserer Reservierung irgendetwas vermasselt hat, bekamen wir nach einigem Palaver ein etwas bessere Zimmer mit kleinem Sofa, Kühlschrank und einem komfortablen Badezimmer mit Wanne. Ich sah nach dem WLAN-Anschluss, klar, er war da.
Zum Abendbrot brachen wir in die Altstadt auf und wollten keinen langen Spaziergang machen. Hinter dem Torbogen der Dicken Margarethe wendeten wir uns nach rechts, gingen eine Straße an der Stadtmauer entlang und kamen an das Old Town Hotel, von dem Maria B. Brigitte erzählte, hier sei ihr Vater immer abgestiegen. Heute wird es von Russen bewirtschaftet, wie auch das Restaurant, das wir als einzige Gäste besuchen. Wir erörterten die Möglichkeit des Boykotts einer russischen Einrichtung durch die Esten. Seit März betrachtete Russland nach einem inszenierten Referendum die Krim als Teil der Russischen Föderation. Für die Esten eine Erinnerung an 1940. Nach dem Essen – sehr russisch, mit marinierten Pilzen, Borschtsch, Knoblauchbrot, für Nicole danach Boeuf Stroganoff, für Brigitte und ich Kotelett po Kiewski – sprachen wir wieder über die Landesgeschichte, besser die Geschichte der baltischen Länder Estland und Lettland, über die berechtigten Ängste vor Russland, besonders nach dem Überfall auf die Ukraine.
Am 24. Februar 1918 wurde Estland selbständige Republik. Die Sowjetunion erkannte 1920 die Unabhängigkeit Estlands „auf alle Zeiten“ an. 1939 folgten auch hier die Deutsch-Balten dem Ruf des “Führes“. 1940 erzwang die Sowjetunion mit militärischer Gewalt erst die Stationierung von Truppen der Roten Armee, dann nach einem erneuten Ultimatum an die estnische Regierung übernahm die Rote Armee die Macht in ganz Estland. Die estnischen Streitkräfte wurden aufgelöst. Nach einer massiv gefälschten Wahl bildeten kommunistische Abgeordnete ein neues Parlament, das im Juli 1940 die Republik Estland einstimmig in Estnische Sozialistische Sowjetrepublik umbenannte, die im August 1940 als Unionsrepublik in die Sowjetunion aufgenommen wurde.
Im April 2014 hatten wir einem solchen Szenario auch im Osten der Ukraine als Zuschauer beiwohnen können.
Schon während der sowjetischen Besetzung 1940–1941 wurden aus politischen Gründen in Estland mehrere tausend Personen festgenommen, bei Kriegsausbruch in russische Gefängnislager gebracht, hunderte zum Tode verurteilt und in Estland hingerichtet. Es folgten Massendeportationen in die Sowjetunion.
Die deutsche Okkupation 1941 brachte tausenden Juden den Tod, ebenso vielen anderen estnischen Bürgern. Dennoch haben Esten in verschiedenen Truppenverbänden der deutschen Armee gedient, um – wie heute gesagt wird – gegen die verhassten Bolschewiken zu kämpfen. 1944 sind beim Vorrückenden der Roten Armee etwa siebzigtausend Menschen aus Estland geflüchtet oder als Militärs zusammen mit der deutschen Armee nach Westen gegangen.
Dem Abzug der Deutschen folgten die sowjetischen Truppen und 1949 erneute Deportationen, da viele Kleinbauern sich verweigerten, den Kolchosen beizutreten, die im Lauf der 1940er Jahre gegründet wurden. Erst nach der Landreform 1919 waren die Bauern zu Eigentum gelangt, das sie nun wieder abgeben sollten, was sie nun zu erbitterten Gegner der Kollektivierung machte.
Nach diesen geschichtlichen Erfahrungen kann es nicht verwundern, dass die neue Selbständigkeit für die Esten ein so hohes Gut und die Angst vor Russland groß ist. Ich weiß wenig vom gegenwärtigen Umgang der Esten mit ihrer russischen Minderheit, die so gering nicht ist, in Narva sind noch 95 % der Bewohner Russen, im ganzen Lande sind es ein Viertel der Einwohner. Ein Ruf estnischer Russen nach Unterstützung durch das “Mutterland” könnte für Estland fatale Folgen haben.
Ich las später: Es gab erhebliche Unruhe unter der russischsprachigen Bevölkerung, als 2007 das Denkmal des Rotarmisten aus der Innenstadt Tallinns verbannt wurde, das Esten als Symbol der Unterdrückung ansahen, Russen als das der Befreiung vom Faschismus
. Es ist in Estland und den anderen baltischen Ländern noch ein weiter Weg zu gehen, bis der Umgang mit der eigenen Geschichte geklärt sein wird, die überkommene und geübte „sowjetische“ Art der Geschichtsbetrachtung überwunden werden kann. Weil die Sowjetzeit so viel näher ist als die deutsche Okkupation, während der viele Esten und Letten auf deutscher Seite kämpften, erscheint jeder, der die Rote Armee bekämpft hat, als positive Figur, einschließlich der Legionäre der Waffen-SS. Diese Sichtweise steht in starkem Kontrast zum Geschichtsbild der meisten Russen, die eher an die Befreiung vom Faschismus als an die Besetzung des Baltikums erinnern wollen. Konflikte sind unvermeidlich und werden von Hardlinern beider Seiten geschürt.Auch bei meinem späteren Besuch des Okkupationsmuseums in Riga sollte mir das sehr deutlich werden.
Wir gingen zum Hotel zurück, an der Stadtmauer entlang. Eine Abkürzung durch einen Park erwies sich als erhebliche Wegverlängerung, sodass wir – nicht zur Freude aller – zu einem recht umfangreichen Spaziergang gezwungen wurden. In unserem Hotelzimmer mussten wir uns mit Schwarzbrot und Wodka stärken. Die Gespräche drehten sich wieder um die Landesgeschichte
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, es ist Sonntag, brachen Brigitte und Nicole zu einem Gang durch die Altstadt auf. Ich lese wegen meiner schmerzenden Achillessehne in den Lebenserinnerungen meines Vaters. Nach der Rückkehr erzählten B. und C.: Die evangelischen Kirchen waren wegen der Gottesdienste nicht zu besichtigen, dafür aber die Newski-Kathedrale mit Weihrauch und orthodoxem Gesang. Von außen aber konnten sie alle touristischen Sehenswürdigkeiten würdigen.
Mittags fuhren wir nach Kadriorg (Katharinental), einem der besseren Stadtteile. Brigitte wusste von einer Kunstsammlung im Barockschloss. Wir stellten das Auto ab und kamen in einen wunderbar naturbelassenen Park. Russisch sprechende Familien flanieren hier, so fragten wir auf Russisch nach dem Weg. Das Schloss, das Peter I. als Sommerresidenz errichten ließ, ist ein Prachtbau mit rot- und okerfarbigem Barockmauerwerk, strahlend blauer Himmel darüber, blühende Kastanien, umwerfend schön. Trotz des Schlosses blieb der Stadtteil am Anfang des 19. Jahrhunderts eine Tallinner Vorstadt unterer Schichten. Erst nach und nach kamen Ausflügler an die nahen Strände. Mit der Zeit entstand ein mondänes Seebad, Bürgerhäuser wurden errichtet, und als die Töchter Nikolaus I. hier ab 1832 den Sommer verbrachten, stieg Kadriorg endgültig zu einer feineren Gegend auf.
Wir fuhren zurück in die Stadt, durchquerten sie in Richtung Westen, um die Klippen von Türisalu zu sehnen. Dort schauten wir von einer Aussichtsplattform über das Meer, an dem Nicole den von Mittelmeer und Atlantik vertrauten Seegeruch vermisste. Auf der Weiterfahrt entdeckten wir ein reizvoll gelegenes Gartenrestaurant an einem Wasserfall. In der Sonne sitzend fanden wir das Leben gut und genossen unser Essen.
KZ Klooga
Auf der Rückfahrt nach Tallinn fanden wir ein Schild zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Klooga – ein Außenlager des KZ Vaivara. Hier wurden am 19. September 1944 vor dem Abmarsch nach Westen noch 2000 Juden in den Wäldern um das Lager von deutschen SS-Leuten und Angehörigen der estnischen Wachmannschaft (Wachbataillon 287) erschossen. “Die letzten Massenerschießungen fanden bei Lagedi und in Klooga statt. Am 18. September wurden die Insassen von Lagedi mit Lastwagen angeblich «evakuiert», in Wahrheit aber auf einer Waldlichtung erschossen. Am folgenden Tag wurden die Angehörigen aller Arbeitskommandos, inklusive des Außenkommandos Laoküla, nach Klooga gebracht, das mithilfe von Angehörigen der 10. Waffen-SS Division unter dem Befehl des Kommandeurs der Ausbildungs- und Ersatzeinheiten, Georg Ahlemann abgeriegelt wurde. Ein zusätzliches Erschießungskommando, bestehend aus Angehörigen des Kommandos der Sicherheitspolizei Estland, kam aus Reval. Es ist nicht geklärt, wer an diesem Tag Befehl führte, da viele Angehörige der KZ-Vaivara Lagerverwaltung mittlerweile in Klooga eingetroffen waren. Lagerführer von Klooga zu dieser Zeit war Wilhelm Werle, der aber behauptete, dass der ranghöhere Verwaltungsführer Otto Brenneis die Aktion befehligt habe. Die Häftlinge wurden in kleinen Gruppen aus dem Lager geführt und auf dafür errichteten Scheiterhaufen und in einem Nebengebäude erschossen. Die Leichenberge wurden später in Brand gesetzt. Nach und nach wurden die auf dem Appellplatz befindlichen Häftlinge immer unruhiger, das Geräusch von Gewehrsalven löste dann Panik und Flucht aus. Etwas mehr als hundert Häftlingen gelang es, sich bis zum Eintreffen der Roten Armee ein paar Tage später versteckt zu halten, einigen wenigen gelang die Flucht aus den Leichenbergen“24Ruth Bettina Birn: Vaivara – Stammlager / Außenlager, in : Der Ort des Terrors:Bd. 8:, München 2008
In den beiden Vormonaten waren wegen der vorrückenden Roten Armee viele Insassen nach Stutthof und nach Schlesien gebracht worden. Zehn Tage später konnten nur noch wenige von den ehemals 3000 Gefangenen durch die Rote Armee befreit werden.
Der estnische Ministerpräsident entschuldigte sich im Mai 2005 in einer Rede auf dem Gelände des Lagers für das Mittun seiner Landsleute. Er bekam Ärger.
Nach dem Abendbrot im Hotelrestaurant saßen wir noch im Zimmer zusammen und tranken den restlichen Wodka.
