Staatsraison?

Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.

Rudolf Dreßler – Botschafter in Israel 2000 – 2005

Auf Israels Seite zu stehen und sein Existenzrecht zu verteidigen, kann nicht bedeuten, alles, was eine israelische Regierung tut, bedingungslos zu unterstützen, vor allem nicht, wenn sie wie das jetzige Kriegskabinett handelt. Die Zeitung Ha’aretz beschrieb am Tag nach dem Überfall am 7. Oktober Netanyahus Regierung so:
Bewaffnete Milizen im Westjordanland mit Unterstützung der Regierung; die Rechtsstaatlichkeit wird immer schwächer; faschistische Elemente innerhalb der Regierung; ein nationaler Sicherheitsminister, der ein Versager ist; Knesset-Abgeordnete, die Mörder verherrlichen; eine Ansammlung ahnungsloser Likud-Minister, die über keine einschlägige Berufserfahrung verfügen.

Einen Krieg gegen eine kriminelle Organisation wie die Hamas zu führen, ist unter Achtung des Völkerrechts schwer. Zivilisten, Krankenhäuser, Schulen und soziale Einrichtungen werden von ihr als Schutzschilder benutzt. Dennoch ist Israel für das Schicksal der Zivilbevölkerung, für deren Gesundheit und Ernährung in ihren Einsatz- und Besatzungsgebieten verantwortlich! Diese Verantwortung wird nur ungenügend wahrgenommen. Dennoch bin ich nach dem halben Jahr Krieg in Gaza und dem Leid der Bevölkerung in Gaza überzeugt:
Der Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 war ein Angriff auf die Fundamente der Existenz dieses Staates durch die Terrororganisation Hamas. Ohne dieses Verbrechen wäre in Gaza niemand durch Israels Waffen gestorben oder verletzt worden.

So hatte ich von Beginn des Krieges an Verständnis für Israels militärische Antwort, Verständnis dafür, Hamas und ihre militärischen Fähigkeiten zerstören zu wollen, Terrorangriffe aus dem Gazastreifen heraus künftig unmöglich zu machen und die Bewohner Israels dauerhaft vor Angriffen zu schützen.
Fraglich war für mich von Beginn an, ob die Geiselbefreiung mit militärischer Gewalt möglich sein würde oder ob diese es vielmehr unmöglich machen würde, die Geiseln lebend zurückzuholen

Am 10. Oktober 2023 begann die Militäroperation „Eiserne Schwerter“  mit massiven Angriffen der israelischen Luftwaffe auf militärisch genutzte Objekte und Gebiete im Gazastreifen, am 27. Oktober 2023 dann die Bodenoffensive.
Die Bombardierung kostete tausenden Menschen in Gaza das Leben. Auch nach einem halben Jahr Krieg in Gaza wächst die Zahl der Getöteten, Kranke und Verwundete werden nicht versorgt, Nahrung und Wasser fehlen, da nicht genügend davon durch Israel ins Land gelassen wird. Übergroßes Leid ist über Gazas Zivilbevölkerung hereingebrochen. Diskussionen in der Weltöffentlichkeit über tatsächliche oder angebliche Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des Völkerrechts durch Israel gab es bereits kurz nach Beginn des Krieges. Diskutiert wurde und wird darüber, wie viele Zivilisten für einen Kombattanten getötet werden dürfen, ohne das Völkerrecht zu verletzen1,2. Das israelische Militär behauptet, alle Möglichkeiten des Schutzes von Zivilisten vor Schäden in Gaza zu ergreifen, spricht gar vom Goldstandard. Ein amerikanischer Militäranalyst verneint das explizit:
Es scheint, dass sich Israels Risikotoleranz gegenüber zivilen Schäden im Vergleich zu den erwarteten operativen Vorteilen erheblich von der Vergangenheit unterscheidet. US-Beamte, die sich mit israelischen Amtskollegen trafen, um den IDF-Prozess zur Berechnung der Zahl der Zivilisten, die als akzeptabler Kollateralschaden gelten, zu besprechen, sagten , dass die Messlatte Israels weitaus höher liegt als die der Vereinigten StaatenDer Ansatz der IDF für Vorsichtsmaßnahmen bleibt weit hinter dem Goldstandard für die Schadensminderung für die Zivilbevölkerung zurück. 3.

