So denke ich.
Am 20. Mai veröffentlichte der Internationale Strafgerichtshof ICC die “ Erklärung des ICC-Staatsanwalts Karim AA Khan zu Anträgen auf Haftbefehle zur Situation im Staat Palästina“
Es folgten unisono die Zurückweisungen durch die Beschuldigten:
Netanyahu bezeichnete die Anträge des Chefanklägers Karim Khan als absurd und warf der Anklage Antisemitismus vor: “Als Ministerpräsident Israels weise ich den Vergleich des Haager Staatsanwalts zwischen dem demokratischen Israel und den Massenmorden der Hamas mit Abscheu zurück“. Israels Außenminister Israel Katz sprach von einer “skandalösen Entscheidung“. Diese stelle “einen frontalen, zügellosen Angriff auf die Opfer des 7. Oktober und unsere 128 Geiseln in Gaza” dar.
In gleicher Weise reagierte die Hamas-Führung: “Seine Entscheidung vergleicht das Opfer mit einem Henker und ermutigt die (israelische) Besatzung, den genozidalen Krieg fortzusetzen“, hieß es in einer Stellungnahme, die von dem Hamas-nahen TV-Sender Al-Aksa verbreitet wurde.
Soweit war alles erwartbar. Doch die Stellungnahmen einiger unserer politisch Verantwortlichen machten mich sauer. Friedich Merz in der BILD: Die gleichzeitige Beantragung von Haftbefehlen gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und die Führung der islamistischen Hamas sei „eine absurde Täter-Opfer-Umkehr“, sagte Merz der „Bild“ am Mittwoch. „Aber das Schweigen der Bundesregierung bis hin zur Andeutung des Regierungssprechers, dass Netanjahu auf deutschem Boden verhaftet werden könnte, wird nun wirklich zum Skandal.“ Für Merz ist Regierungsbashing sicherlich der wahre Grund dieser Äußerung.
Im Kommentar Staatsräson: Jetzt gilt es! äußert sich Volker Beck (Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft): “Die Bundesregierung muss die Intervention des Chefanklägers am Internationalen Strafgerichtshof, Karim A.A. Khan, eindeutig zurückzuweisen. Dieser Antrag stellt eine Ungeheuerlichkeit dar.” und weiter: “Die damit verbundene faktische Gleichstellung einer Terrororganisation mit einem demokratischen Staat und seiner Armee, die sich und die eigene Bevölkerung gegen einen Angriff verteidigt, stellt eine Ungeheuerlichkeit dar und lässt an der rechtlichen Orientierung der Ankläger zweifeln.”
Ich weiß nicht, ob Volker Beck (den ich für seine Haltung immer geschätzt habe) den Antrag des ICC-Anklägers wirklich gelesen hat. Dort wird Israel und Hamas nicht im Geringsten gleichgesetzt und an der rechtlichen Orientierung Khans gibt es kaum Zweifel.
Nach einem Besuch in Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde sagte er: „Die Angriffe auf unschuldige israelische Zivilisten am 7. Oktober stellen einige der schwerwiegendsten internationalen Verbrechen dar, die das Gewissen der Menschheit erschüttern. Es sind Verbrechen, mit denen sich der Internationale Strafgerichtshof befassen soll.“ Khan forderte außerdem die sofortige Freilassung der Geiseln, die im Zuge des Angriffs der Hamas auf israelische Grenzgemeinden am 7. Oktober in Israel entführt und nach Gaza gebracht wurden. „Es gibt keine Rechtfertigung für die Geiselnahme und insbesondere für den eklatanten Verstoß gegen grundlegende Prinzipien der Menschlichkeit durch die Entführung und Inhaftierung von Kindern . Geiseln dürfen nicht als menschliche Schutzschilde oder Verhandlungsobjekte betrachtet werden“.
Es lohnt sich, die Meinung von Jan-Christoph Kitzler, dem ARD-Korrespondenten in Tel Aviv dazu zur Kenntnis zu nehmen:
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat Haftbefehle beantragt gegen drei Führungskader der Terrororganisation Hamas und gegen Benjamin Netanyahu und Joaw Galland, Israels Premier und Verteidigungsminister.
