Die Reise 2015


General-Karte der Russischen Ostsee-Provinzen Liv-Ehst und Kurland, 
nach den vollständigsten astronomisch-trigonometrischen Ortsbestimmungen 
u. den speciellen Landesvermessungen auf Grundlage der Specialkarten 
v. C. Neumann, C. G. Rücker (Public Domain Mark 1.0)

Wo einst die Eltern lebten

Bericht über eine Reise nach Lettland im Juni 2015

Klaus Burmeister

Dresden 2015


Vorbemerkungen

Lettland hatte zur Zeit der Geburt unserer Eltern zu Russland gehört, war später ein eigenständiger Staat geworden, dann wieder der Sowjetunion einverleibt worden und ist nun ein freies, selbstbestimmtes Land, EU-Mitglied mit Euro-Währung.

Wir waren darauf vorbereitet, als Deutsche auf besondere lettische Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, denn die deutsche Minderheit im Land gehörte einst bis zum Ruf Hitlers 1939 „Heim ins Reich“, zur herrschenden Oberschicht, die im zaristischen Russland über erhebliche Sonderrechte verfügte und diese auch wie selbstverständlich wahrnahm. Wir, die Nachfahren, hatten das Bild damaliger Zeit hauptsächlich aus den verklärenden Erzählungen der Eltern und bestenfalls anderer Deutschbalten, nicht aber aus der Sicht der Letten. Wie also war das Zusammenleben damals tatsächlich? Lebten die Eltern in einem Miteinander mit der lettischen Bevölkerung oder waren sie als Deutsche tatsächlich abgehoben und mehrheitlich „unter sich“? Wie ist die heutige Atmosphäre? Wie stehen die jeweiligen Nachkommen zueinander? Wie sehen und verstehen die Einheimischen die damalige Zeit? Solche oder ähnliche Fragen warteten auf Antworten, soweit sie überhaupt in der Kürze der Zeit gegeben werden können. Wir hatten bereits vor dieser Reise einigen Kontakt nach Lettland und freuten uns, diesen Menschen begegnen zu können.


Fahrt nach Lettland

Am 20. Juni, es war ein Sonnabend, machten wir uns auf die Reise. Die eigentlichen Ziele waren Talsen (lett. Talsi) in der Provinz Kurland (lett. Kurzeme), der Geburtsort unserer Mutter. die Gärtnerei dort, die sie nach dem Tode ihres Vaters leitete, und Ligat (lett. Ligatne) in der Provinz Livland (lett. Vidzeme), der Geburtsort unseres Vaters mit der seinerzeit berühmten Papierfabrik, in der unser Großvater als Chemiker und Papiermacher zur engeren Leitung gehört hat. Dazu wollten wir auch anderen, noch eventuell sichtbaren Spuren unserer Ahnen nachgehen, Orte besuchen, in denen sie gelebt und gewirkt haben, Ortschaften, Güter, Kirchen.

Lomza Panorama.jpg
Lomza Panorama By Patryk Korzeniecki, CC BY-SA 3.0, Link

Die Sonne schien und es versprach, ein schöner Tag zu werden. So fuhren wir von Dresden in direkter Route an Görlitz, Wroclaw und Lodz vorbei durch Warschau hindurch und kamen über gut ausgebaute Landstraßen am späteren Nachmittag bis nach Lomza (gelegen an der Narew). Diese polnische Stadt war im Kriege weitgehend zerstört, in ihrer Geschichte oftmals unter fremdländische Besetzungen geraten – mehrfach in deutschen, russischen und schließlich auch sowjetischem Machtbereich. Sie hat im Laufe der Jahrhunderte und in neuerer Zeit, viel Schrecken erlebt – Judenvernichtung im großen Maße.

Dem nächsten Tag fuhren wir von Lomza über Augustów und Suwalki durch Masuren, quer durch Litauen – bei Jurbarkas über die Nemunas (Memel) – , dann nach Lettland, dort über Saldus, Kuldiga (Goldingen) bis nach Talsi (Talsen). Die Straßen in Litauen sind oft recht gut, wenn auch nicht so gut wie in Polen. Man hat einen schönen weiten Blick über das flache Land mit saftigen und blumenreichen Wiesen, über die vielen, oft recht kleinteiligen Felder, durchmischt von etwas Wald. Die Dörfer wirken freundlich, in den Städten – man fährt allerdings selten durch größere Ortschaften, weil Umgehungsstraßen gebaut worden sind – trifft man oftmals auf hässliche Sowjetbauten. Wen wundert es nach all den Jahren unter der Sowjetherrschaft?

