von einem Réfugié in achter Generation
1685, am 29. Oktober, unterzeichnete der Große Kurfürst das „Edict, wodurch der Churfürst den in Frankreich verfolgten Reformierten eine Freystatt in seinen Landen anbietet“. 2015 sagte Angela Merkel: „Wir schaffen das!“ Das eine liegt 340 Jahre zurück, das andere ein Jahrzehnt. Das eine brachte meinen Vorfahren – Jean Daniel Rolland – nach Preußen. Durch das andere lernte ich Menschen kennen, die – wie er einst – ihre Heimat verlassen mussten.
Heute beklagt Friedrich Merz das durch Zuwanderung veränderte Stadtbild und scheint dabei zu vergessen, was der andere Friedrich vor Jahrhunderten wusste: dass diejenigen, die heute hier fremd sind, morgen die Wirtschaft am Laufen halten – und übermorgen einfach dazugehören werden.
Untertanen damals beschwerten sich und Regierte heute sind erbost über die Fremden. In Preußen machte man sich vor dreihundert Jahren mit folgender Anekdote Luft:
Im Hof des Berliner Stadtschlosses hielt die Küchenmannschaft einen zahmen Storch. Die Küchenjungen versorgten ihn mit Fröschen aus der Spree. Selbst der Große Kurfürst soll seine Freude an dem Vogel gehabt haben. Nach Ankunft der französischen Réfugiés flatterte der Storch durch den Schlosshof, im Schnabel eine Bittschrift, an den Kurfürsten selbst gerichtet. Darin beklagte sich der Vogel über die Einwanderer: Früher, schrieb er, sei er alleiniger Herr über die Padden der Spree gewesen – nun aber verschlängen die Neuankömmlinge, die „Froschfresser“, seine ganze Nahrung.1
Ich weiß nicht, inwieweit das Stadtbild in Cölln und Friedrichswerder nach 1685 durch fremde Gestalten geprägt war, die die Töchter preußischer Väter in Angst versetzen. Von dem früheren Friedrich sind keine Aussagen überliefert wie: „… wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem“. Die Untertanen aber hatten es und wehrten sich gegen die welsche Überfremdung. Am Samstag, dem 3. September 1692, drangen in Frankfurt an der Oder deutsche Metzger in den Fleischereiladen des französischen Immigranten Jacob le Goulon ein. Sie nahmen ihm mit Gewalt seine elf Schafe und das bereits verarbeitete Fleisch fort und drohten ihm schließlich sogar, ihn zu töten, falls er sein Geschäft weiter betreibe.2
Ein Aufruf mit dem Titel „Der Teutsch-Französische Moden-Geist: Wer es lieset der verstehets“ verkündete, dass Deutschland zugrunde geht. Schuld daran sind französische Mode, Manieren und Mäuler. Wer „à la modisch“ spricht, sich „pariserisch“ kleidet oder gar bei Réfugiés einkauft, verrät Sitte, Glauben und das deutsche Gewerbe gleich mit, denn die Franzosen verderben die Preise und die deutsche Sprache. Es gibt nur eine Lösung: zurück zu deutschen Tugenden, das heißt deutsch reden, deutsch tragen, deutsch kaufen – dann wird auch die Welt wieder wie sie immer war: „Wäre demnach höchst zu wündschen, […] daß unsere Teutschen solche Frantzösische Teuffels-Larve und häßliche Gestalt[…] einmahl ablegten und sich ihrer alten teutschen Treu und Redlichkeit wiederum befliessen […].“ 3
Das klingt, wenn auch für viele heutige Zeitgenossen ein bisschen unverständlich ausgedrückt, ziemlich jetzig: Das Kopftuch, fremder Akzent, Bart und dunkle Haut und Ladenschilder in fremden Schriftzeichen würden das Stadtbild zerstören. Ja, es gibt reale Herausforderungen: überlastete Schulen, fehlender Wohnraum, zu wenig Sprachkurse, knappe kommunale Kassen. Manche Neuankömmlinge begehen Straftaten, andere verweigern sich der Integration. Doch zugleich fehlen Pflegekräfte, Handwerker, Erntehelfer – Jobs, die Eingewanderte längst ausführen. Das Problem ist nicht das ‚Stadtbild‘, sondern dass wir zu wenig investieren in Sprachförderung, in Wohnungsbau, in Anerkennung ausländischer Abschlüsse, in konsequente Durchsetzung von Regeln. Stattdessen streiten wir über Kopftücher und arabische Schriftzeichen – als wären das die Ursachen und nicht bloß die sichtbaren Zeichen einer Gesellschaft im Wandel. Friedrich Wilhelm dagegen ging anders vor: Er ignorierte die Klagen über ‚Froschfresser‘ und rechnete.
