Gespalten oder nicht gespalten, das ist hier die Frage

Wer wie ich viel Zeit hat und sich für aktuelle Politik und Wirtschaft interessiert, kennt Marcel Fratzscher, den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität und gern gesehenen Gast bei Markus Lanz, Hart aber fair, im RBB und bei Phoenix. Außerdem findet er noch Zeit, wöchentlich eine Kolumne für ZEIT ONLINE zu schreiben: über die Verschärfungen beim Bürgergeld, die unvollendete deutsche Einheit, die Belastung der jungen Generation und fand ein Pflichtjahr für Boomer im Ruhestand angemessen. In der letzten Kolumne fragt er: „Wie gespalten ist Deutschland wirklich?“1

Wen die Befindlichkeiten der ehemaligen DDR-Bürger interessieren, gesehen durch die Lupe des Soziologen, der kennt auch Steffen Mau, spätestens seit dem Erscheinen seines Buches „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Auch er ist Professor an der gleichen Berliner Universität. Sein Fach ist Makrosoziologie und er erklärt uns, warum der Osten so ist, wie er ist, in seinem 2023 erschienenen Buch „Triggerpunkte“2 und gemeinsam mit Ricarda Lang in „Der große Umbruch“3

2023 veröffentlichte die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie4. Ihre Autoren sind in der Öffentlichkeit weniger häufig zu sehen, so wie die meisten Experten für irgendwas dem Publikum meist verborgen bleiben. Sie haben herausgefunden, dass trotz der Krisen in den letzten Jahren, wie Pandemie, Krieg und Inflation, das Vertrauen der Deutschen in die Demokratie erstaunlich stabil blieb. Wo wenig Geld oder Bildung ist, ist es geringer, besonders auch im Osten. Mehr soziale Gerechtigkeit wird gefordert. Die Demokratie steckt vieles weg, aber sie muss dafür sorgen, dass wirklich alle mitgenommen werden.

Der Professor für Makroökonomie hat sich noch einmal das Buch seines Kollegen für Makrosoziologie und den Text der Ebert-Stiftung vorgenommen. Beide nutzte er für seine Kolumne. Steffen Mau habe gezeigt, die deutsche Gesellschaft sei gar nicht so sehr gespalten, wie viele meinen. Was man für Spaltung halte, seien nur Antworten auf Reizthemen wie Gendern, Ernährung oder E-Mobilität. Diese triggern Menschen zu konfrontativer Haltung und die Medien würden das verstärken. Alles nur „Phantomdebatten, die so gar nicht stattfinden“. „Laut der Studie herrscht bei vielen gesellschaftlichen Fragen überraschend breiter Konsens.“ Nun kommt Marcel Fratzscher vom Befund des Soziologen zum eigenen: „Über Parteigrenzen und soziale Milieus hinweg seien sich die meisten einig: Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sei zu groß …
Für mein Verständnis etwas unvermittelt schreibt er den Satz: „Wir machen es uns zu einfach, wenn wir Menschen als unmündig abstempeln und ihre Ängste hauptsächlich als das Resultat von Manipulation abtun.“ Ich verstehe nicht, wen er mit dem „Wir“ meint, denke dann, er zeigt auf die Medien, die die triggernden Probleme fälschlicherweise zur Spaltung der Gesellschaft hochjazzen. Er benötigte das wohl als Übergang zum ökonomischen Befund, um über wirtschaftliche – die realen – Sorgen von Menschen zu sprechen. Er zählt sie auf und zitiert Zahlen aus der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung fasst zusammen: Die tiefsten Spaltungslinien verlaufen weniger entlang der „Symbolthemen“, sondern bei sozialer Absicherung, Gerechtigkeit und den ökonomischen Abstiegsängsten: die großen Einkommens- und Vermögensungleichheiten, kaum finanzielle Rücklagen und Vorsorge bei 40 % der Bevölkerung, die Stigmatisierung sozialer Leistungen und wachsende Zukunftsängste: „dass die Zukunft schlechter werden wird, dass es künftigen Generationen nicht mehr so gut gehen wird, wie es der heutigen älteren Generation geht und in den letzten Jahrzehnten ergangen ist. Seit jeher sehen viele das Aufstiegsversprechen als essenziellen Teil des Gesellschaftsvertrags: Den eigenen Kindern und Enkelkindern soll es einmal besser gehen, nicht schlechter.“