Der Grenzübergang nach Lettland ist ganz unauffällig auf einer Landstraße beim Dorf Ezere. Es ist stimmt froh, durch mehrere Länder reisen zu können, ohne jemals Grenzkontrollen ausgesetzt zu sein. Man fährt einfach über Grenzen und ist plötzlich am Ziel, 1400 km entfernt vom eigenen Zuhause. Talsi empfing uns nach reichlichen acht Stunden Fahrt im Regen.


Talsen

Jāņi – 2015

Wir fanden unser Hotel, es heißt wie der Ort „Talsi“, ist ein trister Sowjetbau, ein überdimensionierter Kasten, kaum renoviert, bis auf die Rezeption. Die Internetseite des Hotels verspricht, was der Realität nicht standhält. Die Zimmer sind sehr spartanisch mit IKEA-Möbeln (schöne feste Matratzen!) ausgestattet. Man hat einen wunderschönen Blick über einen der beiden Seen (Vilkmuižas ezers). Dieser Blick hat uns für manches entschädigt, was uns zutiefst unzufrieden machte mit dem Hotel. Der See wirkte bei jeder Tages-, auch Nachtbeleuchtung anders, ist mal sonnenbeschienen, mal neblig-trüb, dann wieder leuchtend um Mitternacht (wir waren schließlich zu der Sommersonnenwende und den langen Tagen dort) oder gar verschwommen, ein Zauber ohne gleichen ging von ihm aus.

Wir verabredeten uns telefonisch mit Miks, unserer Kontaktperson, für den nächsten Tag, machten uns trotz des stärker werdenden Regens schon mal auf den Weg zum Elternhaus unserer Mutter.  Wir gingen zu ihrem Geburtshaus in der Zvaigžnu iela 1 (Sternenstraße). Dort hatte unser Urgroßvater, Carl August Rohde (1832-1893), um 1870 eine Gärtnerei gegründet. Sie existiert nun zwar nicht mehr, dafür aber das von ihm 1875/76 erbaute Hause. Miks hatte für den kommenden Tag eine Besichtigung dieses Hauses mit den jetzigen Nutzern verabredet, und wir waren gespannt, Räume betreten zu dürfen, in denen einst Vorfahren gelebt haben.

Resaturant “Martinelli”

Zum Abendessen gingen wir ins „Martinelli“, ein Restaurant, quasi gegenüber des Rohdeschen Hauses in der Liela iela (Große Straße). Schon bei meiner ersten Reise nach Lettland hatte ich mich über den Namen gewundert. Dieser italienisch klingende Name gehörte schließlich zu unserem Onkel Oskar Martinelli, einst Pastor der lettischen Gemeinde in Talsi, und trat auch in der Gegend nicht weiter auf. Wir wissen nicht, ob irgendwelche Vorfahren eingewanderte Italiener waren, die vielleicht bei den Rastrelli-Bauwerken in Jelgava (Mitau) und Rundale (Ruhental) mitgeholfen haben könnten. Oskar hatte seinerzeit Herta Rohde geheiratet, eine ältere Schwester unserer Mutter. Er war ein späterer Amtsnachfolger von Carl Amenda, einst Jugendfreund Beethovens in Wien. Oskar lebte, wie sein Vorgänger, auf dem Pastorats-Gut (einige Kilometer östlich von Talsi liegend) und bewirtschaftete es mit seinem Hofpersonal. Wir erfuhren nun, dass dieser wohlklingende Name vom Restauranteigentümer lediglich „ausgeliehen“ war, obwohl es keine persönlichen Beziehungen zur Familie unseres Onkels gegeben hat.

