Der Osten auf der Couch von Dr. Knabe

Ein Freund schickte mir gestern einen Link zum Beitrag von Hubertus Knabe mit der Überschrift: „Warum der Osten keinen Streit mit Putin will“.

Diese Art journalistischer Titel missfallen mir schon lange wegen des uneinlösbaren Versprechens einer grundlegenden Antwort auf eine selbsterstellte Frage. Ich bin auch nicht sehr angetan von dieser Art der Volkspsychologie, die undifferenziert Millionen von Menschen gemeinsam auf die „Couch“ legt und dann eine Psychoanalyse versucht. Das ging mir schon so, als Hans-Joachim Maaz aus Halle im Buch „Gefühlsstau“ 1991 die Seelenlage der DDR-Bevölkerung beschrieb oder 1999 der Kriminologe Christian Pfeiffer herausgefunden haben wollte, dass die typisch ostdeutsche Neigung zu fremdenfeindlicher Gewalt mit der frühen Sauberkeitserziehung in den Kinderkrippen der DDR zusammenhängt.

Allerdings schreibt Hubertus Knabe nach der Pars-Pro-Toto-Überschrift selbst, dass im Osten Deutschlands bei „nur“ ca 50 % der Wahlberechtigten die Bereitschaft gewachsen ist, Putins Gewaltpolitik zu akzeptieren, die Sanktionen gegen Russland abzulehnen und ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine zu fordern. Nun kann man heftig darüber streiten, inwieweit es nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder philosophischer Betrachtungen berechtigt ist, Annahmen für eine Hälfte einer Grundgesamtheit auf die andere statistische Hälfte zu übertragen. Diese Diskussion will ich aber aus gedanklicher Trägheit nicht führen.

Gründe für die Putinliebe seien die Nachwirkungen der DDR-Erziehung, die den Bürgern erfolgreich die Parolen von der „unverbrüchlichen Freundschaft“ zur Sowjetunion vermittelten und NATO und USA als Kriegstreiber verteufelten. „Diese Auffassungen, die der Bevölkerung von der SED-Propaganda jahrzehntelang eingeimpft wurden, sind mit dem Ende der DDR nicht einfach verflogen, sondern leben in Vereinen, Kleingartenanlagen, Freundeskreisen und Familien fort. Umfragen zeigen, dass die Verklärung der sozialistischen Vergangenheit sogar an Kinder und Kindeskinder weitergegeben wird.
Nun weiß ich nicht, wie oft Knabe in verschiedenen sozialen Milieus der DDR und heute bei den Nachkommen am Kaffeetisch anwesend war.

Auch ich kann nur mit meiner eigenen Erfahrung argumentieren, nach der es keine allgemeine positive Einstellung zu den „Russen“1 in der DDR gab
Ende der 50er Jahre ging ich in die Oberschule und „Russe“ war ein oft gebrauchtes herabwürdigendes Schimpfwort für Mitschüler auf dem Schulhof. Obwohl ich eigentlich in der Grundschule gern Russisch gelernt hatte und beide Eltern sehr gut Russisch sprachen, verweigerte ich in der Oberschule aus blöder politischer Einstellung das aktive Lernen im Russischunterricht.
Unsere Schule lag unmittelbar an einem großen Gelände der Roten Armee und mit großer Abneigung sahen wir den jungen Rekruten aus den Schulfenstern bei der Ausbildung zu.
In meiner Lehrzeit auf der Volkswerft in Stralsund bauten wir Fischfangverarbeitugsschiffe für die „Russen“ und die Kontrolleure aus der Sowjetunion wurden von uns als eine Art kolonialer Besatzungsbeamter gesehen. Wenn etwas besonders schlecht war, gab es den Ausspruch: „Das gibts in keinem Russenfilm“.
Niemand, den ich kannte, war freiwillig in der Organisation der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft. Man war dort Mitglied, weil man für wenig Geld den Nachweis gesellschaftlichen Wohlverhaltens erbracht hatte. Es war – wie manche sagten – „geklebte“2 statt gelebte Freundschaft. „Russen“ gegenüber hatten viele ein Gemisch aus rassistischem Überlegenheitsgefühl, Vorurteilen über Alkoholismus, Primitivität, Grobheit und Rückständigkeit und das Gefühl von Angst. Die unendlich vielen Russenwitze in der DDR zeugen meiner Meinung nach davon.
Selbst viele meiner SED-Genossen3 machten abfällige Bemerkungen über DIE FREUNDE, wenn sie über sowjetische Bürger sprachen.

