Die erste Gärtnerei in Talsi

Antra Grūbe:
Internetseite der Gesellschaft Aleksandra Pelēča lasītava
(Original in lettisch)
Deutsche Übersetzung Miks Kalmanis

Die Lettische Zeitung Latviešu Avīzes schrieb im Jahre 1855:
Im Pastorat von Talsi wachsen gut gezüchtete junge Apfel- und Birnbäume heran. Diese besten Sorten werden für 50 Silberkopeken pro Stück verkauft. Die Pflanzzeit ist im Frühjahr, sobald die Erde dafür geeignet ist.”

Die 60-jährigen Gartenbautradition in Talsi und ihre Entwicklung verdankt man der deutschbaltischen Familie Rohde. Karl August Rohde wurde 1832 in Wildberg, Deutschland, geboren.  Er kam um das Jahr 1860 in das Gouvernement Kurland auf den Gutshof Priekule. Dort begann er als Gärtner zu arbeiten und heiratete das Zimmermädchen Charlotte Stürzkober. Am 5. September 1863 wurde ihnen Georg Boris Wilhelm geboren, dessen Taufpatin Baronin Olga Korf war. Im Herbst 1864 war August Rohde Gärtner am Gutshof Zentene, wo sein Sohn Karl Friedrich geboren wurde. Seit dem Gründonnerstag 1866 lebte die Familie Rohde in Talsi (August wird im Kirchenbuch als Kunstgärtner bezeichnet) , wo im Dezember des gleichen Jahres Henriette Wilhelmine zur Welt kam. Gemäß der Familiengeschichte besitzt die Familie Rohde im Jahre 1876 ein Grundstück und eine Gärtnerei in Talsi, wo der großen Familie noch fünf Kindern geboren werden. Da der Vater preußischer Staatsbürger war, ging der Sohn Wilhelm nach Brandenburg, um seinen Militärdienst zu abzuleisten. Ab 1892 wurde August Rohde als städtischer Gärtner bezeichnet, was bedeutete, dass er Händler von Gartenbauerzeugnissen war. Am 4. Dezember 1893 verstarb August Rohde an Krebs und sein Sohn Wilhelm übernahm das Unternehmen. Im August des folgenden Jahres heiratete seine Tochter Maria Susanna Charlotte einen Ernst Henning. 1896 bekamen Wilhelm und seine Frau Elisabeth (geb. Reichard, in Liepaja 1868) ihre Erstgeborene Wilhelmine. Die Familie wurde von Unglücken verfolgt. Das Mädchen starb im Säuglingsalter, wie auch die zwei Kinder von Wilhelm Rohdes Schwester Wilhelmine und des Kaufmanns Eduard Raßmann, und dann der Vater Eduard selbst. In weniger als vier Jahren erlebte die Familie im Haus in der jetzigen Zvaigžņu ielā, wo alle lebten, vier Geburten und vier Todesfälle (zwei infolge von Tuberkulose). 1897 wurde Alice geboren, die später Paul Kern heiratete, einen Beamten der Stadt Kiel. Herta (geb. 1899) wurde im Alter von 19 Jahren die Frau des 25 Jahre älteren Pastors Oskar Martinelli, Wilhelm (geb. 1900) aber starb in Gefechten in den Reihen der Landeswehr im Jahr 1919.  Die jüngste Tochter Elisabeth (geb. 1904) machte in Deutschland ein Praktikum und übernahm nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1932 die Gärtnerei.

Wilhelm Rode
bot seit 1912 seinen Kunden nicht nur Gartenprodukte an, sondern versorgte auch mehrere Jahrzehnte lang die Stadtbewohner mit Fensterglas von “Annahite” (jetzt Stikli bei Puze). Aber noch wichtiger war seine 30-jährige Arbeit in öffentlichem Interesse. Er wurde Anfang des Jahrhunderts in den Stadtrat gewählt, in die Garten- und Wohnungskommissionen, im Jahr 1912 arbeitete Wilhelm Rohde in der Prüfungskommission. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurde der Gärtner Rohde am 27. August 1915 vom Landrat (Anm. Jörn Burmeister: tatsächlich vom Kommandeur der Okkupationstruppen Oberleutnant Otto) als Bürgermeister von Talsi ernannt.