Das Restaurant machte einen freundlichen Eindruck, wirkte gepflegt und liebevoll mit kleinen Accessoires ausgestattet. Man sprach selbstverständlich Englisch. Überhaupt konnte man junge Leute in Lettland auf der Straße einfach auf Englisch fragen und sie antworteten in flüssigem Englisch. Wir aßen gut, preiswert im Vergleich zu deutschen Gegebenheiten. “Martinelli” scheint in Talsi der einzige Ort zu sein, wo man wirklich gut essen kann, jedenfalls bestätigten uns dies später auch unsere neuen einheimischen Freunde, die wir noch kennenlernen sollten.

Talsi ist eine Kleinstadt in der Provinz Kurland, dem westlichen Teil Lettlands, eingebettet in eine hügelige, eiszeitgeprägte Landschaft, erbaut vor etlichen Jahrhunderten auf neun Hügeln, im Tal zwei kleine Seen, einst möglicherweise ein einziger größerer. Hier lebten zwischen dem 9. und 14. Jahrhundert Kuren, ein zur indogermanischen Sprachfamilie gehörender Volksstamm. Ausgrabungen von 1936 bis 1938 brachten viel altes Kulturgut zutage.

Kurenring

Unsere Mutter hatte als junges Mädchen selbst einmal einen sogenannten Kurenring gefunden, einen mehrfach gedrehten Messingstab, der an einem Ende dünner auslief und zu einem Fingerreif oder Ohrring gebogen worden ist. Er war unserer Familie erhalten geblieben und wir brachten ihn jetzt als Gastgeschenk mit an seinen Ursprungsort, denn wir wollten ihn jemand geben, der das Stück zu würdigen weiß, ihn sozusagen zurückgeben an die Nachkommen einstiger Eigentümer.

Talsi Evangelische Kirche

Talsi ist auch heute ein fotogener Ort mit vielen alten Häusern (einige sind restauriert, manche drohen einzustürzen oder sind grau und zugenagelt) und der weißen Kirche auf einem alles überragenden Hügel, mit den Spiegelungen im See, einem vielfältigen Grün der Bäume und den blumenbewachsenen Anlagen. Dieses Städtchen ist Zentrum der „kurländischen Schweiz“, wirklich idyllisch gelegen. Aus Gesprächen mit unseren Ortskundigen ging aber hervor, dass meist nur Tagesgäste den Ort besuchen, die abends ihr Bett in Riga oder in einigen der anderen größeren Orte gefunden haben. Dass das Hotel „Talsi“, unser Hotel, schlecht, manchmal gar nicht besucht zu sein scheint, können wir aus eigener Anschauung bestätigen, waren doch während unseres viertägigen Aufenthaltes höchstens sieben Gäste dort. 

Talsi Blick zur Kirche

Unser Urgroßvater, Carl August Rohde war als Gärtner nach Talsi gekommen, um dort eine eigene Gärtnerei aufzubauen. Nachdem er einen größeren Obstgarten erst pachten, später kaufen und zu einer Gärtnerei ausbauen konnte, wurde auch ca. 1876 sein Haus fertig. Er war ein typischer Einwanderer, der versuchte hatte, sein Glück in einem fernen Land zu machen, ein Deutscher aus Wildberg bei Neuruppin, Sohn eines Schlachters, welcher sicherlich Mühe gehabt hatte, seine neun Kinder durchzubringen. Carl August war Gärtner geworden, hätte aber als Ältester auch das Geschäft des Vaters übernehmen können, wollte es wohl nicht. Er war in verschiedenen Gärtnereien tätig, meist in der Nähe von Berlin, bis er als ca. Dreißigjähriger dem Ruf eines Baron Korff folgte, der einen Gärtner auf seinem Gut Katharinenhof in Priekule (Preekuln/Kurland) benötigte. Dort heiratete er im November 1862 die Tochter eines Webers.

