Die Reise 2015

MācītājmuižaDas Pastorat

Obwohl es immer noch regnete, fuhren wir zum „Pastorat“, reichliche drei Kilometer außerhalb von Talsi in östlicher Richtung liegend. Es handelt sich um einen kleinen Gutshof in kirchlichem Besitz, der früher von dem dort eingesetzten Pastor bewirtschaftet werden musste. Der Ertrag war das Salär für dessen Dienste in der lettischen Gemeinde. Seit aber der direkte Nachfolger von unserem Onkel, Janis Saulitis, von den Russen verschleppt und ermordet worden war, war das kleine Gut anderweitig genutzt worden, zuletzt als eine Art Fortbildungsheim.

Das Anwesen besteht aus dem Wohnhaus und mehreren Nebengebäuden, wie Ställen und Unterkünfte für das Hofpersonal. Manches ist erneuerungsbedürftig, anders war baufällig und wurde schon abgerissen. Das große Wohngebäude aber steht noch und ist teilweise restauriert „ein gemütlicher alter Holzbau mit 9 Zimmern, außer den Räumen für das Personal“, wie unsere Tante Herta einst berichtet hat. Sie konnte dort seit ihrer Heirat 1928 noch elf glückliche Jahre verleben. Hier haben unsere Eltern ihre Hochzeit gefeiert, hier haben sie getanzt, so manchen kurischen Schnaps getrunken und auf eine glückliche Zukunft angestoßen und wussten zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise noch nicht, dass es ihr letztes großes Fest in der alten Heimat gewesen sein sollte, bevor der große Auszug, veranlasst durch Hitlers Wort, die Deutschen „heimzuholen“, beginnen sollte.

Wir kamen in das Haus nicht hinein, weil niemand da war, um aufzuschließen. Es war eben Feiertag und wie wir ganz nebenbei erfuhren, auch Līgas Geburtstag, deshalb dieser Name, da sie zum Ligo-Fest geboren wurde. Wir waren ihr dankbar, hatte sie doch „ihren“ Tag uns geopfert und sich mit uns zusammen tüchtig nass regnen lassen. Das Gelände wollten wir dann aber doch noch gemeinsam durchstreifen, Līga vorneweg durch hohes nasses Gras zum kleinen See, den unsere Tante Herta so geliebt hatte. Herta Martinelli in ihren „Erinnerungen: “: „Das Pastorat lag in einer reizvollen hügeligen Landschaft, in unmittelbarer Nähe eines kleinen Sees. Man ging morgens an warmen Sommertagen nur leicht bekleidet durchs taufrische Gras einer Wiese den Abhang hinunter u. stürzte sich in die erfrischenden Fluten. Oder man machte eine Kahnfahrt rings um den kleinen See… Eine riesige Linde umschattete die Einfahrt zu unserer, von Pfeifenkraut umspannenden Veranda. Von dort aus ging es geradeaus in den Blumengarten zur kleinen Brücke über einen Graben und die Wiese hinunter zum See.“
Und dann gingen wir zu Amendas Grab, über den Fahrweg hinweg, einen kleinen Hügel hinan. Amenda habe sich diesen Platz selbst ausgesucht, erzählte Līga, um von dort sein schönes Land übersehen zu können. Dieser Pastorenfriedhof ist ein umzäunter Platz mit dem Grab, von Bäumen und Gebüsch umgeben, zugewachsen, kaum noch Sicht auf die unterhalb liegende Landschaft. Ein großes metallenes Kreuz wacht über dem Grab, daran angelehnt eine weiße Steinplatte mit einer lettischen Inschrift (Tante Herta berichtete, dass es früher dort eine deutsche Inschrift gab): „Die Freundschaft ist der Schatten gegen die Sonnenstrahlen und der Schutz gegen Regengüsse. Ludw. van Beethoven, 1953 15.6. Beethovens Freunde in Lettland“ Die Stelle wirkt gepflegt und ist wohl ein touristischer Anziehungspunkt.
Wir waren nass von unten und von oben, doch fröhlich. Līga wollte uns noch die hinter dem Pastorengut liegende ehemalige Leprastation (Leprosorium) zeigen, erbaut 1896, als sich diese Geißel der Menschheit noch stark ausbreitete, einst eine traurige Stätte, heute erinnert vieles an die schreckliche Krankheit in einem kleinen Museum. Bewohnt wird das Gelände von einigen längst geheilten Kranken, die sich aber weiterhin hier aufhalten dürfen und versorgt werden. Nun fuhren wir weiter, ließen uns einen kleinen Ausschnitt von Līgas engerer Heimat zeigen, die schöne Landschaft um Talsi herum. Da sich auch der Regen inzwischen verzogen hatte, konnten wir sogar an einigen Stellen aussteigen und schöne Aus- und Durchblicke genießen.

Da wir den Eindruck hatten, dass Līga für ihren Geburtstag nichts weiter geplant habe, luden wir sie zum Abendessen ins „Martinelli“. Sie nahm an und wir hatten noch  interessante gemeinsame Stunden mit ihr, sprachen unter anderem auch von der Sowjetzeit. Līga erzählte von dem erschüternden Dokumentarfilm “Soviet Story” des lettischen Regiseurs Edvīns Šnore, der die Verbrechen der Sowjetführung thematisiert. Wir bemerkten auch bei ihr die berechtigte Angst vor Lettlands russischem Nachbarn und die Ablehnung der in Lettland lebenden Russen, die sich nicht in das Land und die lettische Gesellschaft einfügen wollten.
Wir verabschiedeten uns dankbar für den interessanten Tag, den Geburtstag unserer  Begleiterin.