Fahrt nach Riga
Am nächsten Morgen brachen wir nach Riga auf, fuhren durch dichte Wälder, machten Rast an einem menschenleeren Strand. Auf dem Rückweg zum Auto kamen uns freundliche Russen entgegen, wir wechselten ein paar Worte über das Woher und Wohin, hörten Lobendes über Berlin. Von Nordosten kommend fuhren wir nach Riga hinein, die Brivibas-iela entlang, die sich in der Innenstadt zum Brivibas-bulvaris weitet. Vor dem Freiheitsdenkmal bogen wir zu unserem Art Hotel Laine ab. Es liegt in der Innenstadt, unweit vom Park Esplanade, nah zur Altstadt. Wir mussten uns beeilen, da Beate zu uns stoßen und wir sie noch am Flughafen abholen wollten. Nach der Rückkehr vom Flughafen gingen Brigitte, Nicole und Beate in die Stadt. Ich blieb im Hotel. Meine Achillessehne erlaubte keine weiten Gänge. So saß ich lesend auf der Hotelterrasse und informiere mich darüber, wie Deutsche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nach der Jahrhundertwende in Lettland lebten, wie sie mit der Mehrheitsgesellschaft zurechtkamen oder auch nicht26Ulrike v. Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit – Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914, Göttingen 200627Ute Hoffmann: Ethnic, Social and Mental Frontiers in Interwar Latvia: Reflctions from Baltic Germans’ Autobiographies, Chemnitz University of Technology
Das Leben und Zusammenleben der Deutschbalten
„ Von jeher haben es die deutschen Herren des Landes zu verhindern gesucht, daß die Letten und Esthen zu deutschen Gewerben und anderen nicht mit dem Ackerbaue in Verbindung stehenden Beschäftigungen übergingen”
G.J. Kohl: Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen, Dresden, Leipzig 1841
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Mitte des 19. Jahrhunderts dominierten Deutsche die lettischen Städte – besonders natürlich Riga. Die Stadt war deutsch, bis die einsetzende Industrialisierung das Bild dramatisch veränderte. Lag 1867 der Anteil der Deutschen in der Stadt bei 43 %, war er 1913 nur noch bei 16 %. Immer mehr Letten gelangten zu Bildungsmöglichkeiten, dadurch zu sozialem Aufstieg, ihr Selbstbewusstsein wuchs. Den Deutschen gefiel das weniger. Sie nahmen die lettischen Mitbürger nicht in ihre gesellschaftlichen Kreise auf, hielten Distanz zu ihnen und blieben weiter unter sich. Kontakte zu Letten hatten sie nur, soweit diese ihre Dienstboten, Angestellten, Untergebenen waren. Besonders in den Städten war die ethnische Zugehörigkeit für Deutsche bedeutsamer als es Klassenschranken waren. Doch die Deutschbalten werteten sehr wohl auch eigene Landsleute nach ihrer sozialen Stellung. Bis 1939 und später noch war ständisches Bewusstsein präsent. Wenn Balten sich begegneten, fragte man durchaus, welchen Namen er trug, was für eine „Jeborene“ sie war. Adlige Herkunft oder die aus einer „Literaten“-Familie wurden höher bewertet als jene aus dem Kaufmannstand. „Literaten“ nannte man Geistliche, Juristen, Ärzte, Wissenschaftler. Mit ihnen pflegten Adlige gesellschaftlichen Umgang, wenig jedoch mit dem übrigen Teil der Deutschbalten, mit Handwerkern oder Kaufleuten. In der kurländischen Provinz war das allerdings schon während der Jugendzeit meiner Mutter anders. Kurländischen Literaten wurde eine gewisse Adelsgegnerschaft nachgesagt und es kam auch vor, dass Adlige gesellschaftlichen Kontakt zu Deutschbalten niederer Herkunft pflegten. Zwei Freundinnen meiner Mutter, einer Gärtnerstochter, waren adliger Herkunft. Lebenslange Freundschaft verband die Frauen.
Ein wichtiger Teil gesellschaftlichen Lebens war die musische Betätigung, sei es das Vorlesen am Abend, die Hausmusik oder Theaterspiel, wie meine Mutter es beschreibt:
„Mama hat mit uns viel gesungen, d.h. sie begleitete unsere Kinderlieder nach Noten auf dem Klavier, hat mit uns Sing- und Rundspiele gemacht, aber was das schönste war – jeden Sonntagmorgen wurden wir durch einen Choral geweckt! Wenn dann hinterher noch ein flotter Walzer gespielt wurde, war es bestimmt Zeit zum Aufstehen. So war die Musik von klein auf für uns selbstverständlich und hat uns immer durch unser Leben begleitet…. Großvater Rohde liebte es, wenn seine jüngste Tochter ihm die Loeweschen Balladen vorsang, besonders „Die Uhr“ und “Tom der Reimer“. Welch ein Reichtum ist uns durch unsere Freude an der Musik geschenkt! Wir vier Kinder hatten alle Klavierstunden, d.h. unser Bruder Willy spielte Geige, mit wenig Anleitung, aber großer Ausdauer und Freude. Als wir größer wurden, gab es bei uns an den Sonnabenden oder am Sonntag Konzert. Ein feldgrauer Feldwebel, Herr Ahlschläger, und Willy spielten Geige, die Schwestern begleiteten 4-händig und wir sangen mit Begeisterung wie uns der Schnabel gewachsen war alte Volkslieder oder wagten uns an Schubert oder Loewe heran. Auf diese Art lernten wir die Komponisten kennen und lieben und es ist mir heute noch wie ein Gruß aus fernen Tagen, wenn ich diese Lieder höre“, und meine Tante ergänzt: „… auch lud unsere baltische Dichterin Elisabeth Goercke, deren Vater in Talsen eine Apotheke besaß, einen Kreis von jungen Menschen ein Mal wöchentlich zu einem Leseabend ein, an dem wir hauptsächlich die nordischen Dramatiker lasen: Strindberg, Ibsen, Björnson“28 Elisabeth Rohde, Herta Martinelli: Erinnerungen an Talsen, bjb 2018.
Im Elternhaus meines Vaters gehörte gemeinsam betriebener Sport wie Reiten, Tennisspiel und Schwimmen in der Aa (Gauja) oder Skilaufen im Winter zur gesellschaftlichen Betätigung. Aber man blieb im Kreise der leitenden deutschen Mitarbeiter der Papierfabrik in Ligat. Das galt für die heranwachsenden Jugendlichen ebenso, wie für die Fabrikleitung, die ausschließlich aus Deutschen bestand, während „alle Arbeiter, Vorarbeiter, Meister und Unterangestellte im Büro Letten waren“29Georg von Krusenstjern: Ligat – Ein Kapitel aus meinen Jugenderinnerungen, Band II, Lehrjahre, Manuskript, schreibt Georg von Krusenstjern in seinen Jugenderinnerungen über seine Zeit als Praktikant in den 1920er Jahren und dann weiter: „Also diese Deutschen bewohnten alle recht schöne herrschaftliche Villen in gepflegten Gärten. Hier wurde ich, nach gemachten Antrittsvisiten, wie ein Sohn aufgenommen, immer wieder zu Mahlzeiten eingeladen und fand bei der Jugend netten Anschluss. Der technische Direktor war Ingenieur Burmeister, Baltenphilister, also Farbenbruder von Papa. Er hatte eine reizende Frau, die mir bald mütterliche Freundin wurde. Es gab mehrere Kinder, alle etwas jünger als ich, aber ich befreundete mich bald mit ihnen. Ich habe hernach, namentlich in der schönen Jahreszeit, mit ihnen herrliche Wanderungen in die hübsche Landschaft Südlivlands unternommen. Auch traf man sich zum Baden, spielte Tennis und Spiele aller Art und trieb Sport. Die Kinder des Hauses hatten im Sommer oder in den Ferien und Wochenenden häufig gleichaltrige Verwandte oder befreundete Jugend zu Besuch und es ging recht fröhlich zu …“
Ich bestellte mir bei der sehr freundlichen lettischen Kellnerin ein Bier. Mir fiel auf, wie erfreulich sich in den vergangenen zehn Jahren der Umgangston des Hotelpersonals geändert hat. Bei unserem ersten Besuch in Riga 2003 waren wir in Hotels und Restaurants nur sehr schweigsamen Menschen mit eher abweisender Körpersprache begegnet und Gesichtern, die auszudrücken schienen, dass man wenig willkommen ist. Wie anders heute: freundliche, meist junge Menschen, Englisch sprechend, dem Gast zugewandt. Ich frage mich, wie Letten uns Deutsche heute wohl sehen mögen, jetzt fünfundsiebzig Jahre nach dem Wegzug unserer Vorfahren, nach Nazibesatzung und der langen sowjetischen Periode.
In der Zeit unserer Eltern und Großeltern war das Bild von Deutschen bei Letten ziemlich negativ. Uns deutsch- baltischen Nachkommen wurde die Erzählung vom kulturbringenden und segensreichen Wirkens der Deutschen vermittelt. Sicher war es auch das. Die Kehrseite aber war, dass Letten mehrheitlich nur als Dienstboten und Arbeiter, auf dem Lande als Knechte wahrgenommen wurden. Viele Deutsche hielten das für die göttliche Ordnung, wie der Satz des deutschbaltischen Kunsthistorikers (Georg Dehio) von 1927 belegt: „Zunächst ist nicht zu vergessen, dass die Esten und Letten keine eigene Kultur besitzen und schwerlich jemals besitzen werden“30Georg Dehio: Vom baltischen Deutschtum, zitiert in:
Hasselblatt, Cornelius: »Forschungsberichte/Erinnerungssuche. Befragungsprojekt über die interethnischcn Bezichungcn im Baltikum – hier: Estland und Lettland – in dcr Zwischenkriegszeit.« In: Estland und seine Minderheiten. Esten, Deutsche und Russen im 19. und 20. Jahrhundert. Nordost-Archiv, Band IV/95,Heft 2. Lüneburg 1995, S. 635-642.. Letten sahen in deutschem Auftreten den Habitus von „Herrenmenschen“, von „Baronen“, die das Mehrheitsvolk geringschätzten:
„Der Deutsche, der „Baron” baute seine Politik im Baltikum auf der russischen Regierung, auf der Macht des russischen Tschinownik (Beamten) auf. Das Volk – der Lette, der Este – war eine quantité negligeable, war nicht der Rede wert“, beschreibt der lettische Journalist Johann Kaul noch 1934 die Haltung der Baltendeutschen und fährt fort: „Und die Folge dieser verhängnisvollen politischen Einstellung der Deutschbalten ist die, dass die Deutschen nach wie vor als „Erzfeinde des lettischen Volkes” angesehen werden. Der Deutschbalte steht heute dem lettischen Volke gegenüber ebenso fremd und daher ebenso feindlich da, wie ehedem.“
Während der Industrialisierung war ein lettisches Proletariat entstanden und mit ihm auch eine junge Generation marxistischer Akademiker. Hatten schon konservative lettische Intellektuelle eine Nationalbewegung Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen, gehörten für Sozialdemokraten neben den sozialen und sozialistischen Forderungen auch die nach einer von Russland unabhängigen lettischen Republik zum Kanon. Zum lettischen Feindbild vom ‘deutschen Baron‘ kam später das der ‘zaristischen Autokratie‘ hinzu – ein doppeltes Joch, das in der Revolution 1905 abgeschüttelt werden sollte.
Deutsche hatten während des 1. Weltkriegs gehofft, die russischen Ostseeprovinzen würden Teil des Deutschen Reiches werden, eine Depesche des von deutschbaltischen Adligen dominierten Kurländischen Landesrates belegt das: „Kurland, Livland und Estland sollen zu einem gesamtbaltischen Staat zusammengefügt werden, der mit Deutschland in Personalunion verbunden ist“. Umso größer die deutsche Enttäuschung, als stattdessen Lettland und Estland nationale demokratische Republiken wurden und die deutsche politische und wirtschaftliche Dominanz ein Ende hatte. Meine Tante schreibt in ihren Erinnerungen über die Gefühle, als die deutschen Truppen 1919 abzogen: „Ich sehe die deutschen Soldaten noch vor mir auf dem Bahnhof in Talsen vor ihrer Abreise, mit großen roten Abzeichen auf den Uniformröcken, die meisten betrunken und laut grölend. Uns erfasste eine große Enttäuschung und Trauer, denn wir hatten stets voll Achtung zum deutschen Militär aufgeblickt und gehofft, der Krieg würde von Deutschland gewonnen und unser Land würde dem Deutschen Reich einverleibt werden. Hatte doch der deutsche Kaiser in Mitau gesagt: „Wir stehen hier auf deutschem Boden“. Darauf hatten wir uns verlassen und nun war für uns alles aus!“
Während der deutschen Besetzung flohen Letten zu Tausende aus dem besetzten Kurland nach Riga und ins Reichsinnere Russlands. Nach dem Ende der deutschen Besetzung stellten sie klar, dass „das lettische Volk nach wie vor den Standpunkt der Unteilbarkeit Lettlands, des Selbstbestimmungsrecht des Volkes und der Selbstverwaltung vertritt“[mfn]Germanis, Uldis; Die Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Letten, Marburg/Lahn Herder-Institut, 1971][/mfn].
Mit dem Ausgang der Schlacht von Cesis 1919 war dieses Ziel erreicht: Die unabhängigen Staaten Lettland und Estland wurden gegründet. Für die Deutschen wog der Verlust schwer, Fremdheitsgefühl kam auf, eine starke Abwanderung ins Deutsche Reich setzte ein. Für alle Zurückbleibenden galt, die ethnische Eigenständigkeit auch unter den neuen Bedingungen zu verteidigen, doch dies auf verschiedenen Wegen. Die einen wollten die alten Privilegien zurück, den anderen genügten vom Staat akzeptierte Minderheitenrechte auf kulturelle Eigenständigkeit, eigene Religionsausübung, Sprache und Schulen. Die Letten bauten ihren Staat auf, bis er nach dem Hitler-Stalin-Pakt durch die sowjetische Besetzung zerschlagen wurde und nach erneuter Okkupation durch die Sowjetunion 1944 dann für lange Zeit unterging. Doch Geschichte kennt keine Endgültigkeit: Die Saeima, das lettische Parlament, erklärte am 4. Mai 1990 die Wiederherstellung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Die Sowjetunion drohte, einzugreifen. Im Januar 1991 verschanzten sich eine halbe Million Menschen in Riga, um die Unabhängigkeit durchzusetzen. Am 20. Januar wurde das Innenministerium von Männern in grünen Uniformen – offensichtlich Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums OMON – gestürmt. Nach stundenlangem Kampf mit freiwilligen Verteidigern zogen die Truppen sich zurück. Warum, ist wohl nicht endgültig geklärt. Der Militäraktion war der Blusonntag in Vilnius vorausgegangen. Am 21. August 1991 musste die Sowjetunion die Unabhängigkeit Lettlands dann endgültig anerkennen.