Das sind Ängste, die sich für parteipolitische Zwecke wunderbar einsetzen lassen und gesellschaftliche Spaltung vertiefen, denke ich. Wirklich Spaltung aber verursachen meiner Meinung nach die sogenannten „Phantomdebatten“. Das sind keine verbalen Scheingefechte. Sie zerstören real Freundschaften und bringen Familien auseinander. Streitpunkte, ob Putin für Europa gefährlich ist oder nicht nur die Sicherheit Russlands in der Ukraine verteidigt, ob Israel in Gaza Genozid begeht, ob die Meinungsfreiheit im Land durch herrschende Eliten zerstört wird, ob Deutschland dabei ist, sich selbst abzuschaffen durch Gutmenschen, durch uneingeschränkte Zuwanderung – den großen Austausch. Menschen im Land spaltet die Frage, ob der erste Artikel des Grundgesetzes das Gendern geradezu fordert, ob Zugewanderte aus anderen Kontinenten nur „anders gelesen werden“ oder doch anders sind, ob es mehr als zwei Geschlechter gibt und ob das Rauchen von Cannabis ein Menschenrecht ist: alles echte Streitthemen, die die Gesellschaft spalten, zum Zuschlagen von Türen und dem abrupten Ende eines Telefonats oder einer Freundschaft führen können. Makrosoziologisch oder -ökonomisch kann man das vielleicht nicht messen, im mikrosozialen Umfeld sind das aber mehr als nur Auslöser für etwas lautere Meinungsverschiedenheiten.

Gesellschaftliche Spaltung, die Menschen im Land tatsächlich voneinander trennt, verläuft hauptsächlich entlang politischer, moralischer und kultureller Deutungen, weniger entlang der sich öffnenden Einkommensschere. Man kann ohne materielle Sorgen Putins Krieg gerechtfertigt finden oder den Chef im Kreml einen Verbrecher nennen, man kann arm sein und Israels Existenz bedroht sehen oder als Begüterter von einem Genozid in Gaza sprechen. Der harte Kampf um Recht und Wahrheit wird dort geführt, wo über Sinn und Werte verhandelt wird. Die Spaltung zeigt sich nicht als statistisch messbare Differenz von Arm und Reich, sondern als täglicher Konflikt in Weltbildern, Normen und Entscheidungen. So denke ich.

„Wie gespalten ist Deutschland wirklich?“
Ich habe eine KI gefragt: Wie würde ein Soziologe, eine Ökonomin, ein Historiker und eine Politikerin des BSW diese Frage beantworten?

Eine KI-Antwort:
Fragen wir vier kluge Köpfe, wie gespalten Deutschland wirklich ist, bekommen wir – natürlich! – vier Antworten, mindestens. Für den Soziologen ist die Gesellschaft eine Statistik aus Fragebögen, Prozenten und berechneten Konfidenzintervallen. Durch sie werden die Risse und Verästelungen aufgespürt: Grenzen zwischen Stadt und Land, Jung und Alt, West und Ost und lauter kleine Milieus, die sich gegenseitig irritieren. „Polarisiert? Ja, aber eher als bunte Patchworkdecke denn als tiefer Riss!“, ruft er nach der Auswertung und erfreut sich an der Ambivalenz.
Die Ökonomin schüttelt den Kopf über so viel Milieu-Geschwurbel und zeigt mit spitzer Feder auf Zahlen: Geld, Vermögen, Chancen – hier liegen die wahren Gräben. Wer wenig hat, bleibt zurück. „Nicht Identität, sondern Kontostand trennt!“ Und schon ist sie wieder über ihrer Excel-Tabelle.
Der Historiker lehnt sich im Ohrensessel zurück, zieht Vergleiche mit den 1920ern und seufzt: „Spaltungen hat’s immer gegeben. Nichts Neues unter der Sonne! Aber wehe, das Kleingedruckte im Gesellschaftsvertrag wird vergessen.“ Dann zitiert er Hannah Arendt und nippt am Tee.
Die BSW-Politikerin schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch: „Natürlich ist Deutschland gespalten! Oben gegen unten! Elite gegen Volk! Brüssel gegen die normale Arbeiterin! Die da oben haben den Bezug zur Realität verloren, schicken Waffen in die Ukraine, während hier Krankenhäuser schließen. Und dann wundern die sich, warum die Menschen ihnen nicht mehr vertrauen? Die Spaltung läuft zwischen denen, die von Globalisierung und Kriegspolitik profitieren, und denen, die dafür zahlen. Und die Mitte? Die gibt’s doch längst nicht mehr!“

Tja, das Licht der Betrachtung fällt mal auf Symbolkonflikte, mal auf Knappheitsökonomie, mal auf Demokratiegeschichte und mal auf „Brot für alle“ – je nachdem, wie man die Lampe hält. Und vielleicht liegt in dieser Vielfalt immer schon ein Teil der Antwort.

  1. Marcel Fratzscher: „Wie gespalten ist Deutschland wirklich?“, ZEIT ONLINE, 24. Oktober 2025. ↩︎
  2. Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte.
    Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Suhrkamp, Berlin 2023 ↩︎
  3. Ricarda Lang, Steffen Mau, Der große Umbruch. Ein Gespräch über Krisen, Konflikte und Kompromisse, Ullstein Verlag, Berlin 2025. ↩︎
  4. Best, Volker; Decker, Frank; Fischer, Sandra; Küppers, Anne (2023): Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft? Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. ↩︎