Unser Großvater, Boris Georg Wilhelm Rohde, wurde dort im August 1863 geboren, als Erster von weiteren sieben Geschwistern, von denen nur drei überlebten. Dessen Vater, unser Urgroßvater Carl August, aber ging schon bald nach Balgallen (Balgale), ungefähr 20 km in südöstlicher Richtung von Talsi entfernt, auf ein Gut, das zu den Besitzungen der Fürstenfamilie Lieven gehörte. Er arbeitet dort als Gutsgärtner. Hier wurde 1864 ein weiteres Kind, Karl Friedrich, geboren. Aber schon 1866 finden wir die Familie in Talsi, möglicherweise bereits als Pächter des ehemaligen Kupfferschen Gartenlandes. Dort wurde im Dezember 1866 die Tochter Wilhelmine Henriette geboren, unsere Tante Minchen, die ich noch 1956 in Lüneburg 1956 durfte als letzte Vertreterin der Großvatergeneration. Sie starb im hohen Alter von 102 Jahren 1968. Der Urgroßvater kaufte schließlich das bereits gepachtete Grundstück, baute sein Haus, das er 1876 beziehen konnte und bewirtschaftete mit Fleiß seine Gärtnerei:

Geburtshaus unserer Mutter

Unsere Gärtnerei lag auf einem Abhang in drei Abstufungen, sehr ungünstig, denn die Nord-Ost-Winde fegten darüber hin und es waren wenige gerade Flächen, die zum Anbau des Gemüses nötig waren. Mein Großvater CarlAugust Rohde mag wenig an diese Dinge gedacht haben, als er den alten Obstgarten in Talsen pachtete. Er war wohl froh, seinen Wunsch, eine eigene Gärtnerei zu gründen, erfüllt zu sehen.
schreibt unsere Mutter in ihren Erinnerungen1Erinnerungen an Talsen, bjb, 2018.

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Es wurde Montag, und wir glaubten, auf arbeitende Menschen zu treffen und auf Betriebsamkeit in den Straßen. Doch nein, es herrschte feiertägliche Ruhe. Wir hörten bald, dass zwar der folgende und dann auch noch der nächstfolgende, also der 23. und 24. Juni, Feiertage seien. Auch in Lettland gibt es Brückentage. Am 23. wird das Johannifest begangen, gefeiert mit den dort allbekannten Ligo-Gesängen im Freien und beim Sonnenwendfeuer und mit viel, viel Alkohol bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages. Da kann dann natürlich an beiden Tagen nicht gearbeitet werden, ist doch ganz selbstverständlich. Also gab es im Hotel auch nur ein kleines Frühstückchen, vorbereitet von einer Frau, die eigens gegen halb neun angehetzt kam. Wir warteten schon und wurden vertröstet. Das kann man ja in Kauf nehmen, dass aber die Zimmer nicht gereinigt wurden an all den Tagen, grenzte schon an Zumutung. Wir wissen übrigens nicht, ob dies nur an den Feiertagen lag, oder doch allgemeingültig ist bei einer derartig geringen Hotelauslastung, sodass das Reinigungspersonal auch stark minimiert worden ist.

Wir machten uns auf, das Rohdesche Haus noch einmal näher zu betrachten, liegt es doch nur wenige hundert Meter entfernt vom Hotel. Wir wollten sehen, ob es vielleicht auch den Birnenbaum noch gibt, der in einer modernen Stadtwanderkarte als „Talsens Schöne“ bezeichnet wird, der Urbirnenbaum, der bis heute viele Ableger gefunden haben soll. Diese Birnensorte wurde auch von unserer Mutter in ihren Berichten aus der Jugendzeit mehrfach erwähnt, dass aber unser Großvater diese eigens gezüchtet haben sollte, ist wohl eher einer modernen Interpretation zuzuschreiben, um einer touristischen Attraktion willen. Es gibt in dem ehemaligen Anwesen einige Birnenbäume, aber alle sind nicht so alt, wie beispielsweise sich der auf einem in der Familie erhaltenen Bild zeigt.

Blick von der Gärtnerei zum Kirchberg (Baznickalns)

Übrigens hörten wir am nächsten Tag von Liga – der Tochter einer ehemaligen Nachbarin der Rohdes – dass in deren Garten ein viel größerer und weitaus älterer Birnenbaum dieser Sorte steht. Wir haben ihn gesehen und können es bestätigen. Schön aber ist, dass der Name unseres Großvaters in Talsi lebendig bleibt, und sei es vor allem durch den Birnenbaum. Bei Eingeweihten, so bei unseren neuen Freunden der örtlichen Historikergruppe (Verein Aleksandra Peleca Lasitava), die wir in der Mittagszeit trafen, ist die Rohdesche Gärtnerei höchst lebendig und in einem schönen Aufsatz von Antra Grube festgehalten.

