mit einer sehr subjektiven Sichtweise
Woher soll ein Ostdeutscher denn sonst kommen? Natürlich aus dem Osten. — Nein, das ist nicht selbstverständlich. Die meisten meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger der DDR hatten mit dem „Osten“ wenig zu tun, außer dass sie – oder ihre Väter – ihn mit Waffengewalt zum „deutschen Kulturraum“ machen wollten: erfolg-, nicht aber folgenlos. Ihre Vorfahren verstanden sich seit jeher als Teil des Abendlandes oder auch „Mitteldeutschlands“. So gesehen hat Dirk Oschmann recht: „Der Osten ist eine westdeutsche Erfindung“1. Ich füge hinzu: wenn er jenen „Osten“ meint, der sich selbst einmal Deutsche Demokratische Republik nannte.
Ihre ehemaligen Bewohner meinen heute, den Osten zu kennen, wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff: „Anders als im Westen kennen wir im Osten die Russen recht genau, auch mental.“ Übrigens benutzt hier kaum noch jemand den Kollektivsingular:2 der Russe, das ist eher der Tonfall mancher Stammtische von jenseits der alten Zonengrenze. Wir Ossis kennen also den Osten. Michael Kretschmer meinte: „Ostdeutsche wissen, wozu Russland fähig ist, um einen Krieg nicht zu verlieren.“ Woher weiß er das, er, der 14 Jahre alt war, als Putin seine schwersten Stunden als KGB-Diensthabender in Dresden hatte? Er kann es nur gelesen haben, wie jeder in Ost und West.3
Anders sein Kollege aus Magdeburg. Rainer Haseloff war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Umweltschutz in Wittenberg. Gewiss führten ihn Dienstreisen in die Sowjetunion. Vielleicht erlebte er, wie im Anschluss an die offiziellen Gespräche die sowjetischen Kollegen in einem Restaurant testeten, wie viel Wodka ein Mann aus dem Westen verträgt. Solche Reisen habe ich jedenfalls gemacht, nach Moskau und Leningrad, mehrmals nach Kiew zum „Institut für Elektroschweißung E.-O.-Paton“. An den Hinweg zu einem gemeinsamen Abendessen erinnere ich mich, nicht aber an den Heimweg. Es gab auch Kontakte von DDR-Bürgern in andere Sowjetrepubliken, nach Tallinn, Riga, Vilnius oder Minsk. Für uns in der DDR waren das Hauptstädte von Sowjetrepubliken, vulgo Teile Russlands, denn alle sprachen dort Russisch und wir versuchten unser Bestes, in dieser Sprache zu kommunizieren. Schüler pflegten auch sogenannte Brieffreundschaften mit sowjetischen Kindern. Man tauschte sich über das aktuelle Wetter aus, wünschte sich einen schönen Schulanfang oder das deutsche Kind erfuhr, dass Väterchen Frost erst am Neujahrstag und nicht zu Weihnachten kam. Wir Werktätigen der DDR bezahlten unseren Beitrag für eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und wussten, dass der 8. Mai der Tag der Befreiung war, und wenn man – wie ich – in Berlin-Pankow arbeitete, konnte man zur Betriebsdelegation gehören, die zum sowjetischen Ehrenmal in die Schönholzer Heide einen Kranz brachte.
Dass all diese Kenntnisse und Erfahrungen nicht ausreichten, den Osten wirklich zu verstehen, zeigte sich 2014 an den Reaktionen auf die „grünen Männchen“ in der Ostukraine und Russlands Annexion der Krim. Plötzlich stellte sich heraus: Wodkaabende mit sowjetischen Kollegen und Kranzniederlegungen am Ehrenmal hatten uns nicht gelehrt, dass das Putin-Russland nicht die Sowjetunion ist. Dass ein revanchistischer Nationalismus an die Stelle kommunistischer Ideologie getreten war. Dass unsere ritualisierte „Freundschaft“ uns blind gemacht hatte für das, was dort wirklich geschah. Wir kannten den Osten nicht – wir hatten nur gelernt, mit ihm zu leben.
