Warum ein alter Mann eine junge Partei wählen will

Am 6. November war die denkwürdige Pressekonferenz von Olaf Scholz zum Ampelendspiel. Er kanzelte den Mitspieler Christian Lindner ab, wie Giovanni Trapattoni am 10. März 1998 nach dem Bayernspiel gegen Schalke Thomas Strunz. Sehr frei wiedergegeben sagte Scholz: „Liiindner! Liindner ist zwei Jahre hier, hat gespielt zehn Spiele, ist immer verletzt. Was erlauben Liindner?“ Scholz hätte auch sagen müssen, wäre er Trainer und nicht Mitspieler gewesen: „Ein Trainer ist nicht ein Idiot! Ein Trainer sehen, was passieren in Platze. In diese Spiele es waren (zwei,) drei (oder vier) Spieler, die waren schwach wie eine Flasche leer!“.

Nun müssen wir Bürger uns eine neue Regierung wählen – schon bald – und ich wusste bis gestern nicht wen.
Bisher habe ich fast immer die SPD gewählt, im März 1990 bei der ersten freien Volkskammerwahl allerdings Bündnis 90 und war vom Ergebnis erschüttert: 2,9 %. Ich empfand es als persönliche Wahlniederlage. Im Herbst gleichen Jahres kam dann meine erste Bundestagswahl. Nun sollte es eine Partei sein, die eine echte Chance auf Politikgestaltung hat, also: SPD mit dem Slogan: : „Der neue Weg SPD – sichere Arbeitsplätze, saubere Luft, wirtschaftlich stark“. Das brachte die SPD nicht in die Regierung, auch der Slogan 1994: „Freu Dich auf den Wechsel, Deutschland – SPD!“ reichte nicht . „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“ brachte dann 1998 den Durchbruch für die Regierungsbildung, bis 2005 „Vertrauen in Deutschland“ für Gerhard Schröder nicht mehr zum Weitermachen reichte. 2021: „SPD – Scholz packt das an“ machte den Kanzlerkandidaten der SPD Olaf Scholz zum Kanzler, bis es dann im vergangenen November hieß „Ampel haben fertig!“.

Jetzt also wieder Scholz?Und wieder neue Versprechen: „“Mehr für Dich – Besser für Deutschland“ und „Mit Sicherheit mehr Wachstum“. Dass der Olaf-Wer-Führung-Bestellt-Bekommt-Sie-Auch natürlich ein zusätzliches Dreimilliarden-Euro-Paket für die Ukraine vor der Bundestagswahl am 23. Februar nicht mittragen will, verstehe ich so: Mancher Wähler, der das „Mehr für Dich“ im Sinn hat, wird das nicht wollen. Solche Politik finde ich einfach schäbig, weiß aber auch, so funktioniert Parteipolitik. Nein: Scholz soll es für mich dieses Mal nicht sein!

Bei welcher Partei könnte ich dann mein Kreuz auf dem Wahlzettel machen? Ok, erst mal, bei wem nicht?

