Den Sack schlägt man, den Esel meint man

oder

Nur tertiärer Analphabetismus?

Die Unionsfraktion im Bundestag will einen Untersuchungsausschuss einrichten, denn die Entscheidungsfindung zur Abschaltung der drei letzten deutschen AKWs wäre „nicht zum Wohle Deutschlands, sondern ausschließlich nach der Logik grüner Parteipolitik“ entschieden worden, schrieben Metz und Dobrindt in einem Brief an ihre Bundestagsfraktion.1
Jens Spahn hält den Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Atomausstieg für notwendig, da die Regierung die Öffentlichkeit getäuscht habe. In einer Aktuellen Stunde des Bundestages hatte er am 15. Mai bereits eine Brandrede gehalten:

Robert Habeck habe behauptet, es gäbe kein Stromproblem, es gäbe keine Brennstäbe für den Weiterbetrieb, das Abschalten der Kernkraftwerke hätte keinen Einfluss auf die Strompreise gehabt und auch keinen auf den CO₂-Ausstoß und ein Weiterfahren der AKW würde die nukleare Sicherheit nicht mehr gewährleisten. „Heute wissen wir, alle, aber wirklich alle Ihre Behauptungen von damals waren falsch!“. Auch, dass die Betreiber den Weiterbetrieb nicht gewollt hätten, sei falsch.
„Sie haben unserem Land mit dieser Entscheidung, die Kernkraftwerke in der Krise abzuschalten, schweren Schaden zugefügt!“. Atomausstieg koste es, was es wolle, sei die Devise gewesen. Mit machtversessener Selbstverständlichkeit hätten grüne Staatssekretäre den Regierungsapparat benutzt, und es stelle sich die Frage „Wird in grünen Ministerien auch in anderen Themen systematisch die Interessen der Partei über das Wohl des Landes gestellt?“ und weiter: „Wenn es wirklich eine ergebnisoffene Prüfung gab, …, muss es doch Belege dafür geben. Dann machen Sie das doch ganz einfach transparent!2

Nun stelle ich mir die Frage, kann oder will Jens Spahn nicht lesen, was seit dem 4. November 2022 im Internet zugänglich ist: das final abgestimmte Protokoll einer Telefonkonferenz vom 7.3.2022 mit Robert Habeck, Staatssekretären aus seinem Ministerium, dem Ministerium für Umwelt etc. von Steffi Lemke und den Chefs der AKW-Betreiber E.On, EnBW und RWE3 mit dem Titel: “Zur Frage der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke.
Weiter frage ich mich: Liegt hier gar ein Fall von sogenanntem tertiärem Analphabetismus vor?
Tertiäre Analphabeten sind jene Mitglieder tertiärer Bildungseinrichtungen, bei denen ein unzureichender Umgang mit Texten und Regeln festgestellt werden kann, die also basale hermeneutische und professionelle Kompetenzen nicht zu besitzen scheinen. Diese wurden ihnen zwar irgendwann vermittelt, sie können es sich aber in bestimmten Situationen erlauben, auf deren Benutzung sanktionslos zu verzichten.“ So definiert der Entdecker diese spezifische Einschränkung von Lesefähigkeiten.4
Jens Spahn kann es sich infolge seiner Immunität als Abgeordneter sanktionslos erlauben, auf seine professionelle Lesekompetenz, die er im Studium der Rechts- und Politikwissenschaften an der Fern-Uni Hagen erworben hat, bei Ansicht dieses Protokolls zu verzichten.

Was also steht in dem Protokoll? Behandelt wird die Frage, ob die drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke wegen der aufgetretenen Stromversorgungsprobleme seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ganz oder teilweise weiter genutzt werden sollen bzw. können.
Drei Varianten wurden diskutiert:
a) Die am 31.12.2021 abgeschalteten Atomkraftwerke werden wieder in Betrieb genommen.“ Das wurde verworfen, denn die Betriebsgenehmigungen der drei AKWs waren zum 31.12.2021 erloschen. Weitere Begründungen folgen und können im Internet nachgelesen werden.
b. Eine kurze, etwa 3-monatige Verlängerung der Laufzeiten der drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke bis Ende März 2023 (Streckbetrieb mit den aktuell in der Nutzung befindlichen Kernbrennstäben). Fazit: Ohne neue Kernbrennstäbe wäre der Nutzen gering. Der Verbrauch würde nur vom Sommer in den Winter verlegt.
c. Eine Verlängerung der Laufzeiten der drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke um 3-5 Jahre. Voraussetzung hierfür wäre (wie auch für a.) die Herstellung und Beschaffung neuer Kernbrennstäbe sowie die Sicherstellung der für Weiterbetrieb und Aufsicht notwendigen Fachpersonalressourcen.
Hierzu gibt es längere Ausführungen im Protokoll. Wesentlich ist, die Kraftwerksbetreiber fordern für diesen Fall eine volle Verantwortungsübernahme für die AKW durch den Staat5.