Im Juni 2014 fuhren wir – meine Frau, ihre französische Freundin und ich – mit dem Auto durch Polen ins Baltikum, den umgekehrten Weg, den unsere Eltern Jahrzehnte früher in zwei Etappen von dort genommen hatten. Als Deutschbalten hatten sie sich 1939 von Hitler ins gerade besetzte Polen umsiedeln lassen und waren 1945 vor den sowjetischen Truppen in den Westen geflohen.
Drei Monate vor unserer Reise hatte Putin nach der militärischen Besetzung der Halbinsel und einem inszenierten Referendum die Krim zu „russischer Erde“ gemacht und die Annexion vollzogen. Nun saßen wir zu Dritt in Tallinn im völlig leeren russischen Restaurant „Hermitage“ im Hotel St. Petersbourg, aßen Kotlett po Kiewski und sprachen über die Ungeheuerlichkeit dieses Kriegsaktes.
Während der Reise merkte ich, wie wenig ich vom Osten verstand. Bis dahin wusste ich aus den Erzählungen meiner Eltern, wie schön ihre verlorene Heimat gewesen war, und kannte die baltischen Gerichte, die unsere Festtage daheim bereichert hatten. Von der Reise zurückgekommen, versuchte ich, Verständnislücken zu schließen.
Zum ersten Mal las ich die Lebenserinnerungen meiner Eltern, die fast vier Jahrzehnte in einem Regalfach gelegen hatten. Ich vertiefte mich in die komplexe Geschichte der Ostseeprovinzen und stieß auf Jacob Mikanowskis »Adieu Osteuropa«, las deutsche Zeitungen aus den Jugendtagen meiner Eltern im Digitalarchiv Lettlands. Die Lektüre benutzte ich für einen Bericht über unsere Reise. Dabei taten sich immer neue Fragen auf: nach deutscher Vergangenheit und Schuld; nach lettischem und estnischem Selbstverständnis und Nationalismus; nach der jahrhundertelangen imperialen Politik Russlands; nach der Unterdrückung nationaler Bestrebungen im riesigen Reich – und nach dem Antisemitismus der eigenen Vorfahren. Ich fing an, die Richtigkeit von Ilko-Sascha Kowalczuks Satz zu begreifen: Ostdeutsch ist eine Herkunft, ein sozialer Ort, eine Erfahrung, für manche sogar Heimat4.
Im Herbst 2014 feilten Politiker aus der Ukraine und aus Russland – unter Vermittlung der OSZE – am Minsker Protokoll. Hoffnungen auf Frieden in der Ukraine kamen auf. Ein Jahr später versprach das Projekt Nord Stream 2 sichere Energie. Neue Rohre sollten durch die Ostsee verlegt werden, und in Mecklenburg-Vorpommern hoffte man auf viele Arbeitsplätze. Sozialdemokraten sprachen von Versorgungssicherheit und „Vernunft in der Außenpolitik“, große Konzerne erwarteten verlässliche Geschäfte. Putin verurteilte weiter die „Einkreisung“ Russlands durch die NATO – und Politiker links wie weit rechts fanden in dieser Deutung punktuell zueinander.
Wir DDR-Deutsche hatten die Frage Jewgenij Jewtuschenkos: „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ richtig zu beantworten gelernt: Nein! Auch ich dachte so bis zum 24. Februar 2022. Ich glaubte, Polen und Ukrainer hätten etwas gegen die Pipeline, weil ihnen Durchleitungsgebühren entgehen würden, und meine ehemalige DDR-Mitbürgerin Angela Merkel kann heute noch so verstanden werden, dass Polen und die baltischen Staaten Gespräche mit Wladimir Putin blockiert und so zum Krieg gegen die Ukraine beigetragen hätten.5 Welch ein Irrtum!