Die rechtsextreme AfD halte ich für eine Gefahr.
Die Kaderpartei Neuen Typus – das BSW – mit einem extrem nationalen Wirtschaftskonzept, deren Wahlkampfmittel es ist, Angst vor der Zukunft zu verbreiten, ein verklausuliertes Hilfeleistungen nur für Deutsche predigt und ein europäisches Land an das imperialistische Russland verkauft, ist für mich nicht minder gefährlich.
Wie sehe ich Die Linke? Ich hatte 1989 gehofft, die SED würde sich auflösen und eine neue linke Partei würde sich gründen! Für Gregor Gysi kam das nicht infrage, die Infrastruktur der SED und ihre Finanzmittel sollten gerettet werden und viele alte Genossen behielten ihre Heimat. Bei aller Änderung in der Struktur der SED auf dem Weg über PDS und die Fusion mit der westdeutschen WASG zur Linkspartei, trotz aller Gruppenbildungen und Fraktionskämpfe in der Partei, sie blieb für mich Nachlassverwalterin der SED, aus der ich 1988 mit Ängsten ausgetreten war. Ich werde sie nie wählen.
Die CDU wähle ich nicht – ich gebe es zu – zum Teil nicht aus sachlichen, eher aus ideologischen Gründen, weil mir ihre Art des Konservatismus missfällt, ebenso wie viele ihrer politischen Führungsfiguren. Meine Abwehr, diese Partei zu wählen, ist mehr derart, wie ich nicht gern Fisch esse. Es schmeckt mir nicht.
Sicherlich könnte ich prinzipiell eine liberale Partei wählen, eine Partei, deren führende Köpfe dächten wie Hildegard Hamm-Brücher, Gerhard Baum und Burkhard Hirsch, ausgestattet mit einer konsequenten Haltung Bürgerrechten gegenüber wie Sabine Leuthäuser-Schnarrenberger. Würde es eine liberale Partei geben, wie sie Ralf Dahrendorf unterstützt hat, würde ich dort gern mein Kreuz auf dem Wahlzettel machen. Doch das ist nur Konjunktiv.
Die Liste der Wahlprognosen hält noch die Grünen bereit, bevor dann nur noch Sonstige folgen. Ihr Wahlmotto 2025 heißt: „Zusammen wachsen“. Schuld an der wirtschaftlichen Situation in Deutschland sei die Union, die in den 16 Regierungsjahren alles verrotten ließ. Jetzt würde mit einem Deutschlandfonds das Land gesund gemacht werden. Dazu wird die Grundsanierung der Infrastruktur versprochen und ein Zukunftsinvestitionsprogramm Bildung. Das Leben soll bezahlbar, der Mietmarkt geregelt und der Strom billig werden. Die Grünen sorgen für eine starke und innovative Wirtschaft, sagen sie, gerechte Steuern, auch Kapitalerträge sollen mehr zur Finanzierung der Allgemeinheit herangezogen werden. Der Mindestlohn soll steigen, demokratische Teilhabe verbessert werden. Sie wollen für stabiles Klima und eine saubere Umwelt sorgen und für Frieden in Freiheit auf unserem Kontinent. Das sind für mich schöne Versprechungen, aber wie soll das als Juniorpartner der CDU gehen, vielleicht sogar mit der SPD in einer sogenannten Keniakoalition? Bündnis90/Die Grünen könnte ich wählen, wenn ich nur das Wahlprogramm lese. Doch die Partei war in einer Regierung und das Land ist tiefer gespalten als vor dem Regierungsantritt. Die Grünen haben Ernst gemacht mit konsequentem Klimaschutz und das Volk stöhnt auf. Vielleicht auch machten sie Fehler dabei, Fehler aber darf man auch bei den Grünen im Amt nicht zugeben, wie Ricarda Lang bei Caren Miosga bekannte. Als sie ihr Amt aufgegeben hatte sei sie eine schwere Last losgeworden: „Meine Schere konnte ich in die Ecke werfen. Das ist ein befreiendes Gefühl“ Zur Verteidigung eines lauwarmen Kompromisses zum Autobahnausbau vor einem Jahr meinte sie: „Wenn man das jetzt so sieht, dann schämt man sich natürlich.“ Sie erläuterte: „Dann fängt man an, Mist für Gold zu verkaufen und so einen Unsinn zu reden, wie ich ihn da erzählt habe.“ … „Wir müssen wieder anfangen, die Menschen mehr wie Erwachsene zu behandeln und dazu auch den Mut zu haben.“ Also Grüne: Bloß jetzt keine erneute Regierungsbeteiligung! Entregiert und regeneriert euch in der kommenden Legislaturperiode! Dann wähle ich euch… vielleicht.

Wen also sonst wählen? Die Antwort ist nur im Parteienpool der sogenannten Sonstigen zu finden. Wie wahrscheinlich viele andere WählerInnen kenne ich keine dieser Parteien. Deren politische Programme sind im Archiv des Wahl-O-Mat zu vergangenen Wahlen zu finden, der aktuelle ist noch in Arbeit.
Die Datensätze zur Bundestagswahl 2021 und zur Europawahl 2024 fand ich. Alle Wahl-O-Mat-Angaben zu lesen und zu bewerten war mir zu aufwendig. Leicht verschüttete Fähigkeiten der Datenanalyse aus vergangenen Arbeitstagen halfen mir bei der Suche mit den Mitteln der Statistik. Das Ziel war, eine Partei zu finden, die ähnliche Vorstellungen wie die SPD oder die Grünen hat. Eine Clusteranalyse mit anschließender Visualisierung zeigte die Partei VOLT in statistischer Nähe zu Grünen und der SPD.