Seinen Posten hat er bis zur Ausrufung des lettischen Staates behalten, bis danach E. Kundziņš gewählt wurde, der am 6. August 1919 von der Landeswehr erschossen wurde. Ende November hat “Herr W. Rohde die Verantwortung als Bürgermeister der Stadt wieder angenommen“. Die Öffentlichkeit hat jeden, der mit der Besatzungsmacht zusammengearbeitet hatte, sehr negativ bewertet, aber über den ehemaligen Bürgermeister findet man kein schlechtes Wort. In den Jahren 1920 und 1924 wurde er erneut im Stadtrat gewählt, jedoch war dort im Jahr 1928 nur noch E. Brauncs als einziger Deutscher. In der Presse aber wurde er als ein “Herr, der allgemeine Sympathie gewonnenen hat” bezeichnet und man wählte den so geehrten Gartenbesitzer in das Waisengericht und die Stadtkasse. Der Bibliotheksverwalter dankte ihm in Besonderem für eine Bücherspende. Am 3. April 1932 erwähnten Zeitungen gegnerischer politischer Kräfte den soeben verstorbenen Talsener mit lobenden Worten: “Rohde war von Natur aus gegenüber anderen Menschen friedlich und tolerant, ohne Unterschied der ethnischen Herkunft, obwohl er selbst Deutscher war. Auch die Bedürfnisse und Sorgen der Arbeitnehmer verstand er, weshalb er von ihnen hoch angesehen war. [..] Mit ihm geht ein Mensch mit großem Sinn für Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, was in diesen Zeiten im Zusammenleben der Bürger selten anzutreffen ist.

Elisabeth
Ein paar Wochen nach dem Tod ihres Vaters annoncierte die Tochter Elisabeth, dass “Rohdes Gärtnerei den Betrieb im vollen Umfang fortsetzen wird. Ich bitte das geehrte Publikum uns sein Vertrauen zu schenken, das ich mit allen unseren Mitteln zu erhalten versuchen werde.” Trotz der Wirtschaftskrise lief die Arbeit gut und florierte.  Einen besseren Überblick über die Geschäftslage kann man den Anzeigen entnehmen, die regelmäßig erschienen, wie :Fenster oder auch eine Vielzahl von Samen, Setzlingen (Lebensbäumen, Myrten), Blumen und Kränze zu verkaufen. “Pflaumen, Birnen, Kirschen und Äpfel-Jungpflanzen; Beerensträucher: rote Johannisbeeren, schwarze Johannisbeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren usw.” Ausverkäufe von Zimmerpflanzen fanden statt:. “Aufgrund des Mangels an Räumlichkeiten zu stark reduzierten Preisen [..] Dracena (Palmenarten), Klivien, Krinum (Lilien für Innenräume), Gummibäume, Blattbegonien, Agaven , Aloe Vera, verschiedene Kakteen, Blumenzwiebeln Amarillo“. Die Öffentlichkeit interessierte sich für die ersten Blumenschauen in der Stadt. Im Kiosk von Gerhard konnte man 1933 eine Dahlienschau sehen. Im Frühling und im Sommer: “Osterfreude: blühende Blumen! Hyazinthen, Maiglöckchen, Veilchen, Narzissen, Cinerarien, Primeln, Tulpen, Hortensien, u.a. ab 50 Santim. Rosenpflanzen, Schnittblumen ab 20 Santim.”; „Blumen vermehren die Weihnachtsfreude im jeden Haus. Alpenveilchen, Primeln, Maiglöckchen, Tulpen u.a. sowie festliche Kerzenständer bietet Blumenladen von Rohde in Talsi, Tel.173.”