Diese Einstellung wurde für einige – so auch für mich – durch persönliche Begegnungen bei Dienst- und privaten Reisen in Länder der Sowjetunion korrigiert. Für viele in meiner Umgebung hat sowohl die Literatur, als auch die Musik und der Film das Russlandbild – und besonders das Bild von den Menschen dort – positiv verändert.

Die „Befreiung vom Faschismus“ wurde von vielen meiner DDR-Mitbürger als eine der großen Leistungen der Sowjetunion angesehen. So sehe ich es bis heute noch, auch wenn ich weiß, dass diese – entgegen der Meinung meiner DDR-Geschichtslehrer – ohne die riesige amerikanische Militärhilfe und ohne das militärische Eingreifen der Westmächte nicht möglich gewesen wäre.
Ich kann es nicht verstehen, dass das bleibende Verantwortungsgefühl für die Schuld unserer Vorfahren an Krieg und Massenmord irgendwie ein fehlgeleitetes DDR-Erziehungsprodukt sein soll (Knabe sagt das auch nicht explizit, aber legt es nahe). Ganz abgesehen davon habe ich eher den Eindruck, dass dieses Gefühl der Zuständigkeit dafür weitgehend verloren geht.
Undenkbar war für mich die Vorstellung, Russland würde einen Krieg beginnen können, bis ich am 24. Februar 2022 eines Schlechteren belehrt worden bin.

Verschiedenen von Knabes Aussagen stimme ich zu. „In Diktaturen ist man gut beraten, Konflikten mit den Mächtigen aus dem Weg zu gehen. Konfliktvermeidung erhöht die Chance auf ein einigermaßen ungestörtes Leben. Die Hoffnung vieler Ostdeutscher, Putin durch Entgegenkommen ruhig zu stellen, entspricht genau dieser Haltung.“ Ebenso auch, dass es Journalisten und Historiker gibt, die das heutige Russland ausschließlich als Opfer sehen und „vor Moskaus brutalem Imperialismus die Augen“ verschließen. Diese Erzählung wird vom BSW und früher von der PDS und der Linken ununterbrochen wiederholt. „Viele Ostdeutsche denken zum Beispiel, Russland sei im Grunde ein friedfertiges Land, mit dem man sich nur arrangieren müsse. Dann gäbe es wieder billiges Öl und man bräuchte sich keine Gedanken über die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder den Aufbau einer schlagkräftigen Bundeswehr machen,“ schreibt Hubertus Knabe.

Und damit sind wir beim eigentlichen Kern der Gründe für die „Friedensliebe“4,5vieler Ostdeutscher, wie ich meine: Man gibt nicht gerne ab, denn man hat ja gerade erst ein bisschen was beiseite legen können. Solidarität musste man zwangsweise in der DDR mit anderen üben, jetzt nicht mehr, das war früher!

Und richtig finde ich den Befund:
Viele Ostdeutsche empfinden den Berliner Politik- und Medienbetrieb als abgehoben, übergriffig und ideologisch. Die Unzufriedenheit, vor allem über die Energie- und Migrationspolitik, hat sich … immer mehr verfestigt. Das Misstrauen gegenüber der Bundesregierung – und hier insbesondere gegenüber den Grünen – ist inzwischen so groß, dass ihr viele auch in der Ukraine-Politik nicht mehr über den Weg trauen. Nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ schlagen sie sich deshalb reflexhaft auf die Seite Russlands.“ Und weiter schreibt er:
Gegen diese Entwicklung hilft nur sachliche Aufklärung und eine Politik, die den Menschen weniger hochnäsig entgegentritt.

Ob Aufklärung dagegen hilft, weiß ich nicht, ich kann es hoffen, aber leider nicht glauben.


  1. Russen waren für viele DDR-Bürger alle Einwohner der Sowjetunion, so auch Letten, Weißrussen, Ukrainer u.s.w. ↩︎
  2. wegen der Beitragsmarken im Mitgliedsbuch ↩︎
  3. Über meine Mitgliedschaft in der SED habe ich geschrieben. ↩︎
  4. https://joern-burmeister.de/2024/06/17/wohin-man-auch-sieht-alle-wollen-den-frieden-in-der-ukraine/ ↩︎
  5. https://joern-burmeister.de/2024/04/03/friedensfreunde/ ↩︎