Humanitäre Hilfe von Außen bleibt mehr und mehr aus, auch wenn es eine zusätzliche Versorgung aus der Luft gibt. Israels Kriegskabinett hat jüngst entschieden, den Hafen von Aschdod sowie den Grenzübergang Erez vorübergehend für Hilfslieferungen zu öffnen.
Sieben Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Central Kitchen wurden bei einem israelischen Drohnenangriff in der vorigen Woche getötet. Netanyahu sagte dazu: “Leider ist es gestern zu einem tragischen Zwischenfall gekommen… Das passiert im Krieg …”. Das hört sich an wie Shit happens, denke ich4, Empathie und Schuldgefühl ist nicht zu erkennen5.

Ein „totaler Sieg“, den Premierminister Benjamin Netanyahu verspricht, wird nicht gelingen, wenn auch sehr viele Hamas-Kämpfer getötet wurden6. Doch es wachsen jeden Tag neue Feinde Israels heran, die zum Kämpfen und Sterben bereit sein werden, fürchte ich.

Wohin soll dieser Krieg für Israelis und Palästinenser führen? Ha’aretz hatte schon am 24.10.2023 an das Kriegskabinett die entscheidenden Fragen gestellt:
Eine Eskalation mag unvermeidlich sein, aber was ist Israels Endziel? Gibt es ein kohärentes, realisierbares politisches Ziel? Die Hamas so weit wie möglich zu zerschlagen und zu eliminieren, ist ein legitimes und berechtigtes Ziel, aber steht es im Einklang mit einem umfassenderen Ziel? Leiten sich militärische Ziele aus einer klaren politischen Vision vom „Tag danach“ ab? Eine Antwort darauf gibt es bis heute nicht.

Und was ist mit den Geiseln in der Hand der Hamas?
Einige israelische Geiseln kamen frei – nicht durch militärische Aktionen, sondern durch Verhandlungen. Geiseln, die die IDF hätte befreien können, wurden durch eigene Militärs versehentlich getötet und in einer Aktion mit mehr als 100 Zivilisten als Kollateralschaden wurden zwei Geiseln militärisch befreit. Mehrere Geiseln sind in der Geiselhaft gestorben, wie es den Lebenden heute geht, weiß die Welt nicht. Viele der Geiseln werden wohl in der Hand der Hamas sterben.

Und die Ziele der Hamas?
Ich glaubte schon am 8. Oktober, dass Hamas diese Eskalation ohne Rücksicht auf die eigenen Bürger in Gaza wollte. Je mehr Schaden und Leid in Gaza, desto größer würde die Wut und Empörung in den arabischen Ländern und in der Welt werden und alle Palästinenser würden sich dem Kampf anschließen. Der Hamas-Führer Chalil al-Haja sagte das auch offen in einem Interview mit der New York Times:
Aber nach der blutigen Berechnung der Hamas-Führer ist das Blutbad nicht das bedauerliche Ergebnis einer großen Fehleinschätzung. Ganz im Gegenteil sagen sie: Es ist der notwendige Preis für eine große Errungenschaft – die Zerstörung des Status quo und die Eröffnung eines neuen, volatileren Kapitels in ihrem Kampf gegen Israel.
Es sei notwendig, „die gesamte Gleichung zu ändern und nicht nur einen Konflikt auszulösen“, sagte Chalil al-Haja. „ Es ist uns gelungen, die Palästinenserfrage wieder auf den Tisch zu bringen, und jetzt gibt es in der Region keine Ruhe mehr “.
Führer der Hamas lobten das Massaker und hofften, dass es einen anhaltenden Konflikt auslösen würde, der jeden Anschein einer Koexistenz zwischen Israel, Gaza und den umliegenden Ländern endgültig beenden würde. „Ich hoffe, dass der Kriegszustand mit Israel an allen Grenzen dauerhaft wird und dass die arabische Welt an unserer Seite steht“, sagte Taher El-Nounou, ein Medienberater der Hamas.