Das Rohdesche Haus aber steht nach wie vor an seinem Platz an einem Hang und beherbergt jetzt eine Bioenergie-Firma (Talsu Bio-Energija), die alles schön restauriert und innen recht umgebaut hat. Wir durften zusammen mit den drei lettischen Freunden hineingehen. Der Geschäftsführer dieser Firma war trotz Feiertag eigens gekommen, um uns den Zutritt zu ermöglichen, und führte uns herum.

Familie Rohde im Wohnzimmer (ca. 1918)

Es ist ein eigenartiges Gefühl, in Räume zu treten, die einst unseren Großeltern und Eltern gehört haben, aber seit über 75 Jahren von der Familie nicht betreten werden konnten. Wir versuchten, uns den Zuschnitt der großelterlichen Wohnung vorzustellen, glaubten auch den großen Raum – sozusagen „die gute Stube“ – zu erkennen, der jetzt allerdings durch eine Leichtbauwand aufgeteilt ist. Das Familienbild von 1916 könnte dort aufgenommen worden sein.

Talsen 1905 nach dem Beschuss

Der Dachboden jedenfalls ist durchgängig offen, die ehemalige Kammern bzw. Stübchen (auch das Stübchen mit der Dachgaube), sind verschwunden. Im Keller konnten wir uns lebhaft vorstellen, wie die Familie im Revolutionsjahr 1905 angsterfüllt dort saß, als Kanonen aus dem Stadtpark (Mühlenberg) heraus auf den gegenüberliegenden Hang schossen und besagter Birnenbaum einen großen Ast verlor, was das Haus gerettet haben mag:

Das erste große Ereignis meines Lebens war die russische Revolution 1905, allerdings kann ich davon nur nach Berichten anderer Menschen erzählen, da ich als Einjährige nichts davon begriffen habe. Die Geschwister erzählten viel davon, auch mein Vater. Durch unser Dienstmädchen, die Freunde unter den lettischen Revolutionären hatte, waren in unserem Garten allerlei bewaffnete Männer, die durch die Zwischenräume der Zäune auf die russischen Soldaten schossen. Diese Dragoner hatten sich auf der Höhe des Stadtparks mit ihren Kanonen aufgebaut und schossen auf die Stadt und die Revolutionäre. So natürlich auch auf unseren Garten, und es wäre wohl mit unserem Hause vorbei gewesen, wenn nicht ein Birnbaum den Hauptteil am Schrapnellschuss abgefangen hätte und nur Splitter das Haus und die kleine Friedhofshalle neben unserem Grundstück trafen.”

Miks und seine beiden Begleiterinnen, Antra und Dace, führten uns durch die Stadt, erst einmal aber zu Miks Vater Zigurds, ein älterer Mann, der als Rentner einem ausgefallenen Hobby frönt, einen kleinen privaten Verlag allein betreut und sich begeistert mit Heimat- und Brauchtumliteratur beschäftigt und eine große Sammlung von Fotografien besitzt, die teilweise über die Lettische Nationalbibliothek im Internet verfügbar sind. Er ist zwar nicht selbst der Autor solcher Bände, Heftchen und Bilder, doch neben eigenen Herausgaben layoutet, druckt und bindet er alle Druckwerke allein – ein fröhlicher Mensch, dem die Begeisterung aus den Augen leuchtet. Ihm haben wir den Kurenring übergeben. Ob er ihn behält oder später ins Museum bringt, soll ihm überlassen bleiben. Auch hierüber wurde von Antra Grube berichtet.

Elementarschule

Wir gingen den Kirchenberg hinauf, an der evangelisch-lutherischen Kirche vorbei, die wir am Folgetage besuchen wollten, bogen dann links hinter dem der Kirche gegenüberliegenden neuen Gemeindehaus zur alten deutschen Elementarschule ab, wo auch unsere Mutter den ersten Unterricht empfangen hatte.