Begegnungen mit der Stadt
Brigitte, Beate und Nicole waren nach Jurmala, an den Rigaschen Strand, gefahren, als ich in die Stadt humpele, in Richtung Esplanade, die auf die Skolas iela zugeht, überquerte die Elizabetes iela und kam in einen lichten gepflegten Stadtpark mit alten Bäumen, Asphaltwegen, Bänken. Die Sonne drang durch die Wolken.
Mein Weg führte mich vorbei an der russischen Geburtskathedrale, auf der anderen Seite des kleinen Parks kam wieder ein kurzes Stück städtischer Straße, die auf den Kronwald-Park mit seinem künstlichen Flüsschen zuführt. An ihm entlang verläuft der Raina bulvaris, schneidet am Freiheitsdenkmal den Brivibas bulvaris und führt zur Universität meines Vaters – dem ehemaligen Polytechnikum, wo er nach eigenen Aussagen nur wenig studiert, sich dafür häufig im Conventsquartier der Fraternitas Baltica aufgehalten hat, nach deren Motto: „Freundschaft, Frohsinn, Tugend, Wissen – soll man nie bei Balten missen“. Ich ging in das Gebäude hinein, dachte an meinen Vater und trank im nahegelegenen Cafe CiliPica – nein, keinen Wodka – sondern Latte macchiato. Wir schrieben ja jetzt das Jahr 2014 und ich war Tourist, nicht Farbenstudent wie er anno 1928. Auf dem Weg zurück ins Hotel sah ich den Eingang zur Ausstellung des aktuell ausgelagerten Okkupationsmuseums, ging hinein, und wieder wurde mir die lettische Haltung zur eigenen Geschichte deutlich: Letten sind Opfer bei der ersten sowjetischen Okkupation, dann Opfer der Nazis, darauf erneut Opfer der Sowjetunion. Eigenes Mittun am Holocaust kam nicht vor, wenn auch die Beteiligung an militärischen Aktionen der Deutschen erwähnt wird. Dafür wird hervorgehoben, dass 472 Letten Juden das Leben retteten.
Alle lettischen Regierungen sahen in den eigenen SS-Legionären antibolschewistische Kämpfer und nahmen mit Unverständnis in Kauf, dass die ganze Welt den Aufmarsch der SS-Veteranen und mitmarschierende Minister an jedem 16. März als Glorifizierung des Faschismus auffasste. Zum Glück regte sich auch Widerstand in den eigenen Reihen. 2014 wies Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma wenige Tage vor dem Marsch der Naziverehrer ihr Kabinett an, die Teilnahme zu unterlassen. Weil der Minister für Regionen, Einars Celinskis, ankündigte, sich nicht an die Anordnung zu halten, wurde er entlassen.
Am Abend fuhren wir mit einem Taxi in ein russisches Restaurant, das sich als Selbstbedienungsladen herausstellte. Man suchte sich die Speisen vom Buffet, sehr russisch. Eigentlich hatten wir uns etwas anders vorgestellt, aber auch das gefiel uns.
Die Moskauer Vorstadt und Russen in Riga
Südlich der Rigaer Altstadt schließt sich die Moskauer Vorstadt an. Ich fuhr mit dem Auto an den Markthallen vorbei, zunächst an der Düna entlang, dann auf einer zweispurigen Straße, in der Mitte Straßenbahngleise, links und rechts speicherähnliche Bauten. Hinter einem leeren Platz, halb asphaltiert und zum Parken genutzt, halb mit Gras bewachsen, war das vielstöckige Gebäude der Akademie der Wissenschaften zu sehen, Stalingotik wie der Kulturpalast in Warschau oder die Lomonossow-Universität in Moskau, kleiner als diese beiden Bauten, doch ein Fremdkörper inmitten baulicher Tristesse, rechts gelegen die Düna. Ich sah alte Gebäude mit vernagelten Fenstern: das Ghetto-Museum. Ich wendete das Auto und fuhr etwas später auf einen Platz zu, dessen Mitte die klassizistische protestantische Jesus-Kirche – das größte hölzerne Bauwerk Lettlands – einnimmt. Menschen saßen auf den Stufen. Etwas weiter vorn kam ich auf die Maskavas iela – die Moskauer Straße, Namensgeberin des Viertels, wirklich heruntergekommen. Völlig aus dem baulichen Rahmen fällt die Grebenschtschikov-Kathedrale, deren goldene Kuppel weithin sichtbar ist, Wahrzeichen altgläubiger Orthodoxie. Ich stieg aus, ging ein paar Schritte auf den sehr gepflegten weißen Gebäudekomplex zu. Begegnete man Menschen, hörte man Russisch. Die Moskauer Vorstadt ist bis zum heutigen Tag so etwas wie das Zentrum der russisch-stämmigen Bevölkerungsanteile Rigas, seit Jahrhunderten ein Sammelplatz russischer Sekten wie der Feodosijaner oder Altgläubigen, deren Vorfahren sich bereits zu polnischer und schwedischer Zeit vor den Folgen ihres Widerstandes gegen die Kirchenreform des Metropoliten Nikon in den Schutz des Protestantismus geflüchtet hatten. Bei Julius Eckardt las ich: „Von der eigentlichen Stadt durch einen breiten Gürtel von Baumgängen und mächtigen Speicherreihen getrennt, bietet dieser Stadtteil das in den Ostseeprovinzen sonst unbekannte Bild echt russischen Lebens. Hier sind die Deutschen in der Minderzahl wenngleich an der Spitze der Lokalverwaltung. In niedrigen, meist grün angestrichenen Holzhäusern hausen bärtige Männer, die das nationale rote Hemd über den Beinkleidern tragen und als Kleinhändler, Hafenarbeiter, Zimmer- und Fabrikleute ihr Leben fristen. Ihrer Mehrheit nach gehören sie der extremsten Richtung des russischen Schisma, der ,,popenlosen« Sekte an: wegen der Toleranz, mit welcher der rigasche Rat sie in Zeiten der Bedrückung gegen den Verfolgungseifer «rechtgläubiger« Eiferer geschützt, namentlich ihre priesterlich nicht eingesegneten Ehen anerkannt hat, sind sie entschiedene Freunde des herrschenden deutschen Elements und gute Bürger der alten Hansestadt. Während der Sommermonate sammeln sich in den Straßen dieses entlegenen Quartiers, das mancher Bürger der anderen Stadtteile kaum einmal im Leben betreten hat, zahllose «Strusenrussen«, kleine, häufig bartlose Gestalten, an dem schmutzigen Schafspelz und dem Filzkegel aus dem Kopf erkennbar, Männer, welche auf ungeheuren, mit Flachs und Getreide beladenen Holzbarken (Strusen) zur Zeit des Hochwassers der Düna aus Littauen und Weißrußland herabgekommen sind. Sind ihre Waren an den Großhändler abgesetzt, so zerstört das Beil des Flussschiffers die Barke, deren Balken dann verkauft werden, er selbst aber kehrt mit der Eisenbahn in seine Heimat zurück, um den Winter über von dem Erlös seiner Frühjahrsschifffahrt zu leben. Dieser Geschäftszweig spielt in dem Handelsleben Rigas eine bedeutende Rolle, so weit das Auge reicht, bedecken diese mächtigen roh gezimmerten Flussfahrzeuge den stattlichen Strom, und das gesamte Ufer der moskauischen Vorstadt bildet einen einzigen großen Lade- und Stapelplatz.”31Julius Eckardt: Die baltischen Provinzen Rußlands, Politische und culturgeschichtliche Aufsätze, Leipzig 1868 , S. 47
Außerhalb der Russischen Vorstadt waren in Rigas politischer und kultureller Öffentlichkeit während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Russen kaum zu bemerken. Vereine wie bei den Deutschen und Letten gab es nicht. Russen gingen ihrer Arbeit nach und blieben in der Familie. Das erstaunte mich, war Riga doch die Hauptstadt einer russischen Provinz.
Von den 26000 Russen, die 1867 in Riga lebten, war ein großer Teil Angehörige des Heeres ohne Kontakt zum zivilen Leben, der andere Teil Arbeiter, Kleinhändler, Gewerbetreibende oder Dienstboten. Nur etwa 600 hatten bürgerliche Berufe als Beamte, Ärzte, Fabrikanten oder Kaufleute. Die Russen waren zusätzlich noch konfessionell getrennt. Ein Drittel von ihnen waren Altgläubige. In späteren Jahren gründeten reiche Kaufleute den Russischen Klub, zunächst ein Ort gesellschaftlichen Lebens auch für Deutsche und Juden, für letztere aber nur, wenn sie über genügende Reputation verfügten. Mit zunehmender Politisierung durch die Versuche der Unifizierung des russischen Reiches durch Alexander III. und dem Aufkommen einer slawophiler Stimmung änderte sich die liberale Haltung. Deutsche traten aus dem Klub aus, Feindbilder vom „separatistischen Deutschen“ und vom „revolutionären Letten“ wurden verbreitet. „In Russland kann es nicht zwei oder mehr gleichberechtigte Kulturen geben, die russische Kultur muss, wie der Staatsgedanke, im ganzen russischen Reich größere Rechte besitzen und vor ihren Forderungen müssen die deutschen, lettischen und übrigen kulturellen Sonderbestrebungen zurücktreten“32Rizskij Vestnik am 13.7.1910, zitiert in : Ulrike v. Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit, Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914, Göttingen 2006 schreibt der Rizskij Vestnik am 13.7.1910. Diese Haltung nahmen vor allem die neu ins Land und nach Riga gekommenen Beamten, Hochschullehrer und Lehrer ein, weniger die ursprünglich in der Stadt lebenden Russen. Zunehmende soziale Differenzierung führte zu verstärkter Änderung der politischen und kulturellen Haltungen russischer Einwohner. Der Ausbruch des I.Weltkriegs vereinigte die Russen Rigas. Sie gründeten das Slawische Hilfskomitee zur Unterstützung der Soldaten, in dem sich Rechtskonservative, Orthodoxe und Juden, Angehörige aller sozialer Schichten, Frauen und Männer, Russen, Weißrussen, Polen und Ukrainer zusammenfanden. Wegen der deutschen Besatzung flohen viele Russen. Nach Gründung des lettischen Staates erhielten sie Minderheitenrechte, und nach der sowjetischen Besatzung wurde Lettland Siedlungsgebiet von Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion, denn Lettland sollte im Wirtschaftsgefüge der Sowjetunion schwerindustriell tonangebend werden. Russische Fremdarbeiter kamen zu Hunderttausenden ins Land, und noch heute stellen sie rund ein Drittel der Bevölkerung. Nach der Neugründung Lettlands 1991 machte sich Massenarbeitslosigkeit breit. Verlierer der Stunde waren in erster Linie die weniger gut ausgebildeten Industriearbeiter, viele russischer Herkunft. Lange unterdrückte Ressentiments und aufkeimender lettischer Nationalismus breiteten sich aus. Den verbliebenen Russen ist es bis heute nicht gelungen, in der lettischen Gesellschaft richtig Fuß zu fassen, Chancengleichheit oder gar gesellschaftliche Privilegien bleiben ihnen weitgehend verwehrt. Viele von ihnen haben keine lettische Staatsbürgerschaft – sie sind sogenannte Nichtbürger und besitzen kein politisches oder kulturelles Gewicht. Ich hoffe sehr auf ein Umdenken der lettischen Gesellschaft, auch in deren eigenem Interesse. Weil die Nichtbürger zwar das Wahlrecht und alle EU-Rechte haben, aber Schwierigkeiten, Anstellungen im öffentlichen Dienst zu bekommen, wird ihr Status von vielen als ungerecht und diskriminierend empfunden. Das ist sicherlich ein ständiger Unruheherd.