Der israelische Journalist Shlomi Eldar berichtete jüngst von der Begegnung in Kairo mit einem alten Bekannten:
Abu Zaydeh aus Gaza hat eine für uns ungewöhnlich bewegte Geschichte, die für einen Palästinenser in Gaza vielleicht so ungewöhnlich nicht ist7 . In dem Gespräch fragt Eldar Abu Zaydeh, ob er sich vor dem 7. Oktober hätte vorstellen können, dass Hamas eine solche Aktion durchführen könne und würde. “Es war für uns schwer zu begreifen, dass sie glaubten, dass sie Israel mit 3.000, 5.000 oder sogar 10.000 bewaffneten Kämpfern erobern würden. Aber wenn man glaubt, dass Gott einen schickt, um seinen Befehl auszuführen, gibt es niemanden, mit dem man streiten konnte. Die Zeichen waren die ganze Zeit da draußen .“, sagte er und berichtet weiter:
Die Hamas-Führung unter Yahiya Sinwar hatte in den letzten Jahren davon gesprochen, das „letzte Versprechen“ (alwaed al’akhir) umzusetzen: die erzwungene Konvertierung aller Ungläubigen zum Islam oder deren Tötung. Außerhalb des harten Kerns der Hamas-Führung galt die Rede von einem apokalyptischen Showdown in Gaza nur als Wunschtraum, als unsinniges Geschwätz von Sinwar und seiner Gruppe. Dabei hätte jeder, der den Hamas-Fernsehsender sah, Sinwars Reden hörte, verstehen können, dass in Gaza ein Prozess im Gang war, um die Menschen auf eine groß angelegte Militäroperation vorzubereiten.
Ein anderer Palästinenser aus Gaza berichtete dem Journalisten:
Als die Hamas-Führung anfing, über das „letzte Versprechen“ zu sprechen, hielt auch er es nicht für ernst. Doch 2021 wurde ihm klar, dass dies keine abwegige Idee von Spinnern war, sondern dass die gesamte Führung der Sinwar-Gruppe an den Plan glaubte, eine von Gott verordnete Mission zu erfüllen. Für sie war klar, dass sie mit Allahs Hilfe Israel stürzen würden. Er berichtete von ausgearbeiteten Plänen, das gesamte Land neu zu ordnen, eine vollständige Liste der Ausschussvorsitzenden für die neu zu bildenden Kantone war vorbereitet. Im September 2021 fand in einem Hotel in Gaza die „The Promise of the Hereafter Conference“ statt, bei der die künftige Verwaltung des Staates Palästina nach seiner „Befreiung“ von Israel besprochen wurde. Sinwar erklärte der Konferenz in einer schriftlichen Rede, die vollständige Eroberung des „Staates der Zionisten“ stünde kurz bevor, der Sieg und die Befreiung Palästinas vom Meer bis zum Fluss sei nahe.
Teilnehmer der Konferenz begannen, eine Liste aller Immobilien in Israel zu erstellen, Verantwortliche für die Verteilung von Vermögenswerten zu ernennen. Ein Register aller israelischen Wohnungen und Institutionen, Bildungseinrichtungen und Schulen, Tankstellen, Kraftwerke und Abwassersysteme war bereits vorhanden. Unter dem Punkt 15 heißt es:
(15) Im Umgang mit den jüdischen Siedlern auf palästinensischem Land muss eine Unterscheidung getroffen werden: ein Kämpfer, der getötet werden muss; ein [Jude], der flieht und in Ruhe gelassen werden kann oder für seine Verbrechen gerichtlich belangt werden kann; und ein friedliches Individuum, das sich selbst aufgibt und integriert werden kann oder dem Zeit gelassen wird zu gehen. Dies ist eine Frage, die eine gründliche Überlegung und die Entfaltung des Humanismus erfordert, der den Islam seit jeher charakterisiert hat.
Ich habe das für eine Verschwörungserzählung gehalten, bis ich das Dokument selbst gelesen hatte.