Erfolge
Die Gärtnerei Rhode war ein großes Unternehmen, mehrere Gewächshäuser und Reihen von Beten gab es am dem Hang von Krievragkalns gegenüber von Dzirnavkalns. Die Familie arbeitete hart, es gab aber für sie allein zu viel Arbeit. Bei der Volkszählung von 1897 werden das 19-jährige Dienstmädchen Madelein Immermane aus Ārlavas und der Gärtner Helfer Žanis Štāls, ein 15jähriger aus Valdegale, erwähnt. Später in gelegentlichen Anzeigen wurden ein Gärtnerlehrling oder ein Dienstmädchen gesucht. Der Betrieb war auch für andere, die dort ihre Erfahrung gesammelt haben, ein guter Ort, wie man der Mitteilung aus dem Jahr 1940 entnehmen kann: „Ich gebe dem geehrten Publikum in Talsi bekannt, dass ich alle Verpflichtungen als Gärtner übernehme und auch Verglasungsarbeiten durchführe. [..] Mit freundlichen Grüßen, der ehemalige Gärtner der Gärtnerei von Rohde Fr. Dīceris.“ Eine Zusammenfassung einer Anhörung zeigt wiederum – ein Arbeitstag der Arbeiterin namens Feierabend dauerte im Garten bis 21.00 Uhr – in der Sommersaison ist das durchaus verständlich.
Journalisten zeigten dem Unternehmen keine große Aufmerksamkeit, aber einige Nachrichten findet man. Im Jahr 1933 fand “in der Gärtnerei Rohde […] ein seltenes Naturschauspiel statt: in ihrem 15-jährigem Leben blühte zum zweiten Mal eine Kaktuspflanze – die „Königin der Nacht” (Cereus grandiflorus). Eine sich zufällig gebildete Knospe öffnete sich allmählich am Abend um halbneun. Gegen 12 Uhr in der Nacht hat sie bereits ihren Höhepunkt erreicht – verwandelt sich in eine herrliche, weiße Blüte wie eine Seerose. [..] Um 5 Uhr am Morgen hatte sich die Blüte bereits endgültig zusammengezogen und verdorrte. Das beispiellose Naturwunder betrachteten auch einige Interessenten. Die Zeitungsmitarbeiter haben die Blüte auf einer Fotoplatte verewigt. Drei Jahre später zog die Gärtnerei die Aufmerksamkeit wegen eines 57 Kilogramm schweren Kürbis auf sich, der von den Eigentümern an ein Altersheim gespendet wurde.

Wettbewerb
Mitte der dreißiger Jahre begannen auch andere, mit dem Blumengeschäft tätig zu werden. Lina Galina wurde vom Vorstand der Stadt ermächtigt, einen Blumenkiosk an der Feuerwache zu bauen, der Laden wurde auf der Liela ielā 33 eröffnet. Das Sortiment war ein wenig seltsam, denn zusammen mit künstlichen Blumen für das Dekorieren der Kleidung wurden auch Blumen- und Gräberkränze aus Metall verkauft, und danach auch Särge und dessen Zubehör. Im Jahr 1937 lobte eine Werbeanzeige die am Bahnhof liegende Gärtnerei von M. Bērziņa in der Ziemelu ielā 2. In Riga gab es bereits beheizte Treibhäuser und Anfang März waren schon Kopfsalat, Radieschen, Rhabarber und Frühlingszwiebeln zu haben, und im April schon neue Möhren…
Im Jahr 1936 startete in der Stadt ein Gartenboom. Die Gemeindeverwaltung lud zu einem beispiellosen Blumenkästen- und Gartenwettbewerb. Die öffentlichen Reaktionen führten zu dessen Fortsetzung. Im Jahr 1939 wurde der Stadtgärtner Arthur Brunis verabschiedet, …. Unter seiner Leitung wurde viel Grün an der Treppe und im Stadtgarten an der Brīvības ielā angelegt..

Das Jahr 1939
war das letzte Jahr, in dem die Gärtnerei Rohde die Bürger der Stadt erfreute. Als ein böses Zeichen könnte man Anfang Juni den Unfall mit einem Pferdewagen ansehen. An der Kr. Valdemara ielā 18 stand ein Pferdewagen des Fuhrunternehmens für Getränke von T. Vadonis. Das Pferd scheute plötzlich wegen eines Papierfetzens, den der Wind aufgewirbelt hatte. Das Pferd lief durch die Zvaigžņu ielā, prallte gegen den an der Gärtnerei stehenden Pferdewagen des Leprosoriums. Das Pferd verletzte sich und es zerbrachen viele Limonadenflaschen.
Ein paar Tage später wurde die Besitzerin der Gärtnerei mit einem Gärtner aus Līgatne – Robert Burmeister – von ihrem Verwandten O. Martinelli getraut. Anschließend ging das junge Paar auf eine Reise nach Deutschland. Sie besuchten eine Baumschule in Dresden, dessen Geschäftsführer Thiebe zweimal seine Geschäftspartnerin in Talsi besucht hatte. Der neue Ehemann erwähnte in seinen Memoiren noch ein anderes ungünstiges Vorzeichen. Es könnte im August gewesen sein, als in Talsi ein überaus prächtiges Nordlicht zu sehen war. Der Herbst war für Deutsche dramatisch. Hitler rief sie zurück „Heim ins Reich”. Am 19. Oktober schreibt eine Zeitung, dass viele ihr Hab und Gut nach Deutschland geschickt haben, und bald auch selbst ausreisen werden. R. Burmeister: „Alle Deutschen aus Talsen – dazu gehörten wir, meine junge Frau, ihre alte Mutter und ich – traten gemeinsam den Schicksalsweg an, hatten die Kisten und Kollis bereits abgeschickt, und bestiegen den „Rasenden Kurländer“, ein Schmalspurbähnchen, das 1915 von deutschen Truppen gebaut worden war und nach Stenden führte. Dort stieg man um in die Normalspurbahn und reiste nach Windau, den nächstgelegenen kleinen Hafen an der Ostsee. Wir blieben eine Nacht dort, denn das Schiff, ein schmuckloser Bananenfrachter, sollte erst am Folgetag, dem 13. November 1939, ablegen .” In den Erinnerungen wird der traurige Abschied betont, das Singen der lettischen Hymne auf dem Schiff. Die Kriegszeit verbrachte die Familie im ehemaligen Ostpreußen, in Posen, wo vier Kinder geboren wurden. Der Vater wurde als Russischdolmetscher in die deutsche Armee eingezogen, die Mutter konnte ihr Gärtnertalent in einer kleinen Gärtnerei einsetzen, die eigentlich nur für Kartoffel- und Gemüseanbau geeignet war*. Nach dem Krieg lebten sie in dem ehemaligen Ost-Deutschland, nicht weit entfernt vom Heimatort ihres Vorfahren August Rohde.
Elisabeth verstarb 1975.

Die Gärtnerei in Talsi, wie auch das Eigentum anderer Deutscher Rücksiedler, wurde zum Verkauf der Aktiengesellschaft UTAG anvertraut, um das Einkommen den ehemaligen Eigentümern zukommen zu lassen. Das Geschäft war offenbar in sehr gutem Zustand, was zum Ringen zweier Kandidaten darum führte und in der Presse nicht unbemerkt blieb. Über das Ergebnis schrieb im Februar 1940 die “Talsu Vārds”: “Ich erkläre, dass ich die ehemalige Gärtnerei von Rohde auf der Zvaigžņu ielā 1 übernommen habe. Ich biete in großer Auswahl verschiedene Sorten von wachsenden und Schnittblumen an, ebenso auch Kränze: lebende und Wachsblumen. E. Kalniņa“.
Die Enkel der ehemaligen Besitzer haben die Wurzeln ihrer Familie nicht vergessen