Kurland
Ich hatte mir vorgenommen, am 4. Juni nach Talsen zu fahren, dem Geburtsort meiner Mutter. Dort fand 75 Jahre zuvor die Hochzeit meiner Eltern statt. Bei sonnigem Wetter brachen Beate und ich auf. Wir fuhren die Brivibas iela entlang, zunächst zur sogenannten Steinschen Mühle – einem sehr bürgerlichen Wohnkomplex. Beate und Brigittes Mutter wuchsen dort auf, ganz in der Nähe der Neuen Deutschen Gertrudenkirche, einem neugotischen Bau von 1906.
Unser nächstes Ziel war Jelgava (Mitau), bis 1919 Haupstadt der russichen Ostseeprovinz Kurland. Ein prächtiges Barockschloss, das größte des Baltikums, steht hier, nach Plänen von Rastrelli als Sitz der Herzöge von Kurland erbaut. Wir kamen aus Riga von jenseits der Kurländischen Aa, sahen die Brücke, davor eine riesige Wiese, unbebautes Land und dann von weitem schon das prächtige Schloss mit Fassaden in Rot und Gelb.
Wir parkten davor und gingen in den Innenhof. Das Schloss hatte ursprünglich ein Hauptgebäude mit zwei Flügeln. Erst 1937 wurde ein vierter Teil mit einer glatten „modernen“ Fassade hinzugefügt, sodass die Anlage einen großen Hof umschließt. Manche bemängeln die Schlichtheit des Äußeren, nennen es sogar langweilig, was, nach meinem Eindruck, jedoch nur für den neuen Flügel zutrifft.
Die Stadt wurde 1944 sehr zerstört und was später aufgebaut wurde, sieht sehr nach der alten Sowjetunion aus.
So war ich froh, aus der Stadt weiter nach Norden zu fahren. Wir nahmen kleine Straßen, auch geschotterte, kamen am Museum für Karlis Ulmanis in Pikšas vorbei. Ein Hinweisschild nicht weit von Tuckums machte uns auf ein Herrenhaus aufmerksam, eher ein Schloss, sehr gepflegt, heute ein Hotel: Jaunmoku pils. 1901 hatte es sich der Rigaer Bürgermeister George Armitstead bauen lassen. Armitstaedt hatte für die Entwicklung Rigas sehr viel getan. So wurde ihm ein Denkmal nahe der Nationaloper gesetzt und 2006 durch Elizabeth II. bei einem Staatsbesuch in Riga enthüllt. Es zeigt einen Herrn und eine Dame, beide lebensgroß und aus Bronze, die einen kleinen Chow-Chow spazieren führen.
Wir schlenderten durch den Schlosspark, ließen uns einen Milchkaffee servieren und genossen den sonnigen Tag, bevor wir die wenigen Kilometer nach Talsen in Angriff nahmen.
Talsen
Bei der Fahrt in die Stadt wirkte sie wenig einladend. Hatten wir aber erst den Industrieteil durchquert, wurden Holzhäuser innerhalb grüner Grundstücke sichtbar, alles sah parkähnlich aus. Wir stellten das Auto am See ab und stiegen zu Fuß den Hügel zur Kirche hinauf. Hier wurden meine Eltern auf den Tag genau vor einem dreiviertel Jahrhundert getraut. Meine Mutter schreibt dazu:
„Die Trauung wurde in der Talsenschen Kirche von unserem Schwager Oskar Martinelli vollzogen. Es war ein wunderbarer Frühlingstag, die Obstbäume blühten, es hatte geregnet, aber am Nachmittag schien die Sonne. Wir fuhren im Auto zur Kirche und erlebten dort unsere Trauung“.
Bei unserer ersten Reise zehn Jahren zuvor hatten wir das Geburtshaus meiner Mutter in Talsen nicht gefunden, obwohl wir unmittelbar davor gestanden hatten. Jetzt wusste ich, wo ich suchen musste. Wir fanden es oberhalb eines kleinen Tals, in dem wir parkten. Ich erkannte das Haus, an einem Hang stehend, auf dem damals das Land der Gärtnerei war.
„Unsere Gärtnerei lag auf einem Abhang in drei Abstufungen, sehr ungünstig, denn die Nord-Ostwinde fegten darüber hin und es waren wenige gerade Flächen, die zum Anbau des Gemüses nötig waren. Mein Großvater Carl-August Rohde mag wenig an diese Dinge gedacht haben, als er den alten Obstgarten in Talsen pachtete. Er war wohl froh, seinen Wunsch, eine eigene Gärtnerei zu gründen, erfüllt zu sehen“.
Wir gingen vom Parkplatz den Hang hinauf. Das Haus beherbergt die städtische Firma Talsu Bio-Energija – Anbieter erneuerbarer Energie. Ich ging hinein, der Chef sprach zum Glück Englisch, ich erklärte ihm mein Interesse an einer Hausbesichtigung. Mit abwehrendem Gesichtsausdruck sagte er, das Haus gehöre der Stadt. Ich stellte klar, dass mich Eigentumsfragen nicht interessieren, seine Miene hellte sich auf und er führte mich durch das ganze Haus. Büroräume jetzt auch unter dem Dach, im Keller eine kleine Bar. Die Büroatmosphäre ließ mich vergessen, dass hier vor 110 Jahren meine Mutter geboren wurde, dass sie hier den glücklichsten Teil ihres Lebens verbrachte. Ich wollte unbedingt das ehemalige lettisch- lutherische Pastorat finden, in dem meine Eltern ihre Hochzeit gefeiert hatten. Ich wusste nur, es liegt ungefähr drei Kilometer außerhalb der Stadt. Einen Weg dorthin kannte ich nicht. So gingen wir ins Pfarramt und fragten. Der lettische Pastor sprach Englisch, doch seine Wegbeschreibung konnte ich mir nicht merken und beschloss, mich im lokalen Museum noch einmal nach der Lage zu erkundigen. Mithilfe der elektronischen Karte meines Tablets zeigten mir die Damen an der Kasse etwas zögerlich den Weg. Es wunderte mich, warum sie sich so schwer mit einer klaren Antwort taten, denn das Pastorat gehörte einmal als Dependance zum Museum. Dort hatte in alten Zeiten Carl Amenda, ein Freund Beethovens, seinen Dienstsitz als Pastor. Beethoven korrespondierte mit ihm und widmete ihm sein erstes Streichquartett (Nr. 1, op. 18, Nr. 1 F-Dur): „Lieber Amenda. Nimm dieses Quartett als ein kleines Denkmal unserer Freundschaft, so oft du dir es vorspielst, erinnere dich unserer gemeinsam durchlebten Tage und zugleich, wie innig gut dir war und immer sein wird Dein wahrer und warmer Freund. Wien, 1799, am 25. Juni“
Das Pastorat Talsen
Die Stadt Talsen nutzt Amenda heute zur Touristenwerbung. Ich vermutete, da die Gebäude des Pastorats der Kirche zurückübertragen wurden, musste das Museum sie aufgeben und war nicht interessiert, Fremde dorthin fahren zu lassen. Eigenartig. Doch wir fuhren.
Das Pastorat – Macitajmuiža – liegt in paradiesischer Landschaft, von Wald und lichten Auen umgeben zwischen Hügeln und kleinen Seen. Ein leicht gehbehinderter Mann empfing uns freundlich. In Russisch konnte ich mit ihm kommunizieren. Er bedeutete uns, er halte Haus und Grundstück in Ordnung, wohne auch dort in der Einöde. Alles sah aus, wie ich es von Bildern meiner Tante kannte, das Wohnhaus, die zugehörigen Nebengebäude.
Das Pastorat war ein kleines Gut. Pastoren auf dem Lande bekamen kein Gehalt, sondern lebten von der Bewirtschaftung und Verpachtung des Gutes. Die von meiner Tante beschriebene Linde an der Einfahrt war längst gefällt, und kein Pfeifenkraut umschloss mehr die Veranda:
„Eine riesige Linde umschattete die Einfahrt zu unserer, von Pfeifenkraut umsponnenen, Veranda… Man ging morgens an warmen Sommertagen nur leicht bekleidet durchs taufrische Gras einer Wiese den Abhang hinunter und stürzte sich in die erfrischenden Fluten…“33Erinnerungen an Talsen, bjb, 2018
Ich wurde herumgeführt, zum See hinunter, an einer uralten Eiche vorbei und konnte mir die Feier des Johannifestes zur Sonnenwende vorstellen – ein Höhepunkt des lettischen Gemeindelebens. Meine Tante beschreibt das so:
„Das war ein richtiges Volksfest, das sich gewiß noch aus heidnischer Zeit herübergerettet hatte. Auch bei uns im Pastorat wurde der 23. Juni, der Johanniabend, für die Angehörigen groß gefeiert. Es wurde vorher ein Kalb geschlachtet, Bier gebraut und alles befand sich in großer Geschäftigkeit. Am Johanniabend wurde in der Küche der Tisch mit einem weißen Tischtuch schön gedeckt, in allen Stuben waren Birken aufgestellt. Es roch festlich nach Kalbsbraten, frisch gebackenem Weißbrot und Speckkuchen. Am taghellen Abend erklangen dann die lettischen Lihgolieder in der ganzen Umgebung. Mein Mann und ich gingen auf die Veranda hinaus und hörten schon die aus der Ferne sich nähernde Gesänge unserer Leute, die dann zur Veranda kamen und uns unter Gesang schöne Kränze aus Eichenlaub und Wiesenblumen umhängten, die unser Hütemädchen „Anning“ beim Kühehüten geflochten hatte. Darauf wurden alle zum Abendessen in die Küche gebeten. Nachher ging es dann auf die Anhöhe, wo schon vorher auf die Spitze einer Tanne eine Teertonne gesetzt war, die nun angezündet weithin als Johannifeuer leuchtete. Von allen Seiten flammten nun in der Ferne und Nähe Feuer auf, dazu erschallten die Gesänge mit dem Lihgo, lihgo bis in die warme Sommernacht hinein. Lihgo ist die Göttin der Liebe “34Erinnerungen an Talsen, bjb, 2018.
