Die Reise 2015

Rundfahrt

Für den Mittwoch (24. Juni) hatten wir keinerlei Verabredungen und wollten uns selbst etwas in Kurland umsehen und an der Westküste entlang fahren. Wir kamen am Bahnhof in Stende (Stenden) vorbei, wo für unsere Familie 1939 die Ausreise nach Deutschland mit der Eisenbahnfahrt nach Ventspils (Windau) begann.

Über Kuldīga (Goldingen), auch ein Ort, den unsere Mutter oftmals erwähnt hat, fuhren wir nach Priekule, unweit von Liepāja (Libau) entfernt, in den Ort, der unserem Urgroßvater Carl August Rohde eine neue Heimat werden sollte und von wo  aus er seinen Weg als Gärtner nach Talsi genommen hat (Katharinenhof).
Der Ort wirkt ziemlich leer, etwas trist. Die Kirche, in der vermutlich unser Urgroßvater geheiratet hat, steht auf einem Hügel. Reingehen konnten wir nicht. Es gibt noch einen schlossähnlichen Bau, der zumindest von weitem grau und trüb anmutet, einst Sitz der Barone Korff. Auffallend ist das sogenannte Schwedentor, eines der wenigen Gebäude, die nach der Kurlandschlacht im 2. Weltkrieg erhalten geblieben sind und restauriert werden konnten. Sonst soll das Städtchen recht zerstört gewesen sein. In uns kamen keinerlei Gefühle auf, die uns mit unserem Ahnherrn hätten verbinden können.

Dann erreichten wir Liepāja, eine Stadt, in der auch einige unserer Vorfahren, so die Eltern unserer Großmutter, die Familie des Tischlermeister Ferdinand Gottfried Reichardt (1828-1906), gelebt haben. Dessen Vater, Carl Samuel Rohde (1798-1874) war auch im ersten Drittel des 19. Jhs. aus Deutschland (Berlin) eingewandert, sicherlich ebenso wie andere, die die Not ins Ausland getrieben hatte. Liepāja war einst eine florierende Hafenstadt und ist auch jetzt noch als solche für das Land von einiger Bedeutung. Wir konnten ihr nicht viel abgewinnen, vielleicht, weil aus Feiertagsgründen kein Café geöffnet war, wir auch kein Restaurant trotz intensiver Suche und Erkundigung bei einem Taxifahrer finden konnten. Der Feiertag lässt vermutlich alles still halten. Eigenartige Sitte! Wir aber haben die Dreifaltigkeitskirche besuchen können, ein schöner großer Bau, Barock und schön hell, mit einer riesigen Orgel, einst die größte im Lande, heute bekannt (Baedecker) als die „größte nicht umgebaute mechanische Orgel der Welt“ (auch ein Rekord!). Unsere Großmutter Rohde (geb. Reichardt) wurde in dieser Kirche getauft.

Wir fuhren weiter nach Ventspils (Windau), der wichtigste Hafen Lettlands. Dort legen die großen Fährschiffe an. Im November 1939 bestiegen hier viele baltischen Familien ihr Schiff, das sie „heim ins Reich“ holte. Meine Eltern, dazu Großmutter Rohde und die Martinellis reisten zusammen mit Bekannten und Freunden auf dem Bananendampfer „Orotava“ am 14. November aus, einer ungewissen Zukunft entgegen, die, wie sich bald schon zeigen sollte, jeder in seiner Weise meistern musste.

Auf unserer Fahrt nach Ventspils machten wir eine kleine Rast direkt am Meer. Trotz Sonnenschein wehte ein recht stürmischer Wind, so dass der schöne weiße Strand menschenleer geblieben war und nur ein verwegener Kitesurfer sein Glück versuchte. Der Strand wirkte so, wie wir es beispielsweise von Rügen oder Ahrenshoop her kennen, abbröckelndes Steilufer, zerzauste Kiefern und am schönen Sand angeschwemmtes Strandgut. In Ventspils gingen wir um die alte Ordensburg herum, ein beeindruckendes Bauwerk, aber für uns nicht angetan, hineinzugehen. Wir suchen ein Café. Alles geschlossen, selbst der Pilskrog am Schloss. Es war eben Ligo-Feiertag. Das wussten wir nun.
Wir suchten nicht weiter und machten uns auf die Rückfahrt. Es ist doch immer wieder schön, so ohne größeren Verkehr in ruhigem Tempo durch das Land zu fahren. Wir haben dies sehr genossen. Kurz vor Talsi ereilte uns dann Regenwetter, das uns nicht hinderte, noch bei „Martinelli“ zu Abend zu essen. Dort kannte man uns bereits.
Im Hotel erhielten wir einen Anruf von Līga. Sie lud uns ein, sie am nächsten Vormittag zu einem gemeinsamen Morgenkaffe mit selbstgebackenem Kuchen in ihrer Wohnung zu besuchen, vielleicht eine kleine Geburtstagsnachfeier? Wir sagten gern zu.

Kurz zuvor hatten wir erfahren, in welchem Haus sich die alte Stadtverwaltung befunden hatte, in der unser Großvater sowohl als Bürgermeister während der deutschen Besetzung des Landes als auch später als Stadtverordneter tätig gewesen war, als es nach einigen politischen Turbulenzen eine wirkliche lettische Regierung gab. Wir wollten das Haus sehen und fanden es in der Lielā iela Nr. 33. Hier residierte bis 1955 auch die Tscheka, der Vorläufer des NKWD.
Danach  genossen wir bei Līga den selbstgebackenen Kuchen und weitere interessante Gespräche. Anschließend begleitete sie uns zu einem Besuch im Büro der Kirchgemeinde. Auch dem Pfarrer konnten wir die Hand drücken, obwohl der gerade eifrig beschäftigt war, eine Hochzeit vorzubereiten. Er erinnerte sich aber an Jörn, der ihn bereits im vorigen Jahr angesprochen hatte. Līga bat beim herzlichen Abschied nochmals sehr nachdrücklich um Hertas Aufzeichnungen und Informationen zu Oskars Leben.