Frieden in Berlin-Mitte

Bild: eine KI-Collage von DALL-E und Midjourney

In der Onlineausgabe der Morgenpost – unsere antiautoritären Freunde aus Westberlin nannten sie früher „Mottenpost“ – fiel mir heute die Überschrift „Friedens-Debatte in Berlin-Mitte“ auf. Dahinter, mit einem Bindestrich angeschlossen: „Autor übt Kritik an Begriffen“1. Der Vorspann sprang von Berlin-Mitte und einer Sprachanalyse zur Geopolitik: „Beim Auftakt zu den Friedensgesprächen in Mitte sprach Experte Andreas Zumach über den Status quo Deutschlands im Rahmen der Geopolitik.“ Dieser Doppelsprung – von der Kritik an Worten in einem Berliner Stadtbezirk zur Weltlage – machte mich neugierig.
Vor dem Lesen sah ich auf das Foto zum Artikel. Das Bild zeigte das Podium einer Veranstaltung. Auf einem unbequemen Stuhl sitzt ein älterer Herr, auf den Knien die Seiten seines Vortrags, den er gerade vorliest, neben ihm der Moderator, Arme verschränkt, Beine übereinandergeschlagen, mit leicht hängendem Kopf und Körper und gesenktem Blick. Körpersprache: „Ich muss das jetzt einfach durchhalten, dazu bin ich eingeladen“. Die dritte abgebildete Person – eine weißhaarige Dame, von schräg hinten zu sehen – scheint aufmerksam zuzuhören. Die Bildunterschrift verrät: Es handelt sich um Stefanie Remlinger, die Gastgeberin, Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Mitte. Im Hintergrund sieht man den sterilen Tresen eines Veranstaltungssaals, kein Publikum sonst, eine ermüdende Atmosphäre.

Das Bild stammt von der Autorin Iris May. Ich komme nicht umhin, zu denken, es war für sie ein ungeliebter Dienstabend, zu dem die Redaktion sie geschickt hatte. „Es gibt Abendveranstaltungen, bei denen man sich wünscht, nicht hingegangen zu sein“, wird sie vielleicht gedacht haben. Doch sie ist die Reporterin ihrer Zeitung für den Stadtbezirk und die Einladung kam von der Bezirksbürgermeisterin, die mit „Friedensgesprächen ein klares Zeichen für Dialog und respektvollen Austausch setzen.“2 wollte. Da muss man dann notgedrungen hingehen und ein paar Sätze schreiben.

Ihr Text beginnt: „Wir stehen in Deutschland vor einem neuen Krieg.“, um im nächsten Satz fortzufahren, die neue Veranstaltungsreihe sei dafür aber „kein Indikator“. Ich dachte bei mir: Wie bitte? Wenn wir wirklich vor einem neuen Krieg stünden, wie sollte die VHS-Küche in der Linienstraße dafür ein Indikator sein können?