Ich war bewegt. Meine Eltern feierten hier ihre Hochzeit. Ich stellte mir die von meinem Vater beschriebene Szene vor:
„Die Gäste fuhren im gemieteten Autobus, wir Frischgetrauten jedoch im Zweispänner, ins etwa vier Kilometer außerhalb Talsens liegende Pastorat, zeitlich so versetzt, daß wir unsere Hochzeitsgäste bereits mitten im festlich geschmückten Saal empfangen konnten… Im Pastorat war alles festlich hergerichtet, in einem extra Zimmer die “Sakuski”, allerlei kalte Herrlichkeiten, Speckkuchen, Rosoll usw. dazu die nötigen Schnäpse…. Das Essen bei Kerzenschein an der großen Tafel ist mir in besonderer Erinnerung, … wir tanzten fröhlich bis in den Morgen hinein, tranken manchen kurischen Schnaps, prosteten uns vergnügt zu und beschworen eine glückliche Zukunft.“
Und wieder meine Mutter:
“Sehr viel später ging man zu Tisch, – es wurden Reden gehalten, von denen mir die von Reinhard Wittram besonders gefiel, aber auch die von Onkel Oskar. Und nachher erklang ein Walzer, gespielt von Frau Brandt, geb. Elisabeth Goerke und eine Polonaise begann und führte durch die großen Räume bis in den dämmrigen Garten, der von Lampions erleuchtet war. Es war alles so schön, wer wusste damals, dass es das große Abschiedsfest für uns alle war, der Abschied von der Heimat in einigen Monaten!“
Lutherische Kirche in Lettland
Ich wusste kaum etwas über die Situation der lutherischen Kirche in Lettland, ihre Rolle für die Deutschbalten, ihre Position im russischen Reich nach der Gründung des lettischen Nationalstaates, nach der Rückkehr der Sowjetarmee. Sicher für mich war, sie hatte für das Verhältnis der Deutschen zur jeweiligen Zentralmacht, für ihr Selbstbewusstsein und die Bildung der Letten eine große Rolle gespielt. Dieser Kirche hat mein Onkel Oskar Martinelli in Talsen fast drei Jahrzehnte von seiner Ordinierung 1910 bis zur “Aussiedlung” 1939 gedient. Er hatte in Dorpat studiert und wurde dann Pastor der lettischen Gemeinde. Herta, Schwester meiner Mutter, wurde seine Frau. Seinem christlich-frommen Einfluss war die Haltung meiner Mutter gegen die Nazis zu verdanken, denke ich heute, denn ihre Abneigung gegen die Nazis hat sie nie politisch, sondern immer christlich begründet. Oskar Martinelli muss ein Mensch mit strikter moralischer Haltung gewesen sein, der das Wort „Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen“ und den Dienst an seinen Kirchengliedern sehr erst nahm. Daher wollte er 1939 seine Gemeinde nicht verlassen und erst auf den dringenden Rat eines lettischen Anwalts beschloss er zu gehen. Meine Tante Herta schreibt:
„Mein Mann hatte sich vorgenommen, erst fortzugehen, wenn die Gemeinde durch einen anderen Pastor versorgt sein würde. Er nahm Rücksprache mit dem Konsistorium in Riga, das seinen Abschied als Pastor der Talsenschen Gemeinde annahm, der er fast 30 Jahre lang gedient hatte…. Zugleich wurde vom Konsistorium ein junger sympathischer Vikar mit Namen Saulitis als Nachfolger bestimmt, der dann eine Zeit lang mit uns zusammen im Pastorat wohnte. Wie wir später hörten, soll er erschossen worden sein, unter welchen Umständen, haben wir nicht erfahren.“
Das Schicksal des Vikars berührte mich, ich wollte mehr über ihn herausfinden und begann nach unserer Rückkehr von der Reise eine E-Mail-Korrespondenz mit der lutherischen Gemeinde in Talsen und erfuhr: Pastor Saulitis arbeitete, nachdem er die Gemeinde übernommen hatte, auch als Religionslehrer im Talsenschen Gymnasium. Schüler erinnern sich an ihn als einen ausgeglichenen Mann, an seine ruhige und einfühlsame Art. Ihm lag daran, universelle geistige Werte zu vermitteln. Im letzten Kriegsjahr wurde er Direktor des Gymnasiums. Sofort nach Einzug der Sowjetarmee und Gründung der Sowjetmacht in Lettland wurde er aus dem Schuldienst entlassen, 1946 verhaftet, zuerst nach Riga gebracht, dann 1947 nach Chabarowsk (Sibirien) deportiert, wo er am 10. Juli 1947 umkam. Eine vorherige Flucht mit seiner Familie nach Schweden war wegen widrigen Wetters abgebrochen worden, ein Konfirmand verriet ihn dann. Als Begründung für seine Verurteilung zu Lagerhaft diente seine Tätigkeit als Pastor während der Nazizeit – ein Vorwand, mit dem man die meisten Pastoren des Baltikums eliminierte. In Sowjetlettland wurde die lutherische Kirche zum Feind, Verfolgung lettischer Pastoren, ihre Deportation und Liquidierung vor und nach der Besetzung durch Nazi-Deutschland war die Folge. Für die heutige lettische Gemeinde ist wichtig, dass Saulitis der erste lettische Pastor in der Geschichte Talsens war: „Ich muß noch erwähnen, dass Janis Saulitis der erste lettische Pastor in der lettischen Kirchengemeinde in der Ev. Luth. Kirche Talsi seit 700 Jahren war”35Liiga Ozolniece, Miarbeiterin der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Talsi in einer E-Mail an mich
In der Zarenzeit waren die Volksschulen oftmals den Pastoren unterstellt und diese hatten großen Anteil an der Bildung lettischer Kinder. Gleichzeitig war die lutherische Kirche auch Anker und Identifikationsinstitution der deutschen Volksgruppe; Deutschbalten und ihre Kirche bildeten eine Einheit, besonders während der sogenannten Russifizierung durch Alexander III. und nach dem Ersten Weltkrieg. Die Russifizierungsmaßnahmen des Zaren hatten zu verschärfter Nationalisierung der Konfession geführt. Die Gleichung Deutschtum gleich Luthertum wurde zum Leitbild der Deutschbalten. Besonders auf dem Lande und in den kleinen Städten hatten deutsche Pastoren – meistens während des Studiums in Dorpat pietistisch geprägt – starken Einfluss auf ihre Kirchenglieder, die sie zu großer Frömmigkeit anhielten. Meine Tante schreibt:
„Der hervorragendste Zug des Charakters meiner Mutter war die tiefe Frömmigkeit, die sie auch uns Kindern zu vermitteln suchte. An jedem Abend wurde eine kurze Andacht gehalten, etwa ein Lied aus dem Gesangbuch oder ein Psalm gelesen, öfter auch ein Choral gesungen, den meine Mutter auf dem Klavier begleitete… Auch war meine Mutter Mitglied des sogenannten „Armenvereins“ und war ständig bestrebt, notleidenden Mitmenschen zu helfen.“
Die übermäßige Betonung der Konfession, des Amtes und des Sakraments, die Strenge der Lehre führten allerdings auch zur Abwendung städtisch geprägter Deutscher von der Kirche. Nach außen war das nicht zu erkennen: Man ließ die Kinder taufen, heiratete kirchlich, ging an hohen Feiertagen zum Gottesdienst, wurde im Beisein eines Pastors begraben und pflegte im Übrigen das Deutschtum auch ohne christliche Begleitung. In solch relativ kirchenfremdem Elternhaus wuchs mein Vater auf.
Der soziale und kulturelle Aufstieg der Letten Ende des 19. Jahrhunderts führte zu wachsendem Einfluss lettischer Geistlicher. Diese neigten den Ideen der Herrnhuter Brüdergemeinde zu und betrachteten das deutsch-baltische Luthertum als Säule ständisch-deutscher Herrschaft mit Ablehnung. Die Betonung des Deutschen im Luthertum vergrößerte ihre Distanz zu den Deutschbalten. Christlich gesinnte Letten forderten die Trennung der Kirche nach ethnischer Herkunft. Sozialistisch-revolutionäre Letten wendeten sich später ganz gegen sie. Konflikte zwischen Letten und Deutschen konnten nicht ausbleiben. Mit dem Vormarsch der bolschewistischen Truppen nach Livland und Kurland kam es zu massivem Druck auf die Kirche. Zahlreiche deutsche Pastoren wurden ermordet, wurden sie doch als Vertreter deutschen Volkstums, der Oberschicht und als Gegner des revolutionären Weges angesehen. Nach der Gründung des lettischen Staates war der Einfluss deutscher Pastoren in den lettischen Gemeinden stark zurückgegangen, nur noch wenige waren im Amt, als sie 1939 das Land verließen.
Kurland und Livland
Zurück nach Riga fuhren wir am Rigaer Meerbusen entlang. Wir – Beate und ich – erinnerten uns im Gespräch an den Abzählreim, den unsere Eltern uns beigebracht – sie hätten gesagt: anjezeicht – hatten:
“Anku, dranku, drilla dru
chetter, faber, fiber, fu
am, damm – Ritterstamm
Vide, vide Hahnekamm.
Eins, zwei, drei Du bist frei.”
Der Vers ist ein deutsch-baltischer Kinderreim. Er stammt aus dem Livischen, der Sprache eines Volkes, das mehrere tausend Jahre auch an der Nordküste Kurlands lebte.
“Anku dranku drivel dru
Oskar Loorits: Volkslieder der Liven, Tartu 1936
tšetter pävel plvel pu ,
un dang vitte sang
vitte vitte anni kanni
je be te los!” *
Heute soll es nur noch wenige Menschen geben, die diese finno-ugrische Sprache aktiv sprechen, vielleicht noch die Erforscher des Livischen in Estland, Finnland und Lettland. Es gibt Versuche, das Livische zu erhalten. Ein Kulturverein organisiert Livischunterricht und versucht es auf diese Weise. Ob das gelingt?
Meinen Erinnerungen nach gab es zwischen meinen Eltern von Zeit zu Zeit kleine freundliche Sticheleien über ihre unterschiedliche Herkunft, wie man sie auch zwischen Angehörigen verschiedener deutscher Länder kennt. Meine Mutter war Kurländerin, mein Vater kam aus Livland. Es fielen auch die Begriffe Lettgallen und Semgallen. Uns Kinder verwirrte das, wir wussten nur, beide kamen aus Lettland, weit weg aus dem Osten, in unserer Kindheit Sowjetunion, unerreichbar. Für uns war alles dasselbe. Es konnte vorkommen, dass wir Kinder auch Litauen zum Baltikum zählten, was bei den Eltern auf strikte Ablehnung stieß. Vor Antritt der Reise wusste ich die Landesteile Lettlands nach ihrer geografischen Lage sehr wohl zu unterscheiden, aber worin irgendwelche Unterschiede ihrer damaligen Bewohner bestehen könnten, war mir nicht klar, schon gar nicht, woraus die Unterschiede sich geschichtlich haben entwickeln können.
Julius Eckardt – mein Chronist von 1868 – schreibt, dass die Menschen in Kurland und Livland unterschiedlichen kulturellen Einflüssen ausgesetzt waren. Unterschiedliche Lebensumstände im Lauf der Jahrhunderte hatten sie geformt: Livland war zeitweise polnisch, dann schwedisch, anschließend nach dem Friedensschluss von Nystadt russisch. Kurland war de facto lange ein selbständiges Herzogtum gewesen und kam achtzig Jahre nach Livland erst in russische Hände. In Kurland war lange Frieden gewesen, Livland durch Kriege jedoch nicht zur Ruhe gekommen. Und Julius Eckardt malt ein idyllisches Bild von Kurland:
„Weizen- und Gerstenfelder wechseln mit fetten Wiesen, nur ausnahmsweise reckt ein wüst gebliebener Moorhügel sein moosbedecktes Haupt empor, um den ewig jagdlustigen Sohn des Landes zu einer ,,Skrauja« einzuladen.“36Julius Eckardt: Die baltischen Provinzen Rußlands, Politische und culturgeschichtliche Aufsätze, Leipzig 1868 .
Wieder so ein Wort, das ich nicht kenne. “»Skrauja« riefen lettischen Treiber bei der Jagd und … machen dabei mit Jauchzen, Pfeifen, Schreien und Klatschen einen Lärm, der selbst einen Diogenes aus seinem Fasse zu scheuchen vermöchte, geschweige das arme scheue Wild. Ihr gewöhnlicher Jagdruf, in articulierte und buchstabificirte Laute gefaßt, heißt »Skrauja! Skrauja!« Doch beschreibt und articuliert es Niemand so leicht, mit wie vielen schreckhaften Variationen und Nebentönen dieß Skrauja im Walde erklingt”, erklärt J.G. Kohl, der 184137G.J. Kohl Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen, Dresden, Leipzig 1841 dem staunenden deutschen Publikum „Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen“ unter dem Motto: “Du weiter Ost, wo allgemach, des deutschen Volkes Well‘ erstirbt“ vorstellt. Was er wohl mit der Welles deutschen Volkes meint, die im Osten allmählich erstirbt?
