Kunst geht nach Brot

Der Prinz. Guten Morgen, Conti. Wie leben Sie? Was macht die Kunst?
Conti. Prinz, die Kunst geht nach Brot1.
Der Prinz. Das muß sie nicht; das soll sie nicht – in meinem kleinen Gebiete gewiß nicht. – Aber der Künstler muß auch arbeiten wollen.
Conti. Arbeiten? Das ist seine Lust. Nur zu viel arbeiten müssen kann ihn um den Namen Künstler bringen.

Gotthold Ephraim Lessing – Emilia Galotti


Berlin war ein Leuchtturm der künstlerischen Freiheit. Gaza hat alles verändert.
Die Heimat Grenzen überschreitender Künstler aus der ganzen Welt wurde durch Debatten darüber, was über Israel und den Krieg gesagt werden darf und was nicht, auf den Kopf gestellt.

lese ich in der Überschrift zu einem Beitrag von Jason Farago (NewYork Times vom 6. April).
Am Anfang des Artikels wird Laurie Andersons Rückzug von der Pina-Bausch-Professur an der Folkwang Universität der Künste beschrieben. Es war bekannt geworden, dass sie Unterzeichnerin des “Letter Against Apardheid2” gewesen war. Die Universität bat um eine politische Erklärung ihrer Haltung, die abzugeben sie ablehnte: For me the question isn’t whether my political opinions have shifted. The real question is this: Why is this question being asked in the first place? Based on this situation I withdraw from the project. My colleagues at the University and the Pina Bausch Foundation have discussed this with me at great length and we have jointly decided this is the best way forward.3”, so Anderson.

Ok, für Laurie Anderson war diese Professur sicherlich nicht lebenswichtig, das Bohai darum aber gut für sie. Ich denke, jede mediale Aufmerksamkeit hat – wie das Finanzamt sagen würde – einen geldwerten Vorteil. Auch für andere der Kunstszene. Doch sehr viele Menschen dort benötigen für ihre Arbeit und ihr persönliches Leben Geld, das der deutsche Staat in historisch bisher unerreicht dicker Mäzenatengeldbörse4 bereithält. 
Auch dieses Geld hat gewiss manche der Grenzen überschreitender Künstler aus der ganzen Welt nach Deutschland und Berlin gezogen, neben den im Gegensatz zu anderen Weltstädten moderaten Mieten, der nach 1990 rasant gewachsenen Off-Szene in Berlin und dem Gefühl, wo alle hingehen, da will auch ich sein.

Und nun kommt 20223 der Überfall der Hamas auf Israel dem Künstlerleben in die Quere – quel malheur d’avoir une vache et pas de beurre!!! Und, da man tatsächlich nur wenig selbst vom Krieg betroffen war, beschoss man sich mit wechselseitigen Anfeindungen: du Antisemit! und du zionistischer Kolonialist und Mörder! :

Originalton Jason Farago in der NYT:
Die Preise wurden zurückgezogen. Konferenzen abgesagt. Plays taken off the boards5. Kulturschaffende haben der Regierung vorgeschlagen, die Finanzierung daran zu knüpfen, was Künstler und Institutionen über den Konflikt sagen, und in den Medien – sowohl traditionellen als auch sozialen – wimmelt es von öffentlichen Verunglimpfungen dieses Schriftstellers, jenes Künstlers, dieses DJs, dieser Tänzerin. Die Ausladungen führten zu Gegenboykotten. Und ein Klima von Angst und Vorwürfen vergiftet das Künstlerleben in Berlin.
Fargo nennt das eine sehr deutsche Geschichte:
Die Schuld für den Holocaust verpflichte die Kulturinstitutionen noch immer zum Schuldbekenntnis und zur Sühne und führe zur Unterstützung Deutschlands für Israel und zu strengen Grenzen der Kritik an dem Land. Künstler auf der ganzen Welt – von der Oscarverleihung bis zur Whitney Biennale – würden sich lautstark über den Krieg äußern. Doch in Deutschland hätten solche Aussagen einen hohen Preis: abgesagte Aufführungen, verlorene Finanzierung und Vorwürfe des Antisemitismus in einer Gesellschaft, in der keine Anklage schwerwiegender sei. Es gäbe ein Gefühl der Angst.
Ich frage mich, warum Angst? Wovor Angst? Angst muss man in Israel vor der Hamas haben und im Gaza-Streifen, von Bomben getötet oder mehr oder weniger versehentlich als feindlicher Kombattant erschossen zu werden. Aber in Berlin? Weil man eine Meinung äußert ? Ok, die Finanzierung eines eigenen Projektes ist natürlich auch etwas. Es kann schon sein, dass man nach einem “From the River to the Sea Palestine Will be Free” – Posting sein Projekt erklären muss oder dass man in einer großen deutschen Zeitung kritisiert wird. Doch zur Beruhigung der Gemüter: Demonstrationen unter diesem Slogan kann man in Deutschland richterlich bestätigt abhalten6. Man darf wirklich noch seine Meinung in Deutschland äußern, auch wenn
der chinesische Künstler Ai Weiwei meint: „Immer wenn ich von deutschen Regierungsbeamten höre, die die Meinungsfreiheit von Künstlern einschränken, erfüllt mich das mit Verzweiflung.“ Welche Regierungsbeamte meint er? Er denkt vielleicht, wenn andere ihre Meinung mit gleicher Vehemenz vortragen wie er selbst, sei seine Meinungsfreiheit eingeschränkt?

