Ich weiß, ohne dieses Personalpronomen kommt die Sprache nicht aus.
„Nichts geht Politikern so leicht über die Lippen wie die erste Person Plural“ zitierte Brigitte gestern beim Frühstück Patrick Bahners1. Er schreibt das im Zusammenhang mit Alexander Gaulands Vortrag „Ein Europa selbstbestimmt vereint wirkender Vaterländer “2. Sie las mir das vor, weil sie mein Augenrollen und Maulen kennt, wenn beim gemeinsamen Radiohören während einer Mahlzeit solche WIR-Sätze fallen wie: „Wir brauchen gemeinsame Rituale, Geschichten und Werte“, oder auch: „ Im Westen streben wir Individualität an, indem wir uns nicht an eine Religion binden und dort entsteht eine Individualität aus dem Moment des „Ich glaube“ heraus – ich bin als Person wichtig, als Einzelperson.3 Auch Thomas de Maizière liebt das WIR, wenn er seine Grundsätze über die Leitkultur verkündet: „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.“4 und Angela Merkel mochte WIR-Aussagen5 ebenso wie viele andere Politiker sie gern benutzen, sei es um eine Gemeinschaft zu imaginieren und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erzeugen. Jeder soll „gesehen“ werden, „sich mitgenommen“ fühlen, der allgemeinen Solidarität versichert sein.6 In den gegenwärtigen echten und gefühlten Krisenzeiten (und vor Wahlen) wird auf Zustimmung gehofft, denn: „Solange wir zusammenstehen, bewältigen wir jede Krise“7
So werden Unterschiede zwischen Individuen und Gruppen weggebügelt, Ungleichheiten verbal eliminiert. „Wir müssen alle sparen„, soll bedeuten, alle Menschen seien gleichermaßen betroffen und müssen die gleichen Opfer bringen. Doch bei zehn Prozent weniger von 1000 bleiben 900, bei 100000 sind es immer noch 90000.
„Wir müssen unsere Interessen gegen die der etablierten Eliten verteidigen, die nur für sich selbst arbeiten und uns vergessen haben.“8 Sahra Wagenknecht gibt vor, im Interesse aller Menschen zu sprechen, jedenfalls aller, die nicht zu den „eigensüchtigen Eliten“ gehören. So will sie ein Gemeinschaftsgefühl schaffen, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Solidarität unter denen mit „gesundem Menschenverstand“9,während sie implizit diejenigen, die nicht ihrer Meinung sind, als Teil der „etablierten Eliten“, als Gegner dieses WIR darstellt.
Das ist ein inzwischen gängiges Verfahren von Populisten zur Manipulation und Propaganda. Es wird eine kollektive Identität suggeriert, abweichende Meinungen erscheinen als randständig.
Vielleicht bin ich auch seit Kindertagen wegen der Losung „Vom Ich zum WIR“10 durch das Personalpronomen genervt. Wir lernten in der Schule: Einzelnen könne es nur als Glied der sozialistischen Gesellschaft gut gehen, nur dann wären er oder sie vollwertige Menschen, Teile des Großen. „Reih dich ein…“ sangen wir im Schulchor. „Wir für uns, wir für euch, wir für die DDR“ oder „Wir schützen die sozialistischen Errungenschaften“, 1989 dann „Wir sind das Volk!“, und heute meinen wieder „besorgte Bürger“ mit dem gleichen Slogan, sie würden uns alle vertreten.
1 Patrick Bahners: „Die Wiederkehr“ Klett Cotta 2023
2 Vortrag Gaulands bei der „Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft“ 2015 in Hamburg während des Seminars „Welches Deutschland, welches Europa wollen wir?“
3 Margot Käsmann
4 Ich muss zugeben, Thomas de Maizière definiert sein „Wir“ in seinen Thesen.
5 „Wir schaffen das!“ und meinte die freundliche Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge, obwohl sie wusste, viele (auch in ihrer Partei) wollten das nicht schaffen.
6 Patrick Bahners nennt das „Vokabular politischer Betreuung“ und schreibt: „Damit sie sich nicht abgehängt fühlten, wurden sie abgeholt, wo sie standen, am Rand des demokratischen Lebens, und in ihren Sorgen ernst genommen, jedenfalls soweit diese Sorgen die Russen und nicht mehr die Juden betrafen. Oder um Vokabeln aus der Zeit nach 1989 zu verwenden, die wieder in Mode gekommen sind, seit die Furcht umgeht, die ostdeutschen Bundesländer könnten sich von der Demokratie verabschieden: Auch kleine Nazis durften verlangen, dass ihnen Respekt für ihre Lebensleistung entgegengebracht wurde und ihre Erfahrungen im neuen Deutschland noch etwas zählten.“. Patrick Bahners: „Die Wiederkehr“ Klett Cotta 2023, S. 217
7 Winfried Kretschmann Neujahrsansprache 2022
8 Sahra Wagenknecht in der Talkrunde Viertel nach Acht am 10.11.2022
9 BSW – Für Vernunft und Gerechtigkeit, so nannte sie ihre Partei
10 Eigentlich gedacht als Aufforderung der SED an die Bauern, einer LPG beizutreten.