Gestern wollte mir Thomas Fasbender in der Berliner Zeitung die schwindende Meinungsfreiheit in Deutschland an Beispielen erläutern. Der Titel des Beitrags: „Das ZEIT-Magazin cancelt Ai Weiwei – nur ein Beispiel schwindender Meinungsfreiheit.“1
Wie ein Fanfarenstoß klingt es: Der chinesische Künstler, Menschenrechtler und Exilant Ai Weiwei
gecancelt! Ai Weiwei! In der ZEIT! Das soll Freiheit des Wortes sein? Freiheit! Jetzt soll des Zeitungslesers Puls auf 120 sein.
Meiner nicht: Ich stelle die altmodische Frage: „Was macht eine Redaktion, wenn sie einen Text beauftragt und ihn am Ende nicht bringt?“ und antworte mir selbst: „Sie nutzt ihre Freiheit. Genau: die Freiheit, auszuwählen, zu streichen, umzustellen, auch zu irren.“ Ich frage meinen willigen Assistenten ChatGPT dazu, ob das über die Freiheitsrechte einer Redaktion hinaus ginge und die KI sagt: „Pressefreiheit ist kein Mitteilungszwang, sondern ein Auswahlrecht. Wer daraus automatisch „Canceln“ ableitet, verwechselt die Bühne mit dem Grundrecht – und die Kränkung des Autors mit einer Verletzung von Artikel 5.“
Das Schöne an einer pluralen Öffentlichkeit ist ja die Wahlfreiheit von Autoren, wo sie etwas zu Gehör bringen wollen, und die eines Verlages, von wem, wann oder auch nicht. Wenn der Text Ai Weiweis nicht in der ZEIT erscheint, sondern in der Berliner Zeitung sehr wohl, dann ist das kein verengter Meinungskorridor, sondern ein Spurwechsel. Man kann das bedauern, menschlich die Enttäuschung des Künstlers nachempfinden, die Entscheidung der Leute aus Hamburg betriebswirtschaftlich falsch finden – was man nicht ehrlich behaupten kann: dass damit die Meinung verboten wäre. Es gibt die Zonen der Zustimmung eines bestimmten Milieus und die Ablehnung in einem anderen. ChatGPT sagt: „Meinungsfreiheit bemisst sich nicht daran, ob ich auf meiner Wunschbühne auftrete, sondern ob ich irgendwo sprechen kann, ohne dass mir der Staat die Hand auf den Mund drückt. Genau das ist hier passiert: Ein Feuilleton winkt ab, ein anderes druckt. Das ist keine Zensur, das ist Marktplatz.“
Und dann kommt Fasbenders Kritik an der Berichterstattung der Systemmedien über die „himmelschreienden Zuständen in Duisburg-Marxloh. Armutsflüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien“ seien es, die dort ausgebeutet in Schrottimmobilien hausen. Was auf die Staatsbürgerschaft reduziert wird, besitzt jedoch eine ethnisch-kulturelle Dimension. Auch hier: Jeder weiß, worum es geht, aber für viele Medien ist die Realität tabu. Es sind nämlich maßgeblich Sinti und Roma, die in den am übelsten beleumdeten Häuserblöcken vor sich hin vegetieren. Wer immer daran schuld ist – der deutsche Staat, deutsche oder nichtdeutsche Ausbeuter, das Patriarchat oder die Betroffenen selbst –, die Journalisten tun lieber so, als sei Duisburg-Marxloh eine Ausstellung rumänischer oder bulgarischer Wohnkultur.“
Ich habe mir die Berichterstattung darüber in verschiedenen deutschen Medien angesehen. Da lese ich von „Wirbel um angebliche Allianz zwischen Libanesen- und Roma-Clans in Marxloh: Das sagt die Duisburger Polizei“2 oder „Mit der Pottidylle ist es vorbei, stattdessen terrorisieren osteuropäische Roma-Clans die Stadt“3, aber auch die ZEIT, FAZ, taz, WELT sprechen von Roma, nie von Armutsflüchtlingen aus Rumänien und Bulgarien. Von einem generellen „Verschweigen“ kann keine Rede sein; eher das Gegenteil – die Roma-Zuschreibung ist für jeden zu lesen. Das Problem dabei ist nicht, dass Medien über Marxloh nicht deutlich genug schreiben würden; das Problem ist, dass in solchen Sätzen gern Geografie und Genauigkeit auf der Strecke bleiben. Und die ethnische Schablone, mit der man vermeintlich in den Mainstreammedien nur verschämt arbeite, ist in Wahrheit seit Jahren Gegenstand öffentlicher Texte, mal grob, mal differenziert, mal klug, mal atemlos. Es fehlt nicht daran, dass etwas ausgesprochen wird, sondern daran, dass es ohne Nebelkerzen und ohne Generalverdacht geschieht. Dort ein Tabu zu postulieren, ist nicht Aufklärung, sondern die großartige Geste, sich mutig dem selbst entworfenen „Schweigekartell“ entgegenzustellen.