„Rechts und links von der breiten Heerstraße, die die alte Residenzstadt Mitau mit den Häfen der Westküste (Libau und Windau) und den zahlreichen kleinen Städten und Flecken des Unterlandes (so heißt dieser gesegnete Landstrich) verbindet, sehen spitze, meist grün angestrichene Kirchthürme, stolze Edelhöfe, behäbige Pastoratswidmen, und zahlreiche Bauernhäuser meist von wohlgepflegten Obstgärten umgeben, über den wellenförmigen Boden, der den ursprünglich maritimen Charakter der weiten Ebene bezeichnet, freundlich ins Land. Alles athmet Behagen und aufstrebenden Wohlstand; die Wirthshäuser (Krüge), in welchen der Wanderer einkehrt, sind sauber und den Ansprüchen zivilisierter Menschen entsprechend eingerichtet, in der »deutschen Stube« wird der Gast von einer freundlichen, das Deutsche geläufig redenden lettischen oder halblettischen Wirthin empfangen und wenn er in die nebenan liegende Schenkstube tritt, kann er in den meisten Fällen darauf rechnen, von den jungen Bauerburschen, die hier beim Glase beisammensitzen, verstanden zu werden. In keinem Theil des baltischen Landes ist der deutsch-protestantische Charakter der Cultur so deutlich ausgeprägt, wie in diesem, nirgend ist die Germanisation so weit vorgedrungen wie hier, nirgend von fremden Elementen so wenig zu spüren, wie in Unter-Kurland.“
Auch Livland wird charakterisiert:
„Das breite Bett der majestätischen Düna bildet die Grenze zwischen Kur- und Livland; hat man bei Olay die Provinzialgrenze überschritten und über Riga seinen Weg in das Herz Livlands genommen, so befindet man sich in einer Welt, die trotz vielfacher Aehnlichkeiten mit der kurischen, doch eine andere, von jener verschiedene ist. Schon das veränderte Bild der Landschaft erinnert den Wandrer daran, daß er weiter nach Norden vorgerückt ist. Der düstere, tief-melancholische Tannenwald, der allenthalben den Horizont umgrenzt, läßt errathen, daß der Kampf mit der Natur hier ungleich schwerer gewesen, als auf den Ebenen Kurlands, daß die Menschen zwischen Riga und Pernau entfernter von einander wohnen und ein größeres Stück Culturarbeit vor sich haben, als ihre Brüder jenseits des prächtigen Stromes, von dessen Wogen die ersten deutschen Colonisten an das baltische Ufer getragen wurden. Anspann und Gefährte der Bauern, die uns begegnen, lassen auch in Livland auf einen gewissen Wohlstand schließen, — aber dem kundigen Auge verräth der mangelhafte Eisenbeschlag der Räder bald, daß diese Wohlhabenheit eine junge, noch werdende ist. Auch die bäuerlichen Gehöfte, die aus dem Birkengehege sichtbar werden, das das eintönige Dunkel der Tannen und Föhren hin und wieder unterbricht, nehmen sich minder stattlich aus wie in Kurland, das Strohdach herrscht noch ziemlich allgemein vor…Satt der endlosen, nur von Bächen durchschnittenen Ebenen, die wir drüben fanden, tritt uns hier das Bild eines Hügellandes entgegen, das von einzelnen Höhenzügen, selbst von zwei beträchtlichen Plateaus gekrönt ist. Die Flüsse sind breiter und zahlreicher und nur dem harten Geschick des Landes, von welchem zahlreiche Burg-Ruinen ein lebendiges Zeugniß ablegen, ist es zuzuschreiben, daß ihre Schiffbarmachung erst heute in der Entstehung begriffen ist“* Dann folgt seine Beschreibung dem Blick nach Norden: „ Bei Walk verschwindet der blaue Rock, an welchem der Lette erkennbar ist, an seine Stelle tritt das lange schwarze Gewand des langhaarigen Esten, dem sich allerdings größere Energie und Charakterkraft nachrühmen läßt, der sich aber gegen die Einflüsse deutscher Cultur entschiedener abschließt als der lettische Bewohner Kurlands und des südlichen Livland. Hier begegnen uns die ersten Dörfer d. h. Complexe von 5 bis 10 Bauernhöfen, wie sie der geselligeren Natur des Esten Bedürfniß sind. Immer dichter und finsterer werden die Wälder, immer unansehnlicher und schmutziger die Bauernhäuser, denn obgleich der nordwestliche Theil Livlands, dank der ergiebigen Flachscultur, zu den wohlhabendsten Gegenden des Ostseelandes zählt, stehen seine Bewohner in Bezug auf ihre Ansprüche an Comfort und Reinlichkeit hinter den Letten zurück, wird hier noch manches Haus ohne Schornstein und mit niedrigen, schmutzigen Fenstern gefunden, dessen Besitzer sein Vermögen nach Tausenden zählt. Im äußersten Norden Livlands und in Estland treten Unreinlichkeit und Armuth immer widriger in den Vordergrund. Hier ist die Frohne noch vor wenigen Jahren, vielleicht Monaten herrschend gewesen, das Pachtsystem eine neue Errungenschaft, der bäuerliche Grundbesitz eine seltene Ausnahme.“
Soweit die Beschreibungen von 1868. Zur geschichtlichen Entwicklung führt Eckardt sinngemäß aus: Im Mittelalter verband man mit dem Namen Livland die drei Provinzen Estland, Livland und Kurland. Sie bildeten bis zum 15ten Jahrhundert einen Föderalstaat, formal mit dem römisch-deutschen Kaiser und dem Papst als höchste Oberherren, ein Sammel- und Tummelplatz deutscher Ritter, Priester, Kaufleute, Glücksritter. Esten, Letten , Kuren und Liven – die Völker der Ureinwohner – mussten diese als Landesherren anerkennen, ihnen dienen, auch wenn sie sich zunächst mit Waffen in zahlreichen Aufständen dagegen wehrten. Schon früh drängten adlige Vasallen und das städtische Bürgertum an die Macht. Adlige dominierten die Landtage, ihre Lehnsherren – die Bischöfe und Ordensoberen – waren gezwungen, dort mit ihnen über gemeinsame Angelegenheiten zu verhandeln. Auch das Bürgertum wollte mehr und mehr beteiligt werden. Erbitterte Kämpfe waren unvermeidbar.
„Zu vollster Schroffheit ausgebildet, verhinderte das Feudalsystem jede gesunde staatliche Entwickelung; indessen Russen, Schweden, Polen und Litauer kampfgerüstet und eroberungslustig vor den Thoren des Landes standen, verbrauste die Kraft der Söhne desselben in wüstem Genuss und endlosem Hader; jedes Mannes Hand war gegen die des Nachbarn und allein die mächtige Heldengestalt des Meisters bildete einen Mittelpunkt für die widerstreitenden Interessen. Mit ihm sank auch der alte, innerlich ausgehöhlte Bundesstaat ins Grab.“38Julius Eckardt: Die baltischen Provinzen Rußlands, Politische und culturgeschichtliche Aufsätze, Leipzig 1868 – lese ich bei Julius Eckardt.
Die Reformation kam von Westen ins Land. Ivan der Schreckliche drängte mit Schrecklichkeit von Osten hinein, ebenso auch Schweden und Polen von Süden. Das alte Livland zerfiel und wurde teilweise polnisch, auch Riga. Deutsche durften nach Zusicherung lutherisch bleiben, ihre Sprache sprechen, alte Rechte und Selbstverwaltung behalten und dem Adel wurde ein „unbeschränktes Dispositionsrecht über die Bauern“ vom polnischen König zugesprochen. Es kam aber anders. Unter polnischer Herrschaft wurden die Menschen zur Rückkehr zum katholischen Glauben gezwungen und „die garantierte Verfassung durch wiederholte Octroyirungen unkenntlich verändert, Recht und Herkommen mit Füßen getreten …“. Bauern verelendeten. Der Adel, polnische Beamte und Soldaten beuteten sie rücksichtslos aus. Gustav Adolf von Schweden machte dem um 1600 in Livland ein Ende, Estland war schon länger schwedisch. Schwedens Herrschaft war in seiner Wirkung zweigeteilt. Zunächst war alles gut, es „war des Jubels darüber, dass man der argen Polenwirthschaft entronnen und in einen protestantischen Staatsverband getreten war, kein Ende.“ Schulen und Kirchen, in Dorpat die Universität wurden neu gegründet, die Verwaltung und Justiz reformiert, die Leibeigenschaft eingeschränkt, bis … Karl XI zur Macht kam, und mit ihm ein erneuter Untergang des Landes einsetzte, der sich bis zum Nordischen Krieg, mit weiterer Verwüstung und Verelendung der Bauern hinzog. Peter der Große zusammen mit Sachsen-Polen, Dänemark und Norwegen griffen die Schweden an.
„ ...nach hartem Kampfe und verzweifelter Gegenwehr wurde der Zaar des Küstenstrichs Meister. Erst nachdem er Ritterschaft und Städten ihre alten Privilegien bestätigt hatte, huldigten diese dem neuen Landesherrn durch Confirmation der sog. Accordpunkte, später durch die Bestimmungen des Nystädter Friedens wurde Peter für sich und seine Nachkommen verpflichtet, die Herrschaft der lutherischen Kirche, des deutschen Rechts und der Sprache und der angestammten Verfassung in seinen neuen Provinzen Liv- und Estland anzuerkennen und für alle Zeit sicher zu stellen, der Livländer Privilegien auch eher zu ,,augmentiren« als zu »diminuiren“39Julius Eckardt: Die baltischen Provinzen Rußlands, Politische und culturgeschichtliche Aufsätze, Leipzig 1868
Dem Land aber ging es weiter schlecht, ebenso der größten Stadt Riga, bis in die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts hinein. Zunftordnung und Adelsdünkel waren verbreitet und verhinderten lange Zeit den wirtschaftlichen Aufschwung.
Dann aber begann ein neues Denken. Herder kam nach Riga, die Aufklärung wirkte. Ein wichtiges Buch erschien: Garlib Merkels „Die Letten“ wurde zur Anklageschrift gegen den Adel:
“Die Vernunft hat gesiegt und das Jahrhundert der Gerechtigkeit beginnt. feuriges Gefühl von Menschenwürde und Menschenrecht ergreift alle, auch die rohesten Nationen, weise Regenten erkennen ihre Bestimmung, Glück und Freunde und Licht um sich zu verbreiten…. Aber Wehe auch, tausendfaches Wehe den Tyrannen, die, statt durch Beyspiele belehrt, die Fessel allmählich lösen, sie nur fester zuziehen und die Unterdrückten durch Erdrosselung beruhigen wollen. Zu einer Zeit, da selbst der stolze Britte ringt, seinem Negersklaven Freiheit und Bürgerrechte zugestehen zu können, giebt es in Europa ganze Nationen, welche, der persönlichen Freiheit und des Aufstrebens unfähig erklärt, unter der Geissel der härtesten Despotie sich krümmen, das Grab ihrer freien Väter mit Sklavenketten umrasseln, ihr Feld für eine ihnen ewig fremde Menschenklasse pflügen und diese bereichern, indeß sie selbst der Hunger entseelt. Und wer tritt sie zu Boden? Fürsten? Nein! Ihr Mitbürger. Der Habsucht weniger Adlichen geopfert. stehen die Letten und Esthen als eine Null in der Völkerreihe da, bis einst – o daß die Weisheit der erhabenen großen Catharina, der Nachwelt diese Greuel erspare! – bis einst auch sie ihre Rechte mit Feuer und Schwerdt und dem Blut ihrer Despoten documetieren.“40 Garlib Merkel, Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts, Ein Beytrag zur Völker und Menschenkunde, Leipzig 1797
Hallescher Pietismus und Rationalismus förderten den Willen der lutherischen Geistlichkeit zur Volksbildung. 1816 bis 1819 wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, die lettischen und estnischen Bauern kamen frei, aber ohne Land aus der Armut nicht heraus, im Gegenteil, sie verelendeten völlig. In den 1840er Jahren erhofften sie sich Erlösung vom irdischen Übel durch die orthodoxe Kirche und konvertierten. Erst jetzt erkannten die deutschen Herren in Livland die Notwendigkeit eines Bauerngesetzes, das den armen Pächtern Landerwerb ermöglichte. Der Wohlstand in Livland aber blieb gering.
Ständige Streitigkeiten der Ritterschaft über das Verhältnis zu lettischen und estnischen Bauern, dadurch sich häufig ändernde Gesetze vertieften die Kluft zwischen Gutsbesitzern und Bauern, zwischen Deutschen auf der einen, Letten und Esten auf der anderen Seite. Allerdings spielte in Livland die Bürgerschaft eine erheblich bedeutendere Rolle als in Kurland, war der Adel schwächer, gab es mehr und größere, reichere Städte.
„Durch den Reichthum seiner Städte, den Besitz der Universität, einer polytechnischen Schule, einer aufstrebenden politischen Presse, der ersten baltischen Eisenbahn, endlich dadurch, daß Riga der Sitz des General-Gouverneurs und der baltischen Centralverwaltung ist, hat Livland ein gewisses geistiges Übergewicht über die Nachbarprovinzen gewonnen“***. Kurlands Geschichte verlief anders. Herzog Jakob Kettler machte Kurland ab 1642 zu einem Musterländchen. Nachfahren sind des Lobes voll: „ eine zahlreiche, gebildete Geistlichkeit legte die Grundlagen echter Gesittung, die Wohlhabenheit des Adels, die Gunst eines mildern Klimas und die größere Fruchtbarkeit des Landes, vor allem das gute Beispiel, welches der Herzog aus seinen zahlreichen Domänen gab, gestalteten die bäuerlichen Verhältnisse trotz der Fortdauer der Leibeigenschaft zu einem mindestens erträglichen Zustande. … Ein selten unterbrochener Frieden förderte Ackerbau und Viehzucht und begründete einen Wohlstand, der mit der Zeit so beträchtlich wurde, daß (nach dem Ausdruck eines Historikers) im 17. und 18. Jahrhundert selbst die kurischen Bettler zweispännig fuhren.“41G.J. Kohl Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen, Dresden, Leipzig 1841.