Ich stelle mir Friedrich Wilhelm vor, wie er mit der Schreibfeder in der Hand über sein Land und dessen ungelöste Probleme nachdenkt. Auf dem Tisch liegen Karten, Kassenbücher und daneben Bündel von Suppliken4. Er sieht die Defizite im Fürstentum: entvölkerte Dörfer, brachliegende Felder, unzureichende Zölle und Staatseinnahmen, Städte, denen es an arbeitenden Händen fehlt. Er kennt auch die Leiden seiner calvinistischen Glaubensbrüder in Frankreich: die Verbote reformierter Gottesdienste und Tempel durch das Edikt von Fontainebleau, Soldaten, die Familien durch Schikane bekehren. Kinder werden zwangsweise katholisch getauft und erzogen. Geheime Gottesdienste werden mit Haft, Galeere und teils mit dem Tode geahndet. Der Kurfürst will ihnen helfen. Gleichzeitig hört er schon die Klagen der Zünfte, die Hut- und Knopfmacher: „Manufakturen ohne Meister! Pfusch! Bevorzugungen! Fremde Sitten!“ So zeichnet er drei Spalten auf seinen Papierbogen: Was wird was kosten? Was wird was bringen? Wie schnell kann es gehen? Er überdenkt Schutzbriefe, Pässe, Schiffe für die Anreise, Erleichterungen bei Steuern für die Ankommenden, deren Niederlassungs- und Eigentumsrechte innerhalb der Städte, die Pflichten der Neubürger.
Dann taucht er die Feder ins Fass, sieht kurz zur Spree hinüber, und schreibt den Satz, der alles bündelt: „Wir dannenher aus gerechten Mitleiden/welches Wir mit solchen Unsern/wegen des heiligen Evangelii und dessen reiner Lehre angefochtenen und bedrengten Glaubens-Genossen billig haben müssen/bewogen werden/vermittels dieses von Uns eigenhändig unterschriebenen Edicts denenselben eine sichere und freye retraite in alle Unsere Lande und Provincien in Gnaden zu offeriren/und ihnen dabeneben kund zu thun/was für Grechtigkeiten/ Freyheiten und Praerogativen Wir ihnen zu concediren gnädigst gesonnen seyn/umb dadurch die grosse Noth und Trübsal/womit es dem Allerhöchsten nach seinem allein weisen unerforschlichem Rath gefallen/einen so ansehnlichen Theil seiner Kirche heimzusuchen/auf einige Weise zu subleviren und erträglicher zu machen5. Fortan erhielt kostenlos die Bürger- und Handwerksrechte, wer sich niederließ. Nicht aber Katholiken, „… die aber, so der Römisch-Catholischen Religion zugethan/haben sich deren in keinerley weise anzumassen“. Soweit ging die Toleranz dann auch wieder nicht. Friedrich Wilhelm war kein moderner Humanist – er half seinen Glaubensbrüdern, nicht der Menschheit. Aber selbst diese begrenzte Toleranz war für seine Zeit revolutionär.
Toleranz war für Friedrich kein Gefühl, sondern ein Mittel, um sein Land zu stärken, und ein Weg, gleichzeitig Menschen in Not beizustehen.
Heute, am 23. Oktober, wird im Hugenottenmuseum des Französischen Doms das jährliche „Refugefest“ gefeiert. Die Studentin Emily Krüger und der Historiker Alexander Schunka von der Freien Universität Berlin werden dabei sein. Sie haben den alten Text in modernes Deutsch übertragen. Jeder, der diese Sprache spricht, kann es jetzt verstehen.6 Dass das bessere Verstehen der Worte auch den Sinn dahinter erhellen wird, bleibt zu hoffen. Die neue Fassung nimmt dem Edikt den barocken Pomp – und zeigt klar: Toleranz damals war Hilfe für Verfolgte und Standortpolitik für das Land. Moral und Nutzen schlossen sich für den Kurfürsten Friedrich Wilhelm 1685 nicht aus. Ich wünsche unserem Kanzler Friedrich, dass auch er das 2025 erkennt und bekennt.
- Jean-Pierre Erman, Pierre Christian Frédéric Reclam: Mémoires pour servir à l’histoire des réfugiés françois dans les États du roi, Bd. 6, Berlin 1783, S. 143 ↩︎
- Ullrich Niggemann: Hugenotten als wirtschaftliche Elite. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung in den immigrationspolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland und England, 1680–1700 ↩︎
- Der Teutsch-Französische Moden-Geist: Wer es lieset der verstehets. [Geyersbergk (fingiert)], 1689, Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek. ↩︎
- Supplik war eine frühneuzeitliche Bitt- und Beschwerdeschrift von Untertanen, Gemeinden oder Zünften an Landesherrn bzw. Behörden (auch Bittschrift, Eingabe). Zweck: Anliegen wie Privilegien, Steuer-/Zunftfragen, Schutz oder Beschwerden geltend zu machen. ↩︎
- Aus berechtigtem Mitgefühl – das wir unseren Glaubensgenossen, die um des heiligen Evangeliums und seiner reinen Lehre willen bedrängt und verfolgt werden, schuldig sind – lassen wir dieses, von uns eigenhändig unterzeichnete Edikt ergehen.
Wir bieten ihnen gnädig eine sichere und freie Zuflucht in alle unsere Länder und Provinzen an und teilen zugleich mit, welche Rechte, Freiheiten und Vorrechte wir ihnen zu gewähren bereit sind, damit die große Not und Trübsal, mit der es dem Allerhöchsten nach seinem allein weisen, unerforschlichen Ratschluss gefallen hat, einen so bedeutenden Teil seiner Kirche heimzusuchen, gelindert und erträglicher gemacht werde. ↩︎ - Märkische Allgemeine vom 7.10.2025 ↩︎