Ganz unabhängig davon, wie das Gericht entscheidet, ob am Ende wirklich Haftbefehle erlassen werden und gegen wen, allein die Tatsache, dass die fünf Fälle in einem Atemzug veröffentlicht wurden, hat große Empörung ausgelöst. Der Vorwurf: der Angriff der Hamas und anderer Terrororganisationen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober und Israels Kriegführung in der Folge würden auf eine Stufe gestellt. Vermutlich hat sich kaum einer der Kritiker die Mühe gemacht, die Erklärung des Chefanklägers Karim Khan in Gänze nachzulesen. Sie unterscheidet sehr wohl auch in der Qualität zwischen den Taten der Hamas und den Folgen des Kriegs in Gaza, für die auch Israels Regierung die Verantwortung trägt.
Über das, was am 7. Oktober und an den darauffolgenden Tagen passierte, kann es keine zwei Meinungen geben. Nach tausenden Raketen kamen die Terroristen aus dem Gazastreifen nach Israel, um Menschen in großer Zahl abzuschlachten, zu vergewaltigen, zu verschleppen. Haftbefehle gegen Vertreter der Hamas sollten eine Selbstverständlichkeit sein.
Mit den Folgen der israelischen Kriegführung im Gazastreifen ist es allerdings weniger eindeutig, nicht nur, weil der Krieg noch andauert. Angesichts vieler Opfer einer flächendeckenden Zerstörung, Hunderttausenden, die nicht genug zu essen haben und vielen Verletzten, die nicht richtig versorgt werden, stellt sich die Frage, wo endet das Recht auf Selbstverteidigung Israels, das auch von der Bundesregierung immer wieder beschworen wird, und wo beginnen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs ist der Meinung, die Grenze wurde überschritten, jetzt muss sich das Gericht mit der Frage befassen. Die Empörung, vor allem aber nicht nur in Israel, ist nun gewaltig. Außenminister Katz sprach von einer historischen Schande, Oppositionsführer Benny Gantz von moralischer Blindheit und Premier Netanyahu sagte gar, so sehe der neue Antisemitismus aus.
Man darf den Richterinnen und Richtern durchaus zutrauen, zu unterscheiden. Und so ist der Aufschrei wegen der behaupteten Gleichsetzung des Terrors der Hamas mit der israelischen Kriegführung in Gaza vor allem eins, Ablenkung von dem, was in Gaza gerade passiert. Ob daran ausschließlich die Hamas schuld ist oder auch Israel, ob Israel als Kriegspartei seiner Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza gerecht wird, darüber urteilt jetzt der Internationale Strafgerichtshof.
Es ist gut, dass genau hingesehen wird, denn es geht um wichtige Fragen und es ist dem Gericht zu wünschen, dass es sich dabei nicht ablenken lässt.
Welche Kritik man auch am Internationalen Strafgerichtshof haben mag, dem Schluss der Erklärung zu Anträgen auf Haftbefehle sollte man zustimmen können:
Heute möchte ich eine Botschaft ganz klar unterstreichen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir, wenn wir nicht unsere Bereitschaft zeigen, das Recht gleichermaßen anzuwenden, wenn es selektiv angewandt wird, schaffen wir die Voraussetzungen für seinen völligen Zusammenbruch. Und wenn wir das tun, würden wir die verbleibenden Bande lösen, die uns zusammenhalten, die stabilisierenden Verbindungen zwischen allen Gemeinschaften, allen Individuen, das Sicherheitsnetz, auf das alle Opfer in Zeiten des Leids schauen.
Dies ist die wahre Gefahr, der wir in diesem gefährlichen Moment gegenüberstehen. Jetzt müssen wir mehr denn je gemeinsam zeigen, dass das humanitäre Völkerrecht, die grundlegende Basis für menschliches Verhalten in Konflikten, für alle Menschen und in allen Situationen gleichermaßen gilt.
So werden wir die Wahrheit beweisen, dass das Leben aller Menschen, aller Opfer, wo auch immer sie sein mögen, den gleichen Wert hat.
Die Opfer von Verbrechen werden vom ICC gleichgesetzt, nicht die Verantwortlichen für verbrecherische Taten und schon gar nicht die Länder, denen sie vorstehen.
Wer die Frage nach der Legitimität der gleichzeitigen Anklagen gegen Hamas-Führer und israelische Spitzenpolitiker durch die das ICC ein bisschen philosophischer betrachten möchte, dem rate ich zur Lektüre von Robert Zaretskys Nachdenken über die Frage “How Hannah Arendt Would Respond to Israel Being Accused of Crimes Against Humanity“.