Doch fehlte es an einem starken Bürgerstand mit einem „auf das Bewusstsein des eigenen Werths gegründeten Bürgersinn“ Adlige hatten das Sagen, der Handel war unbedeutend. Julius Eckardt dazu:
„Kein Wunder, daß die Selbstherrlichkeit des Adels, dem jedes Gegengewicht mangelte, maßlos aufschoss, und daß das Bürgerthum Kurlands noch heute (1868) nicht dazu gelangt ist, sich die Grundlagen einer ebenbürtigen und selbständigen Existenz zu begründen.“
Dem Adel Unterkurlands wurde schon bald nach der Aufhebung der Leibeigenschaft bewusst, wie wichtig für das Gesamtwohl ein Wechsel von der Arbeitspacht zur Geldpacht sein würde. Er verzichtete freiwillig auf sein exklusives Recht auf Gutsbesitz, sodass Bauernhöfe zum Eigentum von Pächtern werden konnten. So im nordwestlichen Teil Kurlands. Ob sich durch die unterschiedliche Geschichte und Naturbeschaffenheit Livlands und Kurlands auch Unterschiede in den Charakteren herausgebildet haben? Unsere deutsch-baltischen Vorfahren sahen es so: Der Kurländer sei praktisch veranlagt, der grauen Theorie abhold, lieber probierend als studierend, der Livländer hingegen „durch den Einfluss des stärker entwickelten Stadtlebens mehr durch des Gedankens Blässe angekränkelt“.
Multikulti in den Ostseeprovinzen
Am nächsten Tag – ich wollte zum Geburtshaus meines Vaters nach Ligat fahren – konnte ich nicht gehen, mein Fuß war geschwollen. Ich hatte Zeit zu lesen und mir wurde bewusst, wie verzerrt der uns überlieferte Blick auf die baltischen Vorfahren ist. Die Erzählungen unserer Eltern gaben verständlicherweise die Binnensicht der Angehörigen einer Minderheit wieder, die sich jedoch als geistige, kulturelle und moralische Majorität fühlte. Mir ging auf, dass der gegenwärtig häufig gebrauchte politische Begriff der Parallelgesellschaft durchaus auf ihre Lebensweise innerhalb der Mehrheitsgesellschaft aus Letten bzw. Esten, Juden und Russen zutrifft. Sie betrachteten unreflektiert ihre Moralvorstellungen, ihre Religion, ihren Wertehorizont, ihre Lebensregeln als maßgebend für alle, Regeln aus den vergangenen Jahrhunderten, wie Deutscher gleich Herr und Lette gleich Bauer42 Im Estnischen ist der “Herr” in pejorativer Färbung (saks) auch etymologisch der Deutsche (sakslane) s. Karsten Brüggemann : Estnische Erinnerungsorte: Die Schlacht von Wenden gegen die Baltische Landeswehr im Juni 1919 als Höhepunkt der nationalen Geschichte “.
Dass das seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr stimmte, bemerkten sie nur ungern und nahmen das zunehmende Selbstbewusstsein der Letten und Esten infolge wachsender Bildung und sozialen Aufstiegs als undankbar und feindselig wahr.
Wie gestaltete sich ihr Zusammenleben mit den verschiedenen Volksgruppen bis in die Lebenszeit unserer Eltern, und wie wurden sie durch die multikulturelle Umgebung geprägt? Riga war bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine deutsche Stadt. Gebildete jedweder ethnischen Herkunft sprachen Deutsch. Verwaltung und Gerichtsbarkeit waren ständisch geprägt und deutsch, die Mehrheit der Menschen war es nicht. Besonders gering war der Anteil Deutscher in den kleineren Orten der Ostseeprovinzen. Trotzdem gaben sie auch hier den Ton an, auf den Gütern, in den Kirchen und Schulen.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begann für Letten und Esten eine Zeit nationalen Aufbruchs. Die bestehende Ordnung erodierte, erst allmählich, dann mit zunehmender Geschwindigkeit. Auch die russischen Eliten sahen die Zeit gekommen, die deutsche Vormacht in der russischen Provinz zu beenden, sie in das Zarenreich einzubinden. Das deutsche Selbstverständnis von den Ostseeprovinzen als deutsches Gemeinwesen geriet unter Druck, die sogenannte Russifizierung unter Alexander III. wurde zum deutschbaltischen Trauma. Keine Erzählung unserer Vorfahren über baltische Geschichte kommt ohne bedrückende Schilderungen dieser Zeit aus.
Was führte zu der neuen Politik des Zaren? Sein Vorgänger war durch ein Bombenattentat der Narodnaja Wolja ums Leben gekommen. Alexander wurde von der Vorstellung verfolgt, sein Reich sei von Anarchisten und Revolutionären durchsetzt. Die Geheimpolizei Ochrana sollte diese bekämpfen, durch Verbannung nach Sibirien möglichst eliminieren. Gleichzeitig sah der Zar eine „Überfremdung“ Russlands durch deutschen Einfluss. Russland, so wollte er es, sollte ein einheitliches Staatsgebilde werden ohne ethnische Unterschiede, religiöse und sprachliche Vielfalt. Das Reich sollte sich auf die slawische Nation, die orthodoxe Kirche und eine einheitliche Verwaltung durch zaristische Beamte stützen. Parlamentarische Institutionen und westeuropäischer Liberalismus waren Alexander III. ein Gräuel. Waren bis 1870 alle städtischen Schulen Rigas deutschsprachig gewesen, sodass deutsche und lettische Schüler die russische Sprache in ihrer Mehrheit nicht beherrschten, sollten nunmehr Russisch als Unterrichtssprache und das russische Schulsystem zur kulturellen Vereinheitlichung des Reichs führen. Obwohl der Bildungsstand in den Ostseeprovinzen den im russischen Reich weit überragte, wurde in den Schulen das russische Schulsystem eingeführt, russische Kultur zur Leitkultur erklärt. Ab 1887 war Russisch die einzige Unterrichtssprache: Боже, Царя храни43“Gott, schütze den Zaren” Zarenhymne in Rußland. Gleichzeitig geriet auch die lutherische Kirche unter Druck. Besaß sie ursprünglich den Rang einer Landeskirche und auch später, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, unter der Aufsicht des russischen Innenministeriums weitgehende Eigenständigkeit, wurde sie nach der Russifizierung in ihren Rechten stark beschnitten, selbst Kirchenbücher mussten auf russisch geführt werden. Es wurden auch Maßnahmen gegen lettische Rekonvertiten, die wieder lutherisch werden wollten, ergriffen und lutherische Pastoren machten sich strafbar, wenn sie solchen Letten die Sakramente spendeten44 res graeca: Nach dem russischen Kirchengesetz von 1832 und späteren Verordnungen war jede geistliche Handlung eines evangelischen Predigers an Gliedern der griechisch-orthodoxen Kirche strafbar. Nach: Alexander Burchard: “… alle Deine Wunder”: der letzte deutsche Probst in Riga erinnert sich (1872 – 1955), Schriftenreihe der Carl-Schirrengesellschaft, Bd. 10, 2009.
Die Russifizierungsmaßnahmen trafen auch die Juden. Unter der Regierung Alexanders II. hatten verschiedene liberale Reformen und Neuerungen die rechtliche Situation der Juden entschieden verbessert. Nun wurden die Anfänge dieser rechtlichen Emanzipation in den Ostseeprovinzen rückgängig gemacht. Die jüdische Bevölkerung war grob geteilt in Gebildete, die zu Wohlstand gelangt und oft in ihrer Lebensweise und Kultur deutsch geprägt waren, und in eine zweite, chassidisch-orthodoxe Gruppe. Die Ersteren begannen sich zu organisieren und gründeten eigene Vereine, wobei ihnen jedoch viele Rechte verwehrt blieben. Der Wunsch nach rechtlicher Gleichheit und kultureller Integration wurde stärker. Zionistische Ideen verbreiteten sich, ebenso die Idee eines Zusammenschlusses aller Juden Russlands. Die Bedeutung moderner Bildung trat ins jüdische Bewusstsein. In Riga wurde sogar eine Mädchen- und eine Gewerbeschule gegründet, was nicht ohne innerjüdische Konflikte ablief. Gleich welcher politischer oder sozialer Anschauung die einzelnen Juden auch waren, die Religion trennte sie von allen Christen, seien es Deutsche, Letten oder Russen.
Die Deutschen sahen in den politischen und rechtlichen Neuerungen einen eklatanten Verstoß gegen die Zusicherungen Peters I. von 1710. Viele zogen sich noch weiter in die deutsche Gemeinschaft zurück, Nationalismus griff um sich, die Abstammung wurde wichtiger als ständische Unterschiede es je gewesen waren. Nun wurden alle Deuschen zu “Balten”, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.
Letten nahmen die Russifizierung eher positiv auf, war sie in ihren Augen doch eher ein Schlag gegen die ständisch-deutsche Herrschaft. Auch den russischen Druck auf die lutherische Kirche empfanden sie nicht als gegen sich gerichtet, sondern als Beschneidung der Rechte der „Herrenkirche“. Es taten sich auch praktische Vorteile für sie auf, ein größerer Handlungsspielraum, der durch das Beherrschen der russischen Sprache weiter ins russische Reich hineinreichte. Beamtenlaufbahnen und Unternehmensgründungen wurden ihnen möglich. Und was die Sprache anbelangte, so hatten sie nur eine Fremdsprache gegen eine andere getauscht. Nach und nach wurde den Letten aber der Qualitätsverlust in den Schulen deutlich und sie bemerkten auch, dass ihr wachsendes Nationalbewusstsein auf russische Ablehnung traf. So wurde die russische Schule doch zunehmend als Instrument der Überfremdung begriffen. In den Revolutionstagen von 1905 forderten Letten die muttersprachliche Schulbildung, was eine Bindung an das zaristische Russland merklich störte. Die Revolution 1905 endete mit dem Oktobermanifest des Zaren Nikolai II., der Einführung eines Zweikammerparlaments in Russland und der Aufforderung zur geregelten Aushandlung von Konflikten.
Lettische Parteien entstanden entlang der ethnischen Grenze, entsprechend ihrer ideologischen Basis: Konservative, Liberale, Sozialisten. Wie ich in der Baltischen Monatsschrift vom November 1905 las, ging es den lettischen Sozialdemokraten neben der Neuordnung der ökonomischen Verhältnisse auch um eine nationale Neuordnung und sogar um das Recht der Abspaltung vom zaristischen Russland: „Mit den Proletariern aller andern Völker Rußlands schmachtet auch das lettische Proletariat unter dem Joche des Kapitals und der Selbstherrschaft, und daher stellt die lettische sozialdemokratische Partei gemeinsam mit andern sozialdemokratischen Organisationen als eine ihrer nächsten Aufgaben die auf, an Stelle der Selbstherrschaft des Zaren einen Freistaat (demokratische Republik) zu gründen, verbunden mit „Gleiche Rechte für alle Sprachen, d. h. nicht unterdrückter Gebrauch der Volkssprache im privaten und sozialen Leben, in den Schulen, Gerichten und andern Institutionen; Aufhebung der Stände, Privilegien, Abschaffung der Rangklassen (Tschins) und Orden, völlige Gleichheit aller Bürger, ohne Rücksicht auf Geburt, Glauben und Nationalität“45 Programm der Partei der lettischen Sozialdemokraten, Baltische Monatsschrift Heft 11, 1905
Ein Teil der Deutschen hatte die Lektion aus der Revolution gelernt und gründete eine liberale Partei, die alle ethnischen Gruppen integrieren sollte. Im Gründungsaufruf dieser Baltischen Konstitutionellen Partei heißt es: „…Es ist daher hohe Zeit, daß, nachdem uns die Garantien für die bürgerliche Freiheit nach dem erklärten unbeugsamen Willen Sr. Majestät gegeben sind, alle Bewohner unsrer baltischen Lande, ohne Unterschied des Standes, der Nationalität und Konfession sich zusammenschließen zur Wahrung und Ausgestaltung der uns gewährten Freiheit, zur Wiederherstellung geordneter Zustände auf dem Wege friedlicher Arbeit und zur Durchführung zeitgemäßer Reformen, bei denen es insbesondere das Wohl der unbemittelten Bevölkerungsklassen zu heben gilt. Geleitet von diesen Gesichtspunkten und durchdrungen von dem Gedanken, daß nicht allein die Staatsgewalt, sondern vor allem die bürgerliche Gesellschaft selbst den richtigen Ausweg aus diesen Wirrnissen zu suchen und zu finden hat, tritt eine Partei zusammen, welche unter dem Namen Baltische konstitutionelle Partei die nachstehenden grundlegenden Programmpunkte angenommen und festgestellt hat.“ Unter anderem heißt es: „4) Gesetzliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit, der Unantastbarkeit der Person, der Freiheit in Wort und Schrift, der Vereins- und Versammlungsfreiheit; Aufhebung sämtlicher die Religionsfreiheit einschränkender Bestimmungen. Gleichstellung aller Staatsbürger vor dem Gesetz, unter Aufhebung aller bisher einzelne Bevölkerungsgruppen, Konfessionen und Nationalitäten einschränkenden Bestimmungen.“46 Aufruf und Programm der baltischen konstitutionellen Partei, Baltische Monatsschrift Heft 11, 1905.