„Das politische und mediale Establishment verteidigt des Status quo.“, lese ich bei Herrn Fasbender. Er nennt Jens Spahn, der sagte, man könne in Deutschland alles sagen. Auch wenn ich kein Freund von ihm bin: Wo er Recht hat, hat er Recht. Und der Autor erwähnt das „mediale Establishment“ Doris Dörrie mit der Aussage: „…besonders absurd, dass sich bei uns einige darüber beschweren, sie könnten ihre Meinung nicht äußern, während sie aber gleichzeitig ihre Meinung äußern. Das ist so plemplem und so doof und so dumm, weil wir wirklich noch in einem Land leben, wo wir wirklich die Meinung äußern dürfen, die wir haben.“. Ich füge hinzu, solange es nicht gegen Gesetze verstößt. Die rechtliche Grenzziehung ist kein Geheimnis: Volksverhetzung, Aufruf zu Gewalt, Holocaustleugnung, Ehrschutz, Jugendschutz. ChatGPT meint: „Sie ist enger als in den USA, die mit dem First Amendment einen sehr weiten Himmel spannen, aber sie ist – gemessen an historischer Erfahrung und europäischem Umfeld – immer noch ein großzügiger Horizont. Der interessante Teil der Debatte beginnt dort, wo Juristerei auf Kultur trifft: bei Milieudruck, Sprachmoden, Shitstorms. Die Reaktionen auf eigene Meinungsäußerungen können nerven, können lahm machen, Menschen vorsichtig werden lassen. Aber es ist der Preis einer lebendigen Öffentlichkeit: dass nicht nur gesagt, sondern auch widersprochen wird – laut, grob, witzig, ungerecht, und manchmal klug. Wer den Widerspruch mit „Canceln“ verwechselt, verlangt in Wahrheit nicht Freiheit, sondern Ruhe.“
Was wirkliche Einschränkung ist, zeigt die Gegenwart anderswo. In Russland, dem sich der Autor so verbunden fühlt, sind es keine feuilletonistischen Daumen, die sich heben oder senken, sondern Paragrafen, die auf Inhalte zielen. Man kann es nüchtern aufzählen und es bleibt erschreckend: Strafnormen gegen „Falschinformationen“ über das Militär, Ordnungswidrigkeiten wegen „Diskreditierung der Armee“, Etiketten wie „ausländischer Agent“ oder „unerwünschte Organisation“, die an die Existenz gehen, Netzsperren, Plattformverbote, Blocklisten für Medien, Klagen, Durchsuchungen, Haft. Da wird nicht um Worte gerungen, da werden Worte kriminalisiert. Das ist nicht der enge Meinungskorridor, das ist der Korridor mit Stahltür am Ende, die sich manchmal erst nach Jahren wieder öffnet.
Es gibt Zeitgenossen, besonders auch solche mit meiner Ostherkunft, die von fehlender Meinungsfreiheit in einer DDR 2.0 schwafeln und sich nicht erinnern oder es nicht wollen oder wegen der Gnade der späten Geburt nicht können:
Überall griff der Staat ein, die verordnete Ideologie setzte die Leitplanken – sozialistischer Realismus in der Kunst und Misstrauen gegen jede Abweichung. Die eigene Erfahrung: Ein privater politischer „Arbeitskreis“ wurde zum Objekt eines DDR-weiten „Operativen Vorgangs“ der Behörde, private Meinungsäußerungen fanden sich in Akten, westliche Bücher wurden zu „Zersetzungsinstrumenten“. Paragrafen dieses „Rechtsstaates“ übersetzten Diskussion in Delikt mit der Folge von Reiseverbot, Hausdurchsuchungen und für einige von uns von langer Haft. Wer sich daran erinnert, wird mit dem Wort „Canceln“ sparsamer sein – mindestens aus Höflichkeit gegenüber der Geschichte.
Ich frage mich: Warum verfängt die Rede vom „schwindenden Meinungskorridor“ trotzdem so gut? Und denke: weil sie ein Lebensgefühl anspricht. Menschen erfahren, dass in bestimmten Kreisen Ausdrucksformen stärker bewertet werden als der eigentliche Gedanke, dass ein benutztes Wort schnell die Kennzeichnung „problematisch“ bekommt. Das ist ein Kultur-, nicht aber ein Grundrechtsproblem. Wichtig wäre nicht die schnell geöffnete Schublade, sondern Begriffsschärfe, Belege für Fakten, Mut, auch unpopuläre Gedanken auszusprechen und es auszuhalten, wenn Gegenwind kommt.
Ich denke: Ai Weiwei soll schreiben, was er will. Redaktionen sollen drucken, was sie für richtig halten. Leser sollen applaudieren oder stöhnen, protestieren oder weiterscrollen. Das ist der Lauf von Öffentlichkeit, nicht immer angenehm, manchmal ungerecht, immer unruhig. Wer solche Unruhe mit Unfreiheit verwechselt, verkennt, dass Demokratie nie die Abwesenheit von Konflikten verspricht, sondern deren Zivilisierung. Die Grenze verläuft dort, wo Konflikte nicht mehr mit Worten ausgetragen werden, sondern mit Paragrafen gegen das gesprochene Wort. In Deutschland schützen Paragrafen für eng umrissene verbale Äußerungen das Fundament. In Russland tragen sie – wie vormals in der DDR – das Dach des Regimes.
Ich habe diesen Text an die Berliner Zeitung geschickt. Ich glaube, sie werden mich „canceln“.
1Das Zeit-Magazin cancelt Ai Weiwei: Nur ein Beispiel schwindender Meinungsfreiheit
2https://www.derwesten.de/staedte/duisburg/polizeibericht-enthuellt-um-mitternacht-solltest-du-in-duisburg-marxloh-nicht-aus-dem-haus-gehen-id97959.html
3 NIUS Original: Müll, Gewalt, Verwahrlosung – wie Roma-Clans Duisburg terrorisieren