Der Überfall der Hamas am 7. Oktober sollte der Tag des Beginns der Befreiung Palästinas vom Meer bis zum Fluss sein. Wer meint, der Slogan From the sea to the river sei nicht antisemitisch und glaubt, die Hamas als Befreiungsorganisation feiern zu müssen, sollte dieses Dokument lesen!


Fußnoten:

  1. New York Times 08.November 2023  ↩︎
  2. Markus Lanz vom 3. April 2024  ↩︎
  3. Larry Lewis: Israeli Civilian Harm Mitigation in Gaza: Gold Standard or Fool’s Gold?  ↩︎
  4. Ich lese heute in Haaretz einen Bericht von Shlomi Eldar:  ein Beispiel für das Nachlassen der Einhaltung humanitärer Regeln im Krieg bei der IDF:
    Tatsächlich achtete Israel im Gegensatz zu dem, was heute in Gaza geschieht, viele Jahre lang darauf, Massenangriffe auf Zivilisten zu vermeiden. Wenn Zivilisten verletzt wurden, erklärte Israel dies schnell, drückte Reue aus und lernte aus dem Vorfall. Die israelischen Medien äußerten sich kritisch und stellten Fragen.
    Das beste Beispiel ist die Reaktion auf die Entscheidung, Salah Shehadeh, den Chef des militärischen Flügels der Hamas, auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada im Juli 2002 zu ermorden. Die Rakete, die sein Haus traf, tötete auch weitere 14 Zivilisten. Der Vorfall löste in Israel öffentliches Aufsehen aus, und 27 Piloten der israelischen Luftwaffe schickten bekanntlich einen Brief, um gegen die Aktion zu protestieren.
    Der damalige Kommandeur der IAF, Generalmajor Dan Halutz, der das Attentat verteidigte, wurde in einem Interview in Haaretz zu dem Vorfall befragt und antwortete, dass ein Pilot in einer solchen Situation „ein leichtes Zittern im Flügel verspüre.” Der Ausdruck wird als Synonym für den Verlust von Mitgefühl benutzt. ↩︎
  5. Der Angriff auf den Hilfskonvoi in dieser Woche war nicht nur das Ergebnis mangelnder Disziplin. Es besteht Unempfindlichkeit gegenüber der Tötung palästinensischer Zivilisten. Dies verschlimmert sich mit der Dauer des Krieges und es fällt dem Generalstab schwer, die Streitkräfte vor Ort zu kontrollieren. ↩︎
  6. Nach IDF Schätzungen sind bis heute zwischen 9.000 und 12.000 Kämpfer getötet worden. Hamas gab Mitte Februar 6.000 an. Die tatsächliche Zahl dürfte irgendwo in der Mitte liegen. ↩︎
  7. Abu Zaydeh war einer der ersten Palästinenser, die nach der Unterzeichnung der Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung 1993 aus der israelischen Haft (wegen Mitgliedschaft in der Fatah) entlassen wurden. Unter Israelis wurde er so etwas wie ein palästinensischer Medienstar, der im lokalen Fernsehen in fließendem Hebräisch die palästinensische Sicht auf den Vertrag von Oslo analysierte.  Er studierte israelische Geschichte am Sapir College in Sderot, promovierte in England und wurde 2005 zum Minister für Gefangenenangelegenheiten der Palästinensischen Autonomiebehörde ernannt. Im Jahr 2006 wurde er von den Iz al-Din al-Qassam-Brigaden aus seinem Haus entführt und anschließend vom palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas verfolgt, weil er als loyal gegenüber Abbas’ Rivalen Mohammed Dahlan galt. Abbas entzog ihm sein Gehalt und beschlagnahmte seine Rente und sein Haus in Ramallah. Im Jahr 2019 musste Abu Zaydeh in den Gazastreifen zurückkehren, aus dem er nach dem Putsch der Hamas geflohen war. Er lebte im Flüchtlingslager Jabalya, das von Yahya Sinwars Bande – wie er sie nennt – regiert wurde.
    Er arbeitete für Sinwar im Zusammenhang mit der Verteilung von Geldern aus den Vereinigten Arabischen Emiraten an die Bewohner von Gaza und für Projekte mit Studienstipendien an junge Menschen.  ↩︎