Wer schon damals genauer hinsah, konnte es besser wissen. Karl Schlögel hatte hingesehen, obwohl kein Ostdeutscher. Geboren im Allgäu, als Sohn einer Bauernfamilie zog kein Familienfaden seinen Blick „nach Osten“. Nicht die Herkunft, sondern ein Studium und ein wacher, empathischer Historikerblick ließen ihn auf den Osten schauen. Ich hätte seine Bücher genauer lesen sollen, die „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“6 und die Beschreibung des deutschen Russlandbildes „Der Russland-Reflex“7. Karl Schlögel war in den Bann des Ostens geraten, in einer Weise, wie sicherlich nur wenige seiner ostdeutschen Brüder und Schwestern. Doch die Ukraine hatte auch er bis dahin „immer als sowjetische Provinz, nie als selbstständiges Land Ukraine wahrgenommen, sondern als Kiew, als Charkiw, als Donbass, als Odessa und auch als Krim, nicht als ein Subjekt mit eigener Identität. Jetzt habe ich gelernt, dass es so etwas gibt und dass wir aufhören müssen, auf die Ukraine immer aus Moskauer Perspektive zu schauen.“8 Als er das schrieb, konnte man in Dresden Pegida-Demonstranten mit einem Schild sehen: „Gaspadin Putin! hilf uns, rette uns vor dem korrupten volksfeindlichen BRD-Regime…“9, denn „Anders als im Westen kennen wir im Osten die Russen recht genau, auch mental“ – er wird uns schon helfen.
Am vergangenen Wochenende war die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Karl Schlögel. Ich freute mich für ihn, die Mainstreammedien feierten es: „Historiker Schlögel: ‚Es gibt in Deutschland viele Russland-Versteher, aber zu wenige, die von Russland etwas verstehen‘10
Natürlich fehlten schon seit der Meldung über die Preisverleihung die Kritiker nicht, die aus Ostdeutschland wie Sahra Wagenknecht: „Schlögel ist eine Stimme der Unversöhnlichkeit, er fordert unbegrenzte Waffenlieferungen auf Kosten des deutschen Steuerzahlers“11 und aus dem ehemaligen Westen wird gefragt: „Woher diese Wende vom Russlandversteher zum Russlandhasser?“12
Ich denke jetzt: Wir Ostdeutschen kannten den Osten nie „besser“ – waren ihm nur näher als unsere westdeutschen Mitbürger. Nähe ersetzt jedoch keine Erkenntnis; sie verführt zu Klischees, wie dem vom russischen Bären, der bald duldsam, bald grausam zu sein scheint, dem sympathischen Bild vom russischen Gemüt, das auch unberechenbar sein kann, den Vorstellungen von der Gastfreundschaft und Leidensfähigkeit. Ausgerechnet ein Westdeutscher, ein Allgäuer, macht uns Ostdeutschen vor, wie man die geglaubte Nähe zu den Russen entzaubert: mit Archiven, eigener Anschauung und Begegnung, dem Lesen der Topografie von Städten und dem Land. Der Friedenspreis für Schlögel wirkt in diesem Licht weniger als eine Auszeichnung für ihn, sondern mehr als eine Einladung zur Nachhilfe – an alle, auch an uns. Und dass Kritik aus Ost wie West gleichermaßen kommt, spricht nicht gegen, sondern für seine Haltung.
Mein ostdeutscher „Vorsprung“? Er besteht vielleicht darin, die Illusion zu durchschauen, dass Nähe keine Kenntnis ist, dass ritualisierte Freundschaft keine Analyse ersetzt. Ein Westdeutscher musste es uns zeigen.
- Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein, 2023, ↩︎
- Das Wort habe ich von Karl Schlögel. ↩︎
- Putin diente 1985–1990 als KGB-Offizier in Dresden – im ‚Tal der Ahnungslosen‘. Am 5.12.1989 trat er vor Demonstranten an der KGB-Villa und gab sich – nach eigener Darstellung in First Person (2000) – als Übersetzer aus. The Moscow Times, 9. Oktober 2009: Putin Recalls Fall of Berlin Wall in New Film ↩︎
- Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute.
Verlag C.H. Beck, München 2024 ↩︎ - Tagesspiegel vom 10.10.2025: „Baltische Staaten, aber auch Polen war dagegen“: Merkel suchte vor Ukrainekrieg wohl Dialog mit Putin – und berichtet von Blockade ↩︎
- Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, München: Carl Hanser Verlag, 2015. ↩︎
- Irina Scherbakowa / Karl Schlögel: Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise, Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2015. ↩︎
- Irina Scherbakowa / Karl Schlögel a.a.O., S. 63 ↩︎
- Wikimedia ↩︎
- Berliner Zeitung vom 10.10.2025 ↩︎
- Tagesspiegel vom 01.08.2025 ↩︎
- Reinhard Lauterbach junge welt vom 20.10.2025 ↩︎