Jason Farago erkennt sehr wohl den wachsenden Antisemitismus auch in der Kulturszene Deutschlands und beklagt die Reduzierung der Kulturausgaben im jetzigen Bundesetat:
Und das alles, während in Deutschland unbestreitbar antisemitische Rhetorik und sogar Gewalt zugenommen haben. Im Oktober warfen maskierte Angreifer Molotowcocktails auf eine Synagoge (sie verfehlten ihr Ziel; niemand wurde verletzt). Auf Regierungsgebäude und Wohnhäuser wurden antijüdische Beleidigungen und Davidsterne gemalt.
Als pro-palästinensische Aktivisten in den Hamburger Bahnhof kamen, eine der führenden Institutionen für zeitgenössische Kunst in Berlin, und den Direktor eines der jüdischen Museen des Landes mit Slogans wie „Zionismus ist ein Verbrechen“ beschimpften, bekräftigten sie die Überzeugung vieler, dass hier antiisraelische Rhetorik nur einen Schritt vom Antisemitismus entfernt ist7.

Der Autor mahnt Kulturpolitker zum Ende des Textes:
Sicherlich sollte diese Stadt inzwischen gelernt haben, dass es selten gut endet, wenn man die Kultur auf politische Ziele ausrichtet
Friedrich Schiller, meint er, sagte uns, wie Kultur und Regierung einander beeinflussen, denn er sah, dass die Künste kein aristokratischer Luxus und keine Dekoration wären, sondern der eigentliche Motor der menschlichen Freiheit. Schiller lehrte seine deutschen Landsleute 17958 :
Von allem, was positiv ist und was menschliche Conventionen einführten, ist die Kunst wie die Wissenschaft losgesprochen, und beide erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkür der Menschen. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht. Er kann den Wahrheitsfreund ächten, aber die Wahrheit besteht; er kann den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er nicht verfälschen. Zwar ist nichts gewöhnlicher, als daß beide, Wissenschaft und Kunst, dem Geist des Zeitalters huldigen, und der hervorbringende Geschmack von dem beurtheilenden das Gesetz empfängt. Wo der Charakter straff wird und sich verhärtet, da sehen wir die Wissenschaft streng ihre Grenzen bewachen und die Kunst in den schweren Fesseln der Regel gehen; wo der Charakter erschlafft und sich auflöst, da wird die Wissenschaft zu gefallen und die Kunst zu vergnügen streben. Ganze Jahrhunderte lang zeigen sich die Philosophen wie die Künstler geschäftig, Wahrheit und Schönheit in die Tiefen gemeiner Menschheit hinabzutauchen; jene gehen darin unter, aber mit eigener unzerstörbarer Lebenskraft ringen sich diese siegend empor.9

Ich denke, hier überteibt der Klassiker in seinem Wunsch nach Erhabenem. Es ist wohl ehr so, wie der Autor der NYT Tobias Haberkorn10 zitiert: „Menschen in Kultureinrichtungen sind risikoscheu. Wenn sie sich also entscheiden müssen: ‚Werde ich diesen oder jenen Künstler mit nahöstlichem Hintergrund einladen oder nicht?‘ Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sie nicht einladen. Nur um möglichen Ärger zu vermeiden.“ Und ich ergänze mit den Worten Lesings:

Die Kunst geht nach Brot.