Der Aufruf fand breite Zustimmung in Reval, Dorpat und Mitau. Die Liberalen konnten sich aber nur die konstitutionelle Monarchie als Staatsform denken, allgemeines Wahlrecht dagegen nicht. Patriarchale Denkweise mit Sorge für Bildung und soziale Absicherung sind kennzeichnend, ebenso auch die Forderungen nach rechtlicher und politischer Emanzipation der Juden, nach Gleichberechtigung und kultureller Eigenständigkeit aller Nationalitäten innerhalb föderaler Staatsstrukturen. An der wirtschaftlichen Basis – den Besitzverhältnissen auf dem Lande – wollten sie nichts ändern. Letten und Esten konnten sie damit für ihre Ideen nicht gewinnen. So blieben liberale Deutschbalten unter sich und ihr Liberalismus von begrenzter Wirkung.
Eltern
In diese Zeit wurden meine Eltern hineingeboren. Meine Mutter wuchs in kleinstädtischem kurländischen Milieu auf, fromm und im Geist der Bedrohung des Deutschtums durch eine tendenziell unfreundliche Umgebung erzogen, mit Werten wie: Leben von eigener Hände Arbeit, Ehrlichkeit, Geradheit und Eigenverantwortung. Sie lernte früh die Sprache des Reichs – Russisch – in der Schule, Lettisch im täglichen Leben und den Umgang mit Menschen anderer Herkunft:
„Nun hieß es, alle Fächer in russischer Sprache zu lernen. Nur Religion war deutsch, außerdem deutsche Sprachstunden. Die Lehrerinnen waren vielfach reine Russinnen, die kein Wort Deutsch konnten, – aber so lernte man die Sprache am besten. Wir waren alle gleich gekleidet, braune Wollkleider mit weißem Kragen, schwarze Trägerschürzen, – so war es wie eine Uniform. In meiner Klasse waren wir 40 Mädchen, ich die einzige Deutsche unter Jüdinnen und Lettinnen. Ich führe dieses an, damit ihr Euch ein Bild von der Isoliertheit der Deutschen im Baltikum überhaupt macht, – so war es ungefähr im ganzen Lande.“
Sie kaufte bei Juden ein, Letten waren ihre Nachbarn und als sie die Gärtnerei als Chefin übernommen hatte, waren all diese ihre Kunden. Bei aller Betonung des Deutschtums: „Es ist nur dem starken Nationalgefühl der deutschen Bevölkerung zuzuschreiben, dass sie sich behaupten konnten und nicht von den Andersstämmigen aufgesogen wurden“, erzog sie uns Kinder in Respekt vor jedem Menschen anderer Herkunft und Lebensart und im Geist christlicher Verantwortung für andere.
Das Elternhaus meines Vaters war sehr bürgerlich, seine Jugend war geprägt von Wohlstand und Umgang mit deutschen Gleichaltrigen.
„Im Hause meiner Eltern hatte ich ein breites und bequemes Leben kennengelernt, ein Leben, das man durchaus als „herrschaftlich“ bezeichnen könnte. Es hat, trotz gewisser Einschnitte in den Kriegsjahren, an nichts gefehlt. Die niederen Arbeiten waren auf fremde Schultern verteilt. Wir Kinder vergnügten uns, so gut es eben ging und hatten keine eigentlichen Pflichten. Wir wurden schlichtweg verwöhnt. Hinzu kam, dass wir als Deutsche, schon die Eltern und ganze Generationen davor, selbstverständlich beanspruchten, Herren des Landes zu sein, also nicht nur etwas Besseres darstellten, sondern das Eigentliche. Die höhere Schule und die Zeit als Farbenstudent haben zusätzlich dazu beigetragen, ein Elitebewusstsein in mir zu prägen.“
Er wurde zunächst im Hause durch Hauslehrer unterrichtet – auch durch seine Mutter, zwischendurch während des Ersten Weltkriegs durch eine Cousine und einen Vetter. Dann musste er doch noch eine russische Schule besuchen und nach der Gründung des lettischen Staates das Gymnasium in Riga. Hatte er vorher Letten nur in der Fabrik gesehen, wurde er jetzt in deren Sprache unterrichtet, die er aber erst beherrschen lernte, als er am inzwischen lettischsprachigen Polytechnikum in Riga zu studieren beabsichtigte. Auch während des Studiums bewegte er sich unter den deutschen Kommilitonen in der Studentenverbindung Fraternitas Baltica. Erst nach Abbruch seines Studiums kam er in engen Kontakt mit Letten in der lettischen Armee, in der er als Kavallerist dienen musste, in verschiedener Hinsicht eine schwere Zeit für ihn:
„Nun aber begann die Zeit des Umlernens. Ich musste, durch die Umstände geboten, von meinem hohen Ross herabsteigen und auf ein anderes, dazu ein sehr lebendiges aufsteigen. Ich wurde Soldat. Das konnte nicht ohne Schmerzen und manche Demütigung abgehen….fiel es mir vermutlich schwerer als manchen Kameraden, mich wirklich einzugliedern und mich klein genug zu machen. Aber ich lernte schließlich doch, mich zu beherrschen, Dinge hinzunehmen und die Welt nur so zu betrachten, wie ich sie in meiner Montur und unter dem Käppirand hervor erkennen konnte”.
Die Soldatenzeit war für ihn 1932 zu Ende. Nun musste er mit 26 Jahren eine Lehre als Gärtner in Deutschland beginnen. Seine politischen Anschauungen waren die eines deutschbaltischen jungen Mannes, national und elitär, so dass ihn Hitlers Reden durchaus bewegten:
„einzig, daß ich im Unterbewußtsein zu verspüren glaubte, daß er etwas zu großspurig auftrete. In meiner politischen Naivität aber, genährt aus rein völkischen Emotionen, erweckte er in mir einen Widerhall. Natürlich war ich gar nicht in der Lage, das eigentliche Wesen des Nationalsozialismus zu erfassen.“
Ein Kompass, wie ihn meine Mutter durch ihre Frömmigkeit hatte, fehlte ihm. Sie hat ihn später in Posen davor bewahrt, der Waffen-SS beizutreten und wesentlich dazu beigetragen, ihm das Verbrecherische des Naziregimes begreiflich zu machen.
Noch einmal Kurland und dann heimwärts
Die Zeit in Riga war um, Beate flog nach Deutschland zurück, wir machten uns auf den Weg nach Kurland und fuhren über Mitau nach Talsen. Da ich den Landsitz des ehemaligen Rigaer Bürgermeisters George Armitstead, den Beate und ich besucht hatten, auch Brigitte und Nicole zeigen wollte, machten wir einen kurzen Halt in Jaunmoku pils. Dann ging es noch einmal nach Talsen. Wir stiegen dort nicht aus, trudelten durch die Stadt, fuhren dann zum Pastorat. Mein Führer von vor drei Tagen freute sich offensichtlich, mich noch einmal zu sehen. Nach kurzen Hallo ging es weiter in Richtung Norden durch die Kurische Schweiz mit blühenden Wiesen, auch hier wieder Storchennester auf den Elektromasten. Ganz im Norden Kurlands liegen die livischen Dörfer. An einem Strand stiegen wir aus: Kap Kolka, graublau verschwimmen Meer und Himmel.
Unser Weg führte uns weiter an der See entlang nach Ventspils – Windau. Das Hotel „Vilnis“ liegt in einem Stadtteil aus Sowjetzeiten, helle Ziegelbauten, ein irgendwie trauriger Anblick. Gäste gab es außer uns kaum. Auch diese Leere machte traurig. Das Hotel war in sowjetischen Zeiten sicherlich das beste in der Stadt, das Restaurant hatte noch immer diesen Allunionsglanz der besseren Hotels, wie er uns von Reisen durch das Land Lenins vertraut war. Inzwischen abgeschafft ist jedoch die “Klutschmutter“. So nannten wir die zu Sowjetzeiten auf jeder Etage sitzende Hotelbedienstete, die die Schlüssel (kljutschi ) verwaltete und darauf achtete, keine unbefugten Personen in die Zimmer zu lassen.
Wir fuhren in die Stadt, um einen Eindruck von ihr zu bekommen. Ventspils, mit seinen 40.000 Einwohnern, gehört zu den bedeutenderen Orten Lettlands. Historisch war Windau eine wichtige Handels- und Hafenstadt und hatte zeitweilig den profitabelsten Hafen des russischen Reiches. 2014 sollte Ventspils die wohlhabendste Stadt Lettlands sein, mit der schillernden Figur Aivars Lembergs als Bürgermeister. Die Altstadt liegt auf der anderen Seite des Flusses Venta (auf Deutsch Windau), kleinstädtische Anmutung, relativ viel Grün, sehr viel Platz zwischen den Gebäuden.
Wir fanden die Ordensburg. Ein Besuch war nicht mehr möglich, man schloss gerade die Pforten. Der Abend war bereits hereingebrochen, wegen der immer noch hochstehenden Junisonne aber nicht erkennbar. Das Kellerrestaurant des Schlosses, der „Pils Krogs Melnais Sivens (Schwarzes Ferkel)“, war geöffnet. Eine sehr freundliche Kellnerin brachte uns wohlschmeckendes Bier, auch das Essen war gut.
In dieser Stadt nahmen meine Eltern und meine Tante mit ihrem Mann Oskar Martinelli 1939 endgültig Abschied vom Baltikum. Der Dampfer „Orotava“ brachte sie nach Stettin, und es begann für meine Eltern ein sehr schwerer Lebensabschnitt, eine Zeit, in der sie selbst Schuld auf sich luden, Schuld, die sie dann durch erneute Flucht nach Westen büßen mussten – wie meine Mutter sich später ausdrückte.
„Am 14. November 1939 war der Tag unserer Abreise. Wir verließen am Abend das Pastorat und unser Kutscher Ernst Großwalds begleitete uns zum Auto…. Auf der Bahnstation Stenden erwarteten uns schon die Verwandten, meine alte Mutter, Schwager und Schwester und die Bekannten. Wir fuhren im Sonderzug nach Windau, wo wir erst ausgebürgert und dann in einen Bananendampfer verfrachtet wurden. Am Abend verließ das Schiff den Hafen. Wir standen … auf Deck, schweigend . Wir erlebten es, wie die Küste Kurlands vor unseren Augen undeutlich wurde und dann ganz verschwand…“
Ihr Leben lang sehnte meine Mutter sich nach ihrer Heimat, die sie verloren hatte – ein immer schmerzender Verlust. Dennoch: meine Eltern waren am Leben geblieben und haben ihren Kindern in neuer Umgebung eine schöne Kindheit ermöglichen können.
Die im Baltikum zurückgebliebene Mehrheitsgesellschaft musste die Okkupation des Landes durch die Sowjetunion und das faschistische Deutschland überleben und fast ein Menschenleben warten, um in eigenem Staat leben zu können. Unvorstellbares Leid wurde den im Land verbliebenen Juden vor ihrem grausamen Tod von den 1941 zurückgekommenen Deutschen und willigen einheimischen Helfern zugefügt. Wenige nur überlebten.
Am nächsten Tag begann unsere gemächliche Rückfahrt an der Küste entlang in Richtung Klaipeda. Wir stiegen von Zeit zu Zeit aus, um an den jeweiligen Strand zu treten. Liepaja – Libau passierten wir mit kurzem Stopp und abends erwartete uns ein modernes, sehr komfortables Hotel in Klaipeda. Von hier aus fuhren wir am Pfingstsonntag auf die Kurischen Nehrung und besuchen in Nida – Nidden das Thomas-Mann-Haus.
Dann lagen vor uns 1200 km Autofahrt. In Torun blieben wir eine Nacht nach einer schönen Fahrt durch Masuren. Eine weitere Tagestour brachte uns nach Berlin, wo wir uns von Nicole verabschiedeten.