Deutschland lebt ökologisch wieder auf Pump
Seit dem 3. Mai hat Deutschland rein rechnerisch die natürlichen Ressourcen aufgebraucht, die für das ganze Jahr reichen müssten, wie die Organisation Global Footprint Network berechnet hat.
Vor ungefähr einem viertel Jahrhundert schrieb Brigitte Burmeister diese Erzählung.
Herbstfest
Brigitte Burmeister, 1991
Unser Redner heißt Fabian. Wer ihn nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Wortes.
Auch wenn die meisten von uns in solcher Unkenntnis leben, ohne Bedauern und, wie wir feststellen, von Jahr zu Jahr besser, Fabian, den Redner, lieben und verehren wir. Ihn am Tag des Herbstfestes zu hören, war mein Vorschlag. Kaum hatte ich ihn öffentlich ausgesprochen, wurde er als Wunsch der Allgemeinheit gebilligt und vom Vorbereitungsausschuss angenommen. Ich bekam den Auftrag, Fabian einzuladen.
Er wisse die Ehre, von uns zum Festredner bestimmt zu sein, wohl zu schätzen, sagte Fabian, während er mit dem Zeigefinger der rechten Hand Erde unter den Fingernägeln der linken Hand hervor kratzte. Er werde also kommen, und wir sollten um gutes Wetter beten. Wie das zu verstehen war, wusste ich nicht. Weil ich aber wusste, dass man Fabians Aussprüche gelegentlich zitierte, längst nicht mehr diskutierte, hütete ich mich zu fragen. Statt dessen zeigte ich auf eine Melde direkt vor meinen Füßen. Jeder von uns hätte die prachtvolle Pflanze freundlich betrachtet. Fabians Miene blieb gleichgültig. Arbeitete er in Gedanken schon an seiner Rede? Oder hatte er die von Grund auf gewandelte Einstellung zu einst so genanntem Unkraut vergessen? Das Alter, gewiss. Nachsicht war da eher am Platz als Verwunderung oder gar Sorge. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann ich Fabian zum letzten Mal hatte reden hören. Seltsam. Nie, bis zum Blick auf die Melde, wäre mir in den Sinn gekommen, nach einer solchen Gedächtnisspur zu forschen. Wir müssen Fabian nicht hören, nicht mit ihm sprechen, er ist uns gegenwärtig. Wir sehen ihn häufig, von weitem, über ein Beet gebeugt, bei der Baumpflege, am Komposthaufen oder neben der Zisterne auf dem Dach seines Hauses. Er gehört in die Siedlung fast ebenso wie die große Linde, unsere Starke, vor der die Schulkinder mit ihren Zeichenblöcken sitzen. Wäre der Baum plötzlich verschwunden, spürten wir den Verlust auf der Stelle. Sehen wir Fabians weißen Haarbusch nicht gegen den blauen Himmel, vor dem begrünten Mäuerchen, an das er seinen Arbeitstisch gerückt hat, fällt es uns früher oder später auf, und beruhigt sind wir erst, wenn sich herausstellt, eine harmlose Krankheit nur, eine Reise, eine seiner ganz unregelmäßigen Fastenzeiten, in denen er das Haus nicht verlässt.
Dergestalt leben wir mit Fabian.
Ich sah ihm nach, wie er gebeugt und steifbeinig durch ein Spalier vertrockneter Beerensträucher auf sein Haus zuging. An der Tür drehte er sich um. Ich dachte, er würde jetzt winken, doch er blickte schräg nach oben, als wollte er sich vergewissern, ob der Himmel noch da sei und so blass vor Hitze wie seit Monaten.
Fabians Haus, eines der ältesten in der Siedlung, war beispielgebend seinerzeit, als Lauben und schäbige Bungalows abgerissen wurden, als unter uns, ja manchmal auf ein und derselben Baustelle, der Streit zwischen den Anhängern moderner Konstruktion und den Pionieren eines behutsamen, naturnahen Bauens entbrannte, ein Streit, den Fabian mit der Losung «Sanft ist modern» zu schlichten suchte und den sein Haus dann praktisch entschied. Anfangs waren wir froh und stolz, dass Kommissionen, Expertengruppen, Bauherren und Schaulustige in Scharen herkamen, um selbst zu besichtigen, was im ganzen Land gerühmt wurde: unser Vorstoß in eine neue Ära des Eigenheims. Zum Glück ließ der Andrang nach, bevor die Gärten zertreten waren, die Gemeinschaftswiese zugestellt mit improvisierten Imbissständen und wir den freien Zugang hätten sperren müssen, die äußerste Maßnahme, einem jeden von uns verhasst. Die Kräfte der Selbstregulierung taten auch diesmal ihre Wirkung. Wer genug gesehen hatte, fuhr nach Hause und begann unverzüglich zu bauen. So vernahmen wir das Echo unserer Tätigkeit eine Zeitlang in den Arbeitsgeräuschen, die aus dem Grüngürtel des Nachbarortes herüberdrangen, dann nur noch durch die Medien. Dort meldeten sich bald die Kritiker zu Wort, ihnen folgten die Verleumder. Obgleich wir wußten, dass nichts Neues sich ohne Kampf durchsetzt, dass es kein Gutes gibt, an dem nicht irgend jemand Schlechtes entdecken wird, ging es uns nah zu erleben, wie die Anfeindungen Fabian kränkten. Er wurde krank nach der Kampagne, die ein mit Jean-Jaques unterzeichneter Artikel «Wider die Landschaftszerstörer im Ökologenpelz» ausgelöst hatte.
Die Kinder wissen von alledem nichts mehr. Sie tollen über die Steinwege und durch die Gewächshäuser, verspritzen Wasser unbeschwert, ganz dem Augenblick hingegeben. Wir Älteren freilich fangen an zu fragen, ob wir gut daran taten, die Vergangenheit, soweit wir selbst in ihr vorkamen, auf sich beruhen zu lassen. Es ist ja nicht so, dass unser Volk nichts von Geschichte hält. Nur hat in dieser Hinsicht die Leidenschaft stark abgenommen. Da und dort bestehen noch die lokalen Zirkel, in den Jahren der Umwälzung ein landweites Netz, vibrierend vor Erinnerungsdrang. Damals, als wir bis über die Ohren in Arbeit und Sorge steckten, fand sich Zeit, alte Korrespondenz und Fotoalben zu durchstöbern, Stoff zu sammeln für Chroniken, die Geschehenes bergen und neu erzählen sollten. Heute haben wir es leichter, uns der jüngsten Vergangenheit zu vergewissern, sie ist gut aufgehoben und geordnet, häufig ersparen Ton und Bild die Mühe des Lesens. Jedoch sind alle mit der immer ausgedehnteren Freizeit viel zu beschäftigt, um Archive und dergleichen aufzusuchen. Auch darin ging unsere Siedlung dem Umfeld voran, wir stürzten uns geradezu in das Hier und Heute. Vielleicht kündigt sich jetzt, in den Fragen der Älteren, ein neuerlicher Wandel an.
Dieser Gedanke kam mir, ich weiß es wie heute, beim letzten Treffen der Gruppe ehemaliger Wegbereiter. Es war in der angenehmsten Jahreszeit, an einem milden Märzabend. Wir saßen im Freien, tranken und redeten und hörten schweigend den Vögeln zu, der gelben und der grauen Bachstelze, der Goldammer, dem Kranich und der Schnepfe. Als die Kassette zu Ende war, fragte jemand, in welchem Jahr Fabian seine schöne Gedenkrede auf den Lenzanfang gehalten hatte, diese Rede, in der er Vögel nannte und Pflanzen, deren Namen sehr poetisch wirkten, wahrscheinlich einem älteren Buch entnommen – die Zitterpappel, das Scharbocks- oder Löffelkraut, der Ackerehrenpreis oder Hühnerbissdarm, ja, diese seltsamen Namen, anrührend wie das Wort Lenz selber, habe man sich merken können, aber wann sie gefallen seien … Niemand wusste es genau. An den großen Streit indes erinnerten wir uns. Er zog sich über Jahre hin, bis er im Sande verlief.
Im Rückblick erkannten wir, dass damals Weichen gestellt wurden, nicht zuletzt durch unseren Fabian, der zu den Initiatoren der Debatte «Fünf vor zwölf» gehörte. Den Anstoß gab, das fiel uns nach und nach wieder ein, die Sendereihe «Vorgericht», unmittelbar vor den Mittagsnachrichten. Jeden Werktag lasen ein Autor oder eine Autorin Gedichte ihrer Wahl. Niemanden hätte das gestört, wäre nicht bald eine Tendenz erkennbar geworden. Die Zeitungen griffen sie auf, nannten sie links einen erschütternden Warnruf, rechts hingegen Panikmache und Gefühlsduselei. Die Blätter der Mitte fanden hilfreiche Formeln: Krisen sind Quellen der Kraft, hieß es und: Statt Dichterspruch ein Wort in eigener Sache. Dies nun rief im ganzen Land Nachdenkliche auf den Plan. Nicht dass wir zuvor tatenlos und stumm gewesen wären. Wer bemerkt, dass er vergiftet wird, der wehrt sich schon. Doch auf die Dauer wird der Atem knapp dabei, die Kräfte lassen nach. Den grünen Gruppen wäre es vielleicht ergangen wie den örtlichen Geschichtsforschern, hätte nicht der große Rednerstreit damals die rettende Wende herbeigeführt.
Wir, die frühen Mahner und Wegbereiter, fragten uns, den Erinnerungen hingegeben, wie die Macht des Wortes dieses Werk vollbringen konnte. Im allgemeinen zeigt unser Volk längeren Reden gegen über Ungeduld, gelegentlich sogar Verachtung für jene, die nichts als Worte machen. Bei uns zählt die Tat. Freilich verstehen wir, dass es Vordenker geben muss und für Mußestunden auch schöne Schriften, in denen wir wiederfinden, was wir selbst so nicht hätten sagen können. Zu den Grundregeln unseres Gemeinwesens gehört, dass wir den Geist gewähren, die Künstler schaffen und die Redner reden lassen. Fabian aber setzte uns zu. Sosehr wir uns sonst voneinander unterschieden, einmal in der Woche wurden wir alle zu seinen Hörern, und kein Tag verging, an dem nicht irgendwo irgendeiner seiner Aussprüche zitiert oder diskutiert wurde. An der Debatte «Fünf vor zwölf» beteiligten sich viele, auch ungewohnt viele junge Frauen, auch erbitterte Gegner von Fabian, und doch war es letztlich seine Veranstaltung, war der neue Weg sein Sieg. Als Fabian nach Bekanntwerden der entscheidenden Beschlüsse die Uhr im Studio anhielt und sagte, wir hätten, vielleicht zum letzten Mal, eine Gnadenfrist errungen, war der Streit praktisch entschieden, auch wenn er, kaum mehr beachtet, noch eine Weile weiterging, ohne Fabian, der aus der Öffentlichkeit an seinen Schreibtisch, in seinen Garten zurückgekehrt war.
Der erschien mir, als ich an der Hecke lehnte und Fabian nachsah, auf schwer bestimmbare Weise verändert. Nicht wegen der Trockenheit, deren Spuren ein inzwischen vertrauter Anblick sind. Es gab überhaupt nichts Auffälliges, eher einen Schatten von Gleichgültigkeit über allem, auch stand der Arbeitstisch nicht mehr im Freien. Da entdeckte ich an seinem Platz ein kahles Stöckchen, von einem Drahtschutz umgeben, gleich daneben die Gießkanne. Ich traute meinen Augen nicht. Wer pflanzte um diese Zeit! Fabian war ein erfahrener und behutsamer Züchter, das leichtsinnige Experiment gewiss nicht seine Sache.
Man kannte ihn, im Gegenteil, als Verfechter des Machbaren. Durch praktische Erfahrung unterschied er sich von Schwarmgeistern ohne Augenmaß, die uns damals einzureden versuchten, wir sollten der Welt ein Beispiel geben durch radikale Umkehr. Ausgerechnet wir, erschöpft von einer Epoche der Experimente. Rings im Land Graues, die Vergangenheit finster, was sollten uns da die Rufe der Schwarzseher? Hatten wir nicht lange genug die Verkünder einer lichten Zukunft ertragen? Wir sind friedfertig und geduldig, manch einer nennt uns träge. Damals gerieten wir in Aufruhr. Nicht mit uns! hieß es, wo immer die neuen Prediger auftraten, Leute, die Angst schürten und Verzicht verlangten, dabei freundlich in die Kamera blickten. Ich habe mich später gefragt, warum wir ihnen so viel heftiger entgegentraten als den leitenden Herren, an deren Rechnungen wir langsam erstickten. Erschien einer von ihnen zur Diskussion, geriet unsere Seite in Verwirrung, mussten wir uns mangelnder Sachkenntnis, unkorrekter Zahlenangaben überführen lassen, spürten wir Unterlegenheit und einen eingefleischten Respekt vor dem Erfolg.
Die Erfolgreichen von gestern, rief Fabian, als hätte er unsere Gedanken gelesen. Ja, dieselben, deren Erfolg uns heute krank macht und unter deren lautlosem Kommando wir dabei sind, unsere Enkel zu ermorden!
Fabian stritt unermüdlich, im Bunde nicht allein mit Luft, Gewässern, Wald und den bedrohten Arten.
An der Spitze des Fortschritts keimen Einsicht und die Mittel, ihr gemäß zu handeln. Schließen wir uns an! Auch unser Volk will endlich auf einen grünen Zweig gelangen. Einen grünen, wohlgemerkt, betonte er, wenn ein Altwirtschaftler zugegen war. Aber Wohlstand, was denn sonst. Nicht die Rückkehr an den Hakenpflug, nein, die Versöhnung unserer Bedürfnisse mit dem Haushalt der Natur, liebe Freunde.
Als einziger hörte Fabian den Radikalen ruhig zu, auch wenn sie seine Vernunft einen faulen Kompromiss nannten.
Natürlich hört man dich gern, sagte der lächelnde Junge, neben dem Fabian beinah streng wirkte. Selbstverständlich wirst du dich durchsetzen, du forderst ja, was schon im Gange ist. Schützen, sparen, Korrekturen da und dort, Vertrauen auf die passenden Erfindungen. Nur keinen Einschnitt in unsere Lebensweise, keine wirkliche Umkehr. So sägen wir weiter an dem Ast, auf dem wir sitzen. Die großen Katastrophen stehen bevor, der rettende Ausweg liegt offen vor unseren Augen, nur beschreiten wird die Menschheit ihn nicht, sie ist schon zu alt. «Es gibt, das fühle ich, ein Alter, bei dem der einzelne Mensch stehenbleiben möchte. Du wirst das Alter suchen, von dem du wünschst, dass deine Art in ihm verharrt hätte. Unbefriedigt von deinem jetzigen Zustand, aus Gründen, die deiner unglücklichen Nachkommenschaft noch größere Unzufriedenheit verheißen, möchtest du vielleicht zurückgehen können. Und dieses Gefühl muss zum Lobpreis deiner Urahnen, zur Kritik an deinen Zeitgenossen und zum Entsetzen vor denen werden, deren Unglück es ist, nach dir zu leben», schloss der Junge und ließ das Blatt sinken, von dem er abgelesen hatte. Selten ist Fabian schöner, als wenn er lacht. Sein Lachen damals habe ich nicht vergessen, nicht die plötzliche Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Jungen, auch nicht meine Überraschung, ihn sagen zu hören: Lieber Bruder. Das hättest du besser nicht vorgelesen, der Unkenruf ist bald zweieinhalb Jahrhunderte alt, es gibt noch viel ältere, denn ebenso wie Zukunftshoffnung kennen die Menschen seit je das Gefühl ihres nahen Untergangs. Er wisse das, aber, antwortete der Junge: Es gibt einen Unterschied zu früher — jetzt ist es wirklich soweit. Deshalb frage er sich, ob es angesichts des unabweislich scheinenden Endes möglich sei, ein Leben zu führen, das frei bleibt von Angst und Resignation.
Vielleicht antwortete er auch etwas anderes. Vielleicht waren die letzten Worte nicht von ihm. Ich weiß nicht mehr, das alles ist lange vorbei. Ich sehe aber noch vor mir, wie Fabian den kleinen Bruder umarmte, er war wirklich klein und versuchte sich loszumachen. Was Fabian sagte, war kaum zu verstehen. Apfelbäumchen, hörte ich. Das mochte mit einer frischen Pflanzung zu tun haben, oder es war ein Teil des Lutherspruches, den wir alle kannten, seit er dem grünen Friedenskreis als Losung diente. Auch aus der Erwiderung des Bruders — dann geh nur gleich in deinen Garten — ließ sich der in der Umarmung erstickte Satz nicht erschließen. Sie hielten sich noch einen Augenblick bei den Händen, Fabian und der Kleine, den ich seitdem nie wieder gesehen habe.
Später hieß es, er sei dieser Jean-Jacques, dessen Artikel Fabian krank machten, kurz darauf, mit ein paar Gleichgesinnten sei er ausgewandert, nach Australien mindestens. Gerüchte. Fabian schwieg dazu.
Selbst wenn es zu der Zeit, aus Schmerz über die Feindseligkeit und den Verlust des Bruders begonnen hätte, dürfte man es nicht als Privatsache deuten, das Schweigen unseres Redners. Fabian redete und Fabian schwieg in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Geschichte. Wir begriffen es nicht gleich, einige von uns baten und drängten — zur Antwort erhielten sie wiederum Schweigen.
Da dachten wir nach. Das Nachdenken selbst fiel uns auf. An den großen Streit bereits gewöhnt, hatten wir ihn mit Stellungnahmen begleitet, wie wir das Anheben der Gläser im Biergarten kommentieren. Weil jetzt Fabians Stichwörter ausblieben, gab es einen Grund zu fragen, und wir bemerkten, dass wir seit geraumer Zeit nach keinem Grund mehr gefragt hatten. Es erschien uns, am Ende der Überlegungen, sicher, dass Fabian die Hörer seines Schweigens dazu aufforderte, sich auf den Boden der Tatsachen zu begeben. Dort waren, wie jeder wusste, inzwischen die Entscheidungen gefallen, die weiter heftig umstritten wurden, mündlich oder schriftlich, als könnte die Gemeinschaft sich nicht von einer lieb gewordenen Beschäftigung trennen, als sollte ihre Spielhand in der Luft durchkreuzen, was unsere Arbeitshände Tag für Tag festigten — den Weg eines umweltfreundlich wachsenden Wohlstands für alle, hatte Fabian gesagt, den Weg der Lemminge, sagten die Schwarzseher, eine Traumtänzerei in den wirtschaftlichen Ruin, sagte die Altpartei des industriellen Fortschritts. Wenn sie alle schwiegen oder wenn wir ihren Disput nicht mehr verfolgten, was würde uns fehlen? Nichts, das uns bei der Arbeit, im Alltag nützte, ein Stück Freizeitbeschäftigung wohl, fanden wir, aber gerade auf diesem Gebiet entfalteten sich die Angebote, hatten wir eigentlich alle Hände voll zu tun. Warum also bei einem überholten Gesellschaftsspiel bleiben? Durch Fabians Schweigen angespornt, redeten wir uns in Leidenschaft und entwickelten vieles von dem, was heute bewährte Praxis ist.
So entstand auch die Idee eines jährlichen Festes, irgendwann zwischen Frühlingsanfang und Herbstende. Seither haben wir kein Jahr ausgelassen. Die meisten von uns arbeiten viel und kennen den Wert des Feierns. Indes schrumpft die Gruppe derer, die noch wissen, dass sie den fröhlichen Lärm hier, einmal im Jahr, letztlich einem Schweigen verdanken. Ein Hinweis auf diesen Zusammenhang dürfte nicht fehlen in der Siedlungschronik, die mir vorschwebt. Wie überhaupt unsere Beziehung zu Fabian vorkommen müsste. Es gibt ja dergleichen nicht mehr. Ob jemand spricht oder schweigt, wir hören kaum hin, haben schnell vergessen. Die mittlere Generation scheint nichts zu vermissen. Aber die Jüngeren — und nicht nur die Kränklichen unter ihnen, die naturgemäß mehr Zeit zum Grübeln haben – zeigen schon häufiger das Verlangen nach einer Stimme, die ihnen etwas zu sagen hätte. Vielleicht dachte ich gerade an die Kinder meiner Kinder, als ich vorschlug, Fabian um eine Rede zu bitten.
Nun spricht er schon seit Stunden. Es war nutzlos, inzwischen ist es unnötig, ihn zum Aufhören zu ermahnen. Seine von Anfang an viel zu leise Stimme mischt sich in die allgemeinen Geräusche. Ein Zirpen und Pfeifen dort, unter der Linde, ein kleiner Ton im Festgetöse, der sich, wenn man nahe von Fabian stehenbleibt, in verständliche Worte verwandelt. An Fabians Anblick — malerisch die weißen Haare, das dunkelgrüne Hemd, der rote Seidenschal — hat man sich gewöhnt. Der alte Mann, der am Baumstamm vor sich hin spricht, gehört zur Vielfalt des Programms. Denn bei uns gibt es nicht nur Beköstigung, Getränke und Musik. Mich hatte Stolz erfüllt, als ich Fabian, kaum dass er eingetroffen war, über das Gelände führte. Er konnte sich an die Anfänge ja erinnern, also bemerken, dass wir den ursprünglichen Entwürfen treu geblieben sind, sie nur weiter vervollkommnet haben. Das Feuchtigkeitsbiotop, die Exponate der Züchter, der Erntedankbasar, die Lehrschau der Innovatoren, die Versuchsstation — all das musste Fabian, auch wenn er die letzten Jahre nicht zum Fest gekommen war, vertraut sein und Anlass zur Freude über Schritte in die richtige Richtung. Doch er ging neben mir her, als gingen ihn unsere Erfolge nichts an. Von Zeit zu Zeit sah er gen Himmel und schüttelte besorgt den Kopf: Unser Gebet um gutes Wetter sei nicht erhört worden. Ich wollte widersprechen. Ein blaugoldener Herbsttag, wie er im Buche steht, allerdings hatte man angesichts der Trockenheit beschlossen, das Gelände, nur für diesen Tag, künstlich zu bewässern. Regen, sagte Fabian, ausgiebiger Regen, ein Wetter wie früher wäre gut. Dass unser Fest dann ins Wasser fallen müsste, schien ihn nicht zu kümmern.
Ich führte ihn an meinen Lieblingsort. Über dem blinkenden Wasser schwirrte und surrte es, vor unseren Füßen kroch eine kleine Kröte, die Luft roch würzig, leicht süß. Es war uns gelungen, im Tümpel und an seinem Ufer weit über die Hälfte der einst hier heimischen Tier- und Pflanzenarten wieder anzusiedeln. Ich nannte Namen, deutsche und lateinische, noch hatten wir keine Schildchen aufgestellt. Fabian blickte hinüber zu den Seerosen. Nehmen wir an, sagte er, dass ihre Zahl sich jeden Tag verdoppelt. Nehmen wir weiter an, dass diese Seerosen nach neunundneunzig Tagen die Oberfläche des Wassers zur Hälfte bedecken. Wie viele Tage würde es dann noch dauern, bis der Tümpel völlig zugewachsen ist?
Die Verehrung für unseren Redner hinderte mich an einer groben Antwort. Fabian hatte meine Erläuterungen unterbrochen und nur, um eine altbekannte Scherzfrage zu stellen. Einen Tag, natürlich, sagte ich, so ruhig ich konnte. Fabian nickte: eine geometrische Progression. Den Seerosen kann man sie nicht vorrechnen, ebenso wenig wie man Choleraerregern raten kann, die Vermehrung einzustellen, bevor ihre Welt zusammenbricht, bevor sie also mit dem Menschenkörper zugrunde gehen, in dem ihre Population wächst und wächst, alle zwanzig Minuten eine neue Generation, in jeder Stunde drei Generationen, das macht rund hundert innerhalb von dreiunddreißig Stunden, und in ebendieser Frist wird es gefährlich für den Menschen, der sich in einem fernen Land infiziert hat, weil er es an der gebotenen hygienischen Vorsicht fehlen ließ und deshalb … Wir sollten rechts herum gehen, der andere Weg endet im Sumpf, sagte ich und ging ein paar Schritte voraus. Was war in Fabian gefahren, dass er, statt auf seine Umgebung zu achten und den schönen Tag zu genießen, ein Schulbeispiel wiederkäute, einen Fall von Fehlverhalten im Überlebensspiel der Natur, eine Art Prüfung, bei der beide Kandidaten versagt haben, das war klar, der Mensch, weil er seine Intelligenz nicht zu seinem notwendigen Schutz gebrauchte, die Krankheitserreger, weil sie ihre Vermehrung über jene kritische Zahl hinaus fortsetzten, die mit der Weiterexistenz des menschlichen Organismus noch vereinbar gewesen wäre, so hatten wir seinerzeit gelernt und begriffen, dass die Natur mit durchgefallenen Prüflingen kurzen Prozess macht. Aber was hatte das hier und jetzt zu suchen?
Fabian folgte mir, schweigend, an den Stand der Obstzüchter, wo ich ihm die neueste Apfelsorte zeigte. Über ihren Namen wird nachher abgestimmt, viele Vorschläge stehen zur Auswahl, darunter «Fabiansgold» , wie gefällt Ihnen das?
Nichts schien ihm zu gefallen. Sonne, festliche Stimmung und heitere Gesichter, Leute, die freundlich grüßten — Fabian blieb teilnahmslos. In der Nähe der Versuchsstation kam plötzlich Leben in ihn. Er beschleunigte den Schritt.
Da wolle er eben mal sehen, ob man immer noch dabei sei, irgendein armes Land zu ruinieren. In bester Absicht, selbstverständlich. Je energischer die Maßnahmen, desto verheerender die Folgen. Erinnern Sie sich? Dieses Psychologenspiel aus dem vorigen Jahrtausend. Eine Zeitlang war es recht beliebt. Die einen hatten Spaß daran, im Selbstversuch zu beweisen, dass der gesunde Menschenverstand, eindimensional, wie er nun mal vorgeht, unweigerlich scheitert, wenn er in sehr komplexe Verhältnisse eingreift. Die anderen hat es gereizt, Grenzen der natürlichen Intelligenz zu überschreiten, also arbeiteten sie an entsprechenden Programmen. Den PC-Raum gibt es doch noch?
Gewiss, sagte ich, aber wir Laien durchschauen schon lange nicht mehr, was dort gemacht wird. Allein daraus lässt sich ersehen, dass die Spezialisten heute viel weiter sind als in den Jahren, von denen Sie sprechen.
Daran zweifle er nicht im geringsten, nur seien die Probleme, die es zu lösen gilt, noch viel weiter, nämlich exponentiell, gewachsen, wie vorhin die Seerosen, verstehen Sie?
Mir war es recht, dass Fabian in der Versuchsstation verschwand. An das Entwicklungshilfespiel erinnerte ich mich dunkel. Beteiligt hatte ich mich nie. Länder, die nur im Speicher eines Computers existieren, interessieren mich nicht. Statt über abstrakten Modellen zu brüten, entwickelten wir, die Gruppe der Ökobastler, praktische Vorschläge, nicht global, sondern lokal, nicht nur für die Hungerländer, sondern zunächst einmal für uns selbst, die Gesundung unserer Umwelt. Wir sind gut damit gefahren und haben uns in die Lage versetzt, heute auch anderen mit Rat und Tat zu helfen, der Basar, die Schau der Innovatoren zeigen es von Jahr zu Jahr besser. Ganz im Sinne der Worte von Fabian, seinerzeit. Warum er sich heute so sonderbar verhielt, defätistisch geradezu, begriff ich nicht. Bei dem Gedanken an seine Rede war mir unwohl, aber ich konnte nicht lange daran denken, man brauchte mich, unser Windrad hatte einen Defekt.
Ich war in die Arbeit vertieft, als mich jemand vom Festausschuss ansprach. Da ich Fabian eingeladen hätte, sollte ich ihn jetzt auch veranlassen, endlich still zu sein, auf mich werde er hoffentlich hören.
Einen solchen Redner unterbricht man nicht, sagte ich.
Redner? Ein Störenfried, nichts weiter, einer, dem es gefällt, den anderen die Stimmung zu verderben, ein Nörgler, man kenne das doch, all die Schreckenszahlen, siebenhundertvierzig Millionen Hungernde und jährlich mehr Hungertote, als der letzte Weltkrieg an Opfern forderte, und wir, immer wir, die schuld sein sollen, schuld an der Ausplünderung der Welt, an fehlender und an verfehlter Hilfe, vielleicht auch noch schuld daran, dass die Menschheit hemmungslos wächst und sich damit letztendlich umbringen wird, wie dieser sogenannte Redner unaufhörlich vorrechnet und mit zweifelhaften Vergleichen zu veranschaulichen sucht. Als ob unser Volk nicht schrumpft, dass einem himmelangst werden kann, sagte das Ausschussmitglied, sehr aufgebracht.
Ich versprach, zu Fabian zu gehen, sobald ich die Reparatur beendet hätte.
Unterwegs zur Linde, traf ich meinen jüngsten Enkel. Ich freute mich, wie gesund er aussah. Es gehe ihm wieder gut, ja, aber ein Stehvermögen wie der alte Fabian habe er nicht. Der rede zwar sehr leise, dafür ununterbrochen, seit zwei Stunden ungefähr, und spannend sei es auf alle Fälle, auch wenn kaum jemand zuhöre. Kein Wunder, sagte mein Enkel, Hiobsbotschaften sind unbeliebt, aber für dich sieht es nicht ganz so schlimm aus, denn unterm Strich bleibt: Je jünger, desto schlechtere Karten für die Zukunft.
Glaubst du denn, was Fabian sagt?
Leider, antwortete der Junge fröhlich. So gesehen, wolle er etwas aus dem heutigen Tag machen. Ins Musikzelt gehen, jetzt gleich.
Gegen das Gedröhn von dort und die Stimmen ringsum wäre Fabian auch mit seiner früheren Lautstärke nicht angekommen. Als ich nahe genug heran war, um ihn zu hören, blieb ich stehen, im Gedränge der vorbeiziehenden Gäste. Ich wurde häufig gerempelt, aber nicht weiter gestört, denn die Leute wussten Bescheid oder wollten gar nicht erst wissen, warum der eindrucksvolle alte Mann unter dem Baum stand und sprach. Als wäre all sein Schwung, die Gestik, das wunderbare Mienenspiel von ihm abgefallen, stand Fabian da, auf seine bloße Gegenwart reduziert, aus Gründen der Kraftersparnis vielleicht. Der Gesichtsausdruck, unverändert, zeigte Konzentration und Entrücktheit gleichermaßen, fand ich nach längerer Betrachtung, und er strahlte Ruhe aus. Völlig beschäftigt mit Fabians Anblick, mit diesem sparsamen, in sich geschlossenen Abbild unseres Redners, hörte ich seine Worte nebenher als Geräusch, erst nach geraumer Weile als Rede. Er verhieß das nah bevorstehende Verschwinden unserer Art von dieser Erde. Dass wir ihm sehenden Auges entgegengehen, spricht nur für die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung, sagte Fabian. «Was bei unserer Fortschritts- und Wachstumsraserei in Gefahr gerät, ist nur vordergründig die Natur. In Wahrheit … haben wir angefangen, uns selbst in Frage zu stellen dadurch, dass wir nach Kräften an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen: an der Stabilität der irdischen Biosphäre nämlich, die sich unter unserem Ansturm sehr wohl auf ein anderes Gleichgewicht einpendeln könnte. Dies aber wäre dann nicht mehr jenes besondere, unverwechselbare biologische Milieu, an das unsere Art sich in einer langen Stammesgeschichte angepasst hat.»
Diese Sätze, so erschreckend ihr Inhalt war, berührten mich seltsam, mit einer Vertrautheit, deren Grund ich plötzlich erkannte. Fabian war dabei, die Reden seines verschollenen Bruders zu wiederholen.
Und er tat es noch, als ich eine Stunde später ein zweites Mal zu ihm ging. Wieder sah er mich nicht, und wieder mischte sich seine Stimme in die allgemeinen Geräusche, ein kleiner Ton im Festgetöse. Vom anderen Ende der Wiese erklang starker Beifall. Ich erfuhr, dass die neue Apfelsorte den Namen «Herbstfest» erhalten hatte.
Nach einer Rast im Biergarten kehrte ich zur Linde zurück, in Begleitung einiger alter Freunde. Fabian war nicht mehr da, aber noch drang ein Zirpen und Pfeifen von dort herüber, wo er gestanden hatte und wo sich jetzt kleine Tiere tummelten, im Schutz der Nacht und der Verlassenheit des großen Baumes.