  1. Büchmann: Citatenschatz des deutschen Volkes ↩︎
  2.  „Letter against Apartheid
    Zwischen dem 10. und 21. Mai feuerte Hamas 4.350 Raketen in israelische Städte hinein, 434 pro Tag, 13 Israelis wurden ermordet. Israel reagiert mit militärischen Mitteln, zerstört Abschussrampen in ziviler Infrastruktur. 248 Palästinenser wurden dabei getötet, kollateral oder auch Kämpfer der Hamas? Man kann es nicht wissen. Am 26. Mai erschien auf diversen Websites im BDS-Umfeld ein Letter Against Apartheid, den rund 250 palästinensische Künstler erstunterzeichneten. „Wir“, heißt es darin  „sind ein Volk, das durch die Architektur des israelischen Staates gewaltsam getrennt wird.“ … „Seit An-Nakba, dem Beginn der israelischen Siedlerkolonialherrschaft im Jahr 1948“  –  also seit Gründung des Staates Israel gemäß Beschluss der UN-Vollversammlung  –  „wurden unsere Gemeinschaften (…) gewaltsam zersplittert und ausgelöscht.“ Längst sei klar, „dass es keine Trennung zwischen dem israelischen Staat und seiner militärischen Besatzung gibt“: Die Existenz Israels und die „Besatzung“ bildeten zusammen ein „einziges Apartheidsystem“ und darum ein „Verbrechen gegen die Menschheit“. (Ruhrbarone) ↩︎
  3. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob sich meine politischen Ansichten geändert haben. Die eigentliche Frage ist die folgende: Warum wird diese Frage überhaupt gestellt? Aufgrund dieser Situation ziehe ich mich von dem Projekt zurück. Meine Kollegen an der Universität und die Pina Bausch Stiftung haben dies ausführlich mit mir besprochen und wir haben gemeinsam entschieden, dass dies der beste Weg ist. ↩︎
  4. Die Ausgaben für Kultur von Bund, Ländern und Gemeinden erhöhten sich zwischen 2005 und 2020 für Kultur von ca 8 Mrd auf 14,6 Mrd €, um ungefähr 82 %, während die Preise gleichem Zeitraum um ungefähr 24 % zunahmen. Allerdings waren das im Jahr 2020 nur ca. 1,9 % des Gesamthaushalts von Bund, Ländern und Gemeinden. Ob das viel oder wenig ist, um die Kulturaufgaben eines reichen Landes wahrzunehmen, muss jeder selbst beantworten. ↩︎
  5. “Plays taken off the boards” ist eine englische Redewendung, die oft im Zusammenhang mit Theater oder Sport verwendet wird. Im Theater bezieht sich “taken off the boards” auf die Entscheidung, ein Stück von der Bühne zu nehmen, es also nicht mehr aufzuführen. Im Sport kann es sich darauf beziehen, dass ein Spiel aus dem Spielplan genommen wird, möglicherweise aufgrund von Änderungen im Zeitplan, Verletzungen oder anderen Gründen (ChatGPT) ↩︎
  6. Im August 2023 hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden, dass die Parole “From the river to the sea” per se und für sich genommen noch nicht strafbar ist. In dem Urteil heißt es:
    „Zwar drückt der Slogan den Wunsch nach einem freien Palästina vom (Jordan)Fluss bis zum Mittelmeer aus, das heißt in einem Gebiet, in dem Israel in seinen heutigen Grenzen liegt. Der Slogan sagt aber als solches nichts darüber aus, wie dieses – politisch hoch umstrittene – Ziel erreicht werden soll. Grundsätzlich sind politisch verschiedene Mittel und Wege denkbar, dieses abstrakte Ziel zu erreichen, beispielsweise durch völkerrechtliche Verträge, eine Zwei-Staaten-Lösung, einen einheitlichen Staat mit gleichen Bürgerrechten für Israelis und Palästinenser oder aber mittels des bewaffneten Kampfes. Ob die aufgezeigten alternativen Wege politisch realistisch sind, ist dabei unerheblich. Einen zwingenden Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen Israel beinhaltet der Slogan als solcher jedenfalls nicht . Dementsprechend plädieren auch namhafte Antisemitismusforscher dafür, den Slogan in erster Linie als Ruf nach Freiheit und Gleichberechtigung für das Gebiet zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer zu verstehen und – wenn nicht zwingende zusätzliche Beweise das Gegenteil nahelegen – eben nicht als Aufruf zu Gewalt und Zerstörung.“  ↩︎
  7. Lohnend zu lesen ist der Beitrag von Mirjam Wenzel,Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt: Antisemitismus in deutschen Kultureinrichtungen ↩︎
  8. ich schreibe das Zitat in größerer Länge ↩︎
  9. Das Verhältnis von Kunstfreiheit und Politikeingriff durch Antisemitismusklauseln in der Kultur hat der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers in einem Gutachten dargelegt. ↩︎
  10. Herausgeber der Berliner Rezension ↩︎