Am vergangenen Sonnabend waren Brigitte und ich einkaufen gefahren. Da ich ungern im Supermarkt herumlaufe, bleibe ich, während Brigitte alles Erforderliche zusammensucht, im Auto sitzen und höre Radio – Deutschlandfunk. An diesem frühen Nachmittag unterhielten sich Vassili Golod1 und Joachim Stracke2 in der Sendereihe Zur Diskussion: “Wie kann Frieden gelingen?” Golod verteidigte alle militärischen Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine, Stracke forderte Verhandlungen mit Putin sofort. Seine Argumente kenne ich: Kujat sagt…, die Ukraine kann nicht gewinnen…, Russland ist Atommacht und unsere Waffen provozieren Putin, sie auch einzusetzen, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlen sollte. . . Wolodymyr Selenskyjs Friedensplan sei eine Kapitulationsaufforderung an Russland, die nicht erfüllt werden kann und Selenskyj habe vor dem Überfall 2022 nicht genug getan, zu einer wirklichen Friedenslösung mit Russland zu kommen. Natürlich fehlten nicht die Bemerkungen, dass Putin der Aggressor ist, aber, aber …
Ich hatte den Eindruck von tatsächlichen Befürchtungen, das Wort Ängste lehnte Stracke ab, da er schon in einem Alter sei, in dem man diese nicht habe, aber die Jüngeren…
Das sind die Argumente, die ich seit Februar 2022 von den Friedensfreunden um Sahra Wagenknecht höre. Auch wenn Putin den Überfall auf die Ukraine verantwortet, die eigentlichen Übeltäter sind im Westen und in der Regierung der Ukraine zu finden. Putin wolle eigentlich keinen Krieg, sah sich aber dazu gezwungen. Und dann kommt als Beweis der „unterschriftsreife Friedensvertrag von Istanbul“, den der ukrainische Verhandlungsführer ja auch erwähnt habe. Wagenknecht bei „maischberger“ am 15. April: “Doch, ich möchte sagen, was der ukrainische Verhandlungsführer jetzt gesagt hat. Jetzt hat er das gesagt. Er hat gesagt:
‘Die Russen waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir der Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet hätten, der NATO nicht beizutreten.’
Das hat der ukrainische Verhandlungsführer jetzt gesagt über die Verhandlungen in Istanbul. Wenn das stimmt, sollte man doch an das damalige Verhandlungsergebnis anknüpfen und versuchen, jetzt einen Friedensschluss auf einer solchen Grundlage zu finden. Denn es geht darum, dass man irgendwo auf einen gemeinsamen Nenner kommt.“3
Seit Kurzem können die Verhandlungsdokumente eingesehen werden. Die New York Times stellte sie zum Download bereit und fasste die unterschiedlichen Positionen zusammen.
Es gab nach Boris Johnsons Besuch am 9. April 2022 in Kiew weitere Verhandlungen in Istanbul4 trotz dessen angeblichen „Befehls“, diese abzubrechen und zu schießen. Ein Dokument, in dem Russland die ukrainischen Vorschläge zusammenfasste5 wurde erst am 15. April 20226 an Putin übersandt. Mit roten Lettern waren darin jene Passagen markiert, die weiterhin umstritten waren.
Artikel 5 der Vereinbarung über die Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Putin den afrikanischen Delegierten zeigte (Übersetzung 7)
Die Differenzen waren unüberbrückbar:
Russland lehnte die ukrainischen Vorstellungen von Sicherheitsgarantien ab. Die ukrainischen Unterhändler forderten einen Automatismus, der der Ukraine im Falle eines neuerlichen russischen Angriffs Militärhilfe versprach. Die Garantiemächte, unter ihnen die fünf ständigen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates, also auch Russland selbst, müssten sofort eine Flugverbotszone schaffen, Waffen liefern oder direkt intervenieren. Russlands Unterhändler verlangten vorher die Einstimmigkeit unter den Garantiemächten, also ein eigenes Vetorecht, wodurch jede Schutzgarantie verloren wäre.
Unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten gab es auch zum ukrainischen Militär. „Kiew war bereit, aus Rücksicht auf Moskau die Armee auf 250 000 Soldaten, 800 Panzer, 1900 Artilleriegeschütze und 2000 Panzerabwehrlenkwaffen zu begrenzen. Russland dagegen wollte nur 85 000 Mann zugestehen, 342 Panzer, 519 Geschütze und 333 Panzerabwehrwaffen. Mit einer solchen Rumpfarmee hätte die Ukraine auf verlorenem Posten gestanden und sich den Moskauer Machtspielen ausgeliefert.8“
Um Putin wirklich zu glauben, ein solcher Vertrag wäre von ukrainischer Seite im Mai 2022 für eine Unterschrift reif gewesen und nur Boris Johnson habe das verboten, muss man schon Mitglied im Bündnis Sahra Wagenknecht sein! Sahra selbst glaubt es gewiss nicht, denn sie kennt die Fakten. Aber solche Botschaften helfen, Menschen zu verunsichern und zu ängstigen, die Unterstützungsbereitschaft für die Ukraine zu verringern und die eigene Anhängerschaft zu binden, beunruhigte Menschen wie Joachim Stracke.
Für mich ist sicher: Ohne die westliche militärische und wirtschaftliche Hilfe ist die Ukraine Putins Zielstellungen ausgeliefert. Diese haben er und die Betreiber seiner Echoräume offen genannt9. Die Ukraine muss sich gegen diese Gefahr verteidigen können, bis – hoffentlich bald – ein friedliches Leben auch dort möglich sein wird.10
- ARD Korrespondent in Kyiv ↩︎
- Redakteur im Ruhestand beim Lokalsender Radio aktiv Hameln Pyrmont ↩︎
- Auch in der TAZ die gleichen Argumente ↩︎
- Angeblich hatte Boris Johnson bei diesem Besuch „befohlen“ keine Verhandlungen mehr zu führen oder wie Putin sagte: „ Aber nachdem wir unsere Streitkräfte aus Kiew abgezogen hatten, wie wir es versprochen hatten, haben die Kiewer Behörden, wie es ihre Herren gewöhnlich tun, das Dokument in den Mülleimer der Geschichte geworfen, um es milde auszudrücken, ich will versuchen, unflätige Ausdrücke zu vermeiden. Sie haben dies abgelehnt. Wo sind die Garantien, dass sie sich nicht von anderen Vereinbarungen zurückziehen werden? Aber selbst unter solchen Umständen haben wir uns nie geweigert, Gespräche zu führen.“ ↩︎
- Putin präsentierte es im Juli 2023 der Öffentlichkeit während einer Rede für die Delegationsleiter afrikanischer Staaten ↩︎
- Titel „Treaty on Permanent Neutrality and Security Guarantees for Ukraine“ mit der russichen Originalversion Договор о постоянном нейтралитете и гарантиях безопасности Украины
(Vereinbarung über die Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine) ↩︎ - Übersetzung :
Forderungen Russlands
Forderungen der Ukraine
Artikel 5
Die Garantiestaaten und die Ukraine kommen überein, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf die Ukraine jeder der Garantiestaaten nach dringenden und sofortigen Konsultationen (die innerhalb von höchstens drei Tagen stattfinden) untereinander in Ausübung des in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen anerkannten Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (auf der Grundlage eines von allen Garantiestaaten vereinbarten Beschlusses) werden (als Reaktion auf und auf der Grundlage eines offiziellen Ersuchens der Ukraine) der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat, der angegriffen wird, Hilfe leisten, indem sie unverzüglich die erforderlichen individuellen oder gemeinsamen Maßnahmen ergreifen, einschließlich der Sperrung des Luftraums über der Ukraine, der Bereitstellung der erforderlichen Waffen und des Einsatzes von Waffengewalt, um die Sicherheit der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat wiederherzustellen und anschließend aufrechtzuerhalten.
Ein solcher Einsatz von Waffengewalt kann nur defensiver Natur sein und ist auf das in der Karte in Anhang 6 angegebene Gebiet beschränkt.
Ein solcher bewaffneter Angriff und alle daraufhin ergriffenen Maßnahmen sind dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unverzüglich zu melden. Diese Maßnahmen werden eingestellt, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die erforderlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Friedens und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. ↩︎ - https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-blockierte-der-westen-2022-einen-frieden-mit-russland-ld.1834618 ↩︎
- Ich hatte vor einiger Zeit dazu einige Quellen zusammengestellt, Frieden in der Ukraine – wie? ↩︎
- Es wird schwer für Russlands Nachbarn, Verträgen über Sicherheit mit Russland künftig Glauben zu schenken: Für die Ukraine gab es das Budapester Memorandum von 1994, einen Sicherheitsvertrag für die Ukraine, unterzeichnet von Russland, den USA und Großbritannien. In diesem Memorandum verpflichtete sich die Ukraine, ihre Atomwaffen im Austausch für Sicherheitsgarantien abzugeben. Russland verpflichtete sich, die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu respektieren. Dann kam die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 und die Abspaltung der Ostukraine, klare Verletzungen dieser Vereinbarungen. ↩︎