Der Bericht ist kurz, wahrscheinlich eine Redaktionsvorgabe: 2200 Zeichen. Er beginnt damit, dass der Vortragende Andreas Zumach ist3, der die Rhetorik „Zeitenwende, Kriegstüchtigkeit“ kritisiert. Letzteren Begriff hat Goebbels geprägt. In mir denkt es: Ist Pistorius vielleicht doch ein bisschen wie der Reichspropagandaminister? Soll ich das jetzt so denken? Aber gesagt hat das niemand!
Zum Ukraine-Krieg sagte Zumach: „Putin will nur die Ukraine, vielleicht nur einen Teil.“ Als direkte Rede geschrieben, klingt es, als meine er: „Regt euch mal ab, der will gar nicht so viel, das könnt ihr ihm doch geben für den Frieden!“ Und jetzt bin ich ziemlich sicher, das hat Zumach so nicht gesagt. Ich habe inzwischen Texte von Andreas Zumach und seine Haltung zu diesem Krieg gelesen 45. Er verurteilt den russischen Angriff klar als völkerrechtswidrig, bleibt aber zugleich ein konsequenter Pazifist. Militärische Selbstverteidigungshilfe für die Ukraine schließt er nicht aus, hält aber Waffenruhe und Verhandlungen für die beste Option, um Eskalation bis zum Atomrisiko zu vermeiden. Politisch wirbt er für eine zivile Sicherheitsordnung durch UN und OSZE, mehr Prävention und Abrüstung – besonders nuklear –, und kritisiert die Fixierung auf Hochrüstung wie auch doppelte Standards. Leitplanken sind für ihn Völkerrecht und Empathie mit den Angegriffenen6. Ja, er möchte mehr Diplomatie. Vielleicht hat er so etwas gesagt wie: „Putin verfolgt Kriegsziele in der Ukraine, nicht in ganz Europa“ oder: „Wir müssen unterscheiden zwischen Kriegszielen und Großmachtfantasien.“ Wir erfahren es nicht.Das wäre eine vollkommen andere Aussage. Frau May hat es aber auf die zugespitzte, schludrige Form in Anführungszeichen gesetzt. Ich denke, weil der Abend ohnehin schon für sie verdorben war, brauchte sie wenigstens einen Satz, der reinhaut. Auch die kleinen Sticheleien im Text passen zu meiner Annahme: „nur eine Handvoll Menschen da“, „sehr sparsam moderiert“, „Raum für Dialog blieb wenig“. Das klingt wie: „Da war einfach nichts los, die reden alle Unsinn, in Berlin-Mitte wird es auch nicht mehr besser.

Ich denke, das hätte sie ja ihrer Leserschaft mitteilen können: klare Kritik am Ziel der Veranstaltung, an der Bezirksbürgermeisterin, an langweiliger Vortragsweise, am maulfaulen Moderator oder was auch immer. Stattdessen verbreitet sie mit ihren verdeckten Formulierungen schlechte Laune und erweckt den Eindruck, dort hätten ein paar weltfremde Friedensmenschen im Halbdunkel über die große Weltordnung sinniert.
Sie hätte auch eine kleine Geschichte machen können: Eine Bezirksbürgermeisterin spürt, dass viele Menschen von den Ukraine-Bildern und Nahost-Schreckensmeldungen überfordert sind und sagt: Lasst uns reden. Schade, es kommen zu wenige. Der eingeladene Redner spricht frontal, zu monoton, zu wenig dialogisch. Aber er vermag etwas, das in aufgeheizten Zeiten rar ist: Er sortiert Begriffe, erklärt, dass Worte wie „Aufrüstung“, „Abschreckung“, „Diplomatie“ oder „Pazifismus“ politisch aufgeladen sind, erinnert ans Völkerrecht und den Horror eines Krieges. Keine seiner Thesen gefällt jedem. Sachlich hätte die Autorin feststellen können, dass das Veranstaltungsformat noch gefunden werden muss: weniger Vortrag, mehr Gespräch; weniger Podium, mehr Publikum. Wenn sie es auch so erlebt hätte, hätte sie noch die viel beschworene „Zivilität des Streits“ vor Ort hervorheben können, auch wenn er nur mit wenigen ausgetragen worden ist.

Dazu hätte sie aber mit der Absicht redlicher journalistischer Arbeit die Veranstaltung besuchen müssen. Für mich ist ihr Beitrag ein Beispiel dafür, wie die Lustlosigkeit der Schreiberin in ihren Text rutscht – ohne einseitige Propaganda oder böse Absicht – einfach weil sie an diesem Abend lieber woanders gewesen wäre. Das sind nur meine Vermutungen, wie auch die: Ein KI-erstelltes Transkript des Abends und die Zusammenfassung durch ChatGPT hätten einen für die Leserschaft informativeren Beitrag geliefert.

  1. Morgenpost Onlineausgabe 29.10.2025 ↩︎
  2. Bezirksamt Mitte Pressemitteilung vom 23.10.2025 ↩︎
  3. Der Titel des Vortrags von Andreas Zumach war: „Kriegstüchtig statt friedensfähig? Kriege der Gegenwart und neue Weltordnung“ ↩︎
  4. u.a.: Le Monde diplomatique vom 10.03.2022: Putins Krieg, Russlands Krise ↩︎
  5. nd: Sackgasse Aufrüstung 6.3.2025 ↩︎
  6. taz: Unverdrossen friedensbewegt, 30.7.2024 ↩︎