Also ein Blick auf die Website. Mein erster Eindruck : Das überbordende Dunkelviolett gefiel mir weniger, die Inhalte schon. Ich sah sehr junge optimistische Menschen und dachte, die Farbe wurde gewiss in ausgiebiger demokratischer Diskussion über den europäischen Kontinent hinweg ausgewählt. De gustibus non disputandum est habe ich im Lateinunterricht vor Jahrzehnten gelernt.
VOLT ist eine einheitliche europaweit arbeitende Partei. Sie sei für eine föderale europäische Republik, die nationale Interessen überwindet, die Bürgerschaft stärkt und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie Vielfalt und soziale Gerechtigkeit schützt. Im Zusammenhang mit dieser Parteivision gefällt mir das europäische Zusammengehen sehr. Stelle ich mir aber vor, DER III. WEG wäre auch einheitlich über alle Länder Europas organisiert, fände ich es grauenvoll! Ich hoffe auf eine extrem zersplitterte extreme Rechte!

VOLT will die Probleme Europas gemeinsam durch die Kraft aller lösen. Das ist ein hehres Ziel und klingt sehr nach jugendlichem Überschwang, doch ich bin angetan von dem Elan. Die Partei ist nicht nur jung, ihre Mitglieder sind es überwiegend auch. Gegründet als europäische Bürgerbewegung Vox Europa, dann umbenannt in VOLT – die Maßeinheit des elektrischen Potentials, der Spannung, die den Strom im elektrischen Kreis antreibt. Ok, denke ich, da waren sicherlich junge Marketingleute am Werk und fände die etwas altmodische Bezeichnung Vox-Europa besser.

Das Wahlprogramm für VOLT Deutschland ist überschrieben: Holen wir uns die Zukunft zurück. Das ist nicht der Ängstesound vom Weltuntergang der Letzten Generation, die Schlechtelaunerhetorik des BSW, das Deutschland-Über-Alles-Gerede der AfD. Da klingt der Wunsch nach demokratischer Veränderung heraus, und vor allem die Vorstellung, verändern zu können. Das Ziel sei ein Europa, das zusammenwächst, Probleme gemeinsam löst und eine Vorreiterrolle einnimmt – sei es bei der Verteidigung von Demokratie und Freiheit, bei der Gestaltung einer modernen Sicherheitsarchitektur oder bei der Entwicklung wirtschaftlicher und technologischer Innovationen. Eine föderale Europäische Union ermöglicht eine engere Zusammenarbeit und lässt Europa seine volle Stärke entfalten, lese ich.

Die Selbstbeschreibung von sachorientiert statt ideologisch als Slogan lässt mich die Stirn runzeln. Das sagt auch das BSW: Vernunft und Gerechtigkeit und wendet sich gegen „ideologiegetriebene Projekte„. Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 der CDU heißt es: „Wir beenden die ideologiegetriebene Politik der Ampel.“ Mir missfällt diese polemische Gegenüberstellung von Ideologie auf der einen und Vernunft und Sachorientierung auf der anderen Seite, weil für mich Vernunft selbst eine normative Grundlage benötigt und pragmatische Entscheidungen Werten folgen, die wiederum von ideologischen Grundhaltungen geprägt sein können. Ich befürchte bei diesen polemischen Gegenüberstellungen immer eine politische Instrumentalisierung des Begriffs Ideologie, Argumente, Gegner als dogmatisch darzustellen, während die eigene Position als vernünftig und neutral erscheint. Da ich das VOLT-Programm positiv gestimmt lese, sag ich: Ich verstehe schon, ihr wollt Probleme lösen, Europa besser, sozialer, demokratischer, diverser machen , „europäisch statt national und immer auf das Wohl aller Menschen ausgerichtet“, wie es im Wahlprogramm heißt.

In der Hoffnung, eine VOLT-Fraktion im nächsten Bundestag zu sehen, die wirklich lachen kann – nicht nur höhnisch wie die anderen dort, die Zuversicht ausstrahlt, die andere Parteien animiert, das Land voranzubringen und hilft, die radikalen Kräfte klein zu halten, werde ich euch nächsten Monat wählen.

Man muss sich ja auch als alter Mensch noch etwas Schönes wünschen.