Wir spazierten weiter zum Heykingschen Haus, eine großzügige Anlage voller vergangener Pracht, einer Familie gehörend, von der unsere Mutter immer mit respektvollem Unterton sprach und von kleinen Begebenheiten aus dem damaligen freundschaftlichen Miteinander berichtete. Unser Weg führte weiter über einen grasbewachsenen Platz, wo einst eine alte Holländermühle gestanden hat (deshalb Mühlenberg) und über einen schmalen Weg (Padweg, wie unsere Eltern so etwas nannten) hinunter zum einstigen Rohdeschen Anwesen.
Wir hatten zum Mittagsessen ins „Martinelli“ geladen und wurden köstlich bewirtet. Unsere lettischen Freunde hatten uns einen Bildband über Talsen in den 20ern des vergangenen Jahrhunderts mit Bildern des einheimischen Fotografen Ansis Druvinš und ein Fotobuch über die heutige Umgebung Talsens überreicht. Die persönliche Widmung des örtlichen Bürgermeisters im Buch war eine hübsche Geste des Willkommens.

Wir Brüder zusammen mit Dace – Aufnahme Antra Grube

Diese Zeit am Mittagstisch nutzten wir für ernstere Gespräche, stellten unsere Fragen und bemerkten sehr schnell, dass die allgemeine Stimmung sehr deutschfreundlich ist, auch die damalige Zeit im Zusammenleben zwischen Deutschen und Letten im Rückblick  positiv angesehen wird. Es hatte nicht den Anschein, als wolle man uns Freundlichkeiten erweisen und uns vielleicht gar zum Munde reden. Aber aus allem konnte auch herausgehört werden, dass man allein schon deshalb die deutsche Zeit freundlich bewertet, als man eine tiefe Abneigung, wenn nicht gar einen Hass auf die „Russenzeit“ verspürt. Die Zeit der Zugehörigkeit Lettlands zur Sowjetunion wird „Okkupationszeit“ genannt. Wir hörten von der Verschleppung und Verbannung sehr vieler Letten in den Jahren, nachdem das freie Lettland infolge des Hitler-Stalin-Pakts in sowjetische Hände geraten war. Eine erste praktische Umsetzung des deutsch-sowjetischen Paktes war die Aussiedlung der in Lettland und Estland lebenden Deutschen gewesen. Nach dem Ende der deutschen Okkupation kamen die sowjetischen Truppen zurück. Wieder folgten Verhaftung, Verbannung und oftmals Tod vieler lettischer Bürger. Fast jede lettische Familie war von dieser Willkür betroffen.
Man berichtete auch von den täglichen Ärgernissen, von Frust und Abhängigkeit während der Sowjetzeit. Heute ist man stolz, sich mit Gesang und guter Stimmung („Singende Revolution“) aus den fremden Banden gelöst zu haben.
Wir haben später noch andere Anzeichen gefunden, die auf Russenhass hinweisen. Im Gauja-Nationalpark fanden wir Bild-Texttafeln mit dort vorzufindenden Gewächsen in lettischer, englischer und russischer Sprache; russisch war mit scharfem Gegenstand zerkratzt worden. Überhaupt wird von älteren Letten ungern Russisch gesprochen, die Sprache des „Feindes“; Deutsch, so noch bekannt oder wieder als Fremdsprache erlernt, ganz selbstverständlich und von jungen Leuten englisch immer. So gesehen, schneiden die ehemaligen deutschen „Herrenmenschen“ im lettischen Gedächtnis immer noch besser ab, obwohl, wir wissen es aus kritischer Literatur älterer Zeit, die Herren Grundbesitzer nicht gerade feinfühlig mit der Landbevölkerung umgegangen waren und auch die „Literaten“ (so nannte man die deutsche Intelligenz) auf die sich entwickelnde geistige Elite aus der lettischen Bevölkerung, gelegentlich wohlwollend, wenn auch meist sehr herablassend geblickt haben.
In den Gesprächen wurde immer wieder betont, dass wir eine gemeinsame Geschichte haben, die bewertet werden muss und schwierige Erkenntnisse dabei zutage kommen, dass es nicht nur auf deutscher Seite Verfehlungen gegeben habe, sondern auch seitens der Letten (s. auch: Krieg der Erinnerung). Alle waren sich einig, dass die jüngste Geschichte den heutigen Menschen nahe gebracht werden muss, um zu begreifen, worauf die gegenwärtige Gesellschaft fußt. In den Sowjetschulen Lettlands wurde wenig bis nichts über die lettisch-deutsche Geschichte berichtet. Die aber gehört zum Leben unserer Völker.