Eigentlich ist das ein relativ einfacher Text. Wenn man ihn aber in der Annahme liest, die armen, ahnungslosen Chefs der AKW sind von bösartigen grünen Staatsverderbern über den Tisch gezogen worden, kommt man tatsächlich zu anderen Leseergebnissen und – Steffi Lemke kommt woher? Ja, aus dem Osten. Da kann man ja nicht wissen…
Dieter Süverkrüp hat es schon in alter Zeit, als Heinrich Lübke (wie Friedrich Merz ein Sauerländer) Deutschlands Präsident war, klargestellt und ließ – an den damaligen Bundespräsidenten gerichtet – einen Kinderchor singen6:


Auch wurde von den Intellektuellen
Die es sogar im Sauerlande gibt
In meist’ beschämend lächerlichen Fällen
An dir Kritik und and’res Zeug geübt!

Die Brüder kommen alle aus dem Osten

Und jeder Dritte ist ein halber Stenz!
Ach, Heinrich, halte aus auf deinem Posten
Als Watschenmann für die Intelli-genz!
Bleib, Heinrich, stark und sauerlandserhaltend!
Auf dich verschießen sie den besten Dampf
Und von dem ungeheu’ren Druck erkaltend
Vergessen sie an dir den Klassenkampf!

Die Unionsfraktion im Bundestag will nun also einen Untersuchungsausschuss zur Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland einsetzen. Merz sagte, dieser wäre nicht gegen die politische Entscheidung der Bundesregierung, aus der Kernenergie auszusteigen, gerichtet.

Das glaube ich, denn der CDU geht es dabei überhaupt nicht um Kernkraft, sondern darum, allen „linksgrün Versifften“ einen Stein vor die Tür zu rollen, der jedes weitere Betreten des Bundestags unmöglich macht.

Nachtrag:

Ich hätte nichts gegen einen Weiterbetrieb der drei letzten AKW bis Ende 2024 gehabt, wie die CDU es am 15. April 2023 im Bundestag vorgeschlagen hat, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben gewesen wären:
Betrieb in der Verantwortung der bisherigen Betreiber unter allen sicherheitstechnischen Voraussetzungen bei genügend Restenergie der vorhandenen Brennstäbe bis zu diesem Zeitpunkt. Ich glaube, Robert Habeck und Steffi Lemke hätten das persönlich auch mitgetragen. Ob die gesinnungsethische grüne Parteibasis dem gefolgt wäre, glaube ich eher nicht.


  1. Am 30. Juni 2011 beschloss der Bundestag unter CDU-Führung: Die deutschen Atomkraftwerke sollen schrittweise bis 2022 abgeschaltet werden, alle schon stillgelegten Meiler endgültig vom Netz bleiben. Abstimmungsergebnis: 512  Stimmen dafür 79 dagegen gestimmt.
    In der Regierungszeit von CDU und CSU wurden nach dem beschlossenen Atomausstieg im Jahr 2011 elf der 17 deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet.. ↩︎
  2. Offenkundiger Stichwortgeber für die Anschuldigungen ist der pensionierte Physiker Ulrich Waas, ein honoriger Physiker, der sein ganzes berufliches Leben der Erzeugung von Strom aus Kernenergie gewidmet hat und nachvollziehbar dem Ende dieses Zweiges der Elektroenergieerzeugung nachtrauert. Er war bis 2021 Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission und Berater des Bundesumweltministeriums.
    Unter dem Titel „Habecks Geheimakten – Habeck und der obskure Weg zum Prüfvermerk“ schrieb er in der Zeitschrift Cicero alle Argumente für die CDU/CSU auf, die Jens Spahn und der Unionsfraktion als Munition für den Generalangriff auf Habeck und Lemke dienten. ↩︎
  3. Ulrich Waas zweifelt Cicero an den Fähigkeiten der Konzernvorstrände, den anstehenden Fragen gewachsen zu sein:
    „Ob die Konzernvorstrände mit konkreten Fragestellungen so für die Telefonkonferenz eingeladen wurden, dass sie als kerntechnische Laien noch die Gelegenheit hatten, sich von den konzerninternen Fachleuten briefen zu lassen, ist aus den freigegebenen Akten nicht erkennbar.“
    ↩︎
  4. Christian Fleck Tertiärer Analphabetismus, SOZIOLOGIE, 42. JG. , HEFT 2 , 2013, S.185–209 ↩︎
  5. Ulrich Waas meint zu den Vorständen im Cicero: „Die Konzernvorstände – kerntechnische Laien – wurden so mit falschen und irreführenden Behauptungen zum zeitlichen und finanziellen Aufwand „eingedeckt“, dass sie am Ende forderten, der Staat möge für einen gegebenenfalls gewünschten Weiterbetrieb die komplette unternehmerische Verantwortung übernehmen.↩︎
  6. Dieter Süverkrüp: „Kinderchor für einen sauerländischen Zwergbahnhof“, Süverkrüps Liederjahre (1963-1985) ↩︎