Unsere drei lettischen Begleiter sehen heute ihre Aufgabe als Ortshistoriker auch darin, die erzählte Vergangenheit auszugraben und sie weiterzugeben. So sind sie sehr daran interessiert, die Aufzeichnungen unserer Tante Herta Martinelli zu bekommen, um Einzelheiten aus dem damaligen Leben authentisch zu erfahren, wie z.B. Einzelheiten des Schulalltags in Talsen während der Zarenzeit.
Wir fanden in unseren Gesprächspartnern aufgeschlossene Menschen, mit denen wir viele Stunden über alte und neue Themen reden konnten, so auch über die Flüchtlinge, die von der EU aufgenommen werden sollen und vor denen sich die Einwohner Lettlands fürchten oder über die Ängste vor dem russischen Nachbarn und einer erneuten Okkupation, seit die Krim von Russland besetzt wurde. Es scheint, als habe die lettische Bevölkerung wenig Zutrauen zum Engagement Europas für die baltischen Länder. Traurig, aber durchaus verständlich, denn wer sollte Putin direkt in den Arm fallen?
Wir hörten Erklärungen, warum Lettland keine Flüchtlinge aufnehmen darf: Weitere Überfremdung, denn das Land habe durch die Bewohner russischer Nationalität schon genug Fremde. Ein kleines Land mit sehr wenigen Einwohnern würde Probleme mit andersstämmigen und Menschen fremden Glaubens bekommen. Unser Einwand, dass auch unsere Vorfahren als Fremde mit der Absicht, ein besseres Leben zu erreichen, einst in dieses Land kamen und zu dessen positiver Entwicklung beigetragen hätten, wurde nicht akzeptiert. Wir nahmen die Erklärungen und die Ängste, die daraus sprachen, ernst, auch wenn wir mit ihnen nicht übereinstimmten.

Jāņi – Johanni

Den Nachmittag nutzten wir bei aufgeklartem Wetter trotz aller Kühle zu einer wunderbaren Fahrt durch das schöne Kurland in Richtung Norden über Dundaga (Dondangen) zur kurischen Nordspitze (Kap Kolka), wo sich einige Livendörfer befinden und eine finno-ugrische Sprachgruppe lebt, die versucht, ihre eigenständige Kultur zu erhalten. In den dichten Wäldern sollen auch Elche, Wölfe und Luchse leben. Wir haben keine gesehen. Doch erinnert die Küste selbst stark an uns bekannte Küstenabschnitte an der mecklenburgischen Ostsee. Das ist aber auch nicht verwunderlich, verdankt das Landschaftsbild sein Aussehen hier wie dort doch der gleichen eiszeitlichen Ausformung.
Die Rückfahrt führte uns am Westufer des Rigaer Meerbusens entlang, eine herrliche Fahrt durch das schöne Land mit kleinen Orten, Wald- und Küstenabschnitten, den gelegentlich freien Blicken auf das Meer. Und immer wieder sahen wir die hohen Masten mit Storchennestern, in jedem Dorf, manchmal auch inmitten der Felder. Das gesamte Land ist von einem nahezu feinmaschigen Netz von Flüsschen und kleinen Bächen durchzogen, die meist verbunden sind mit kleinen Seen, Teichen, Mooren und Sumpfwiesen, für Störche ein wahres Paradies.
Wir hatten uns bei der Heimfahrt verspätet, so dass wir im „Martinelli“ nichts mehr zum Abendessen bekamen, und bei einem zweiten Restaurant, das uns empfohlen war, mussten wir auch wieder unverrichteter Dinge abziehen. Obwohl der Magen knurrte, glaubten wir fest daran, nicht verhungern zu müssen, denn an diesem Tage hatten wir bereits ein köstliches Mittagsmahl eingenommen. So fiel uns der Verzicht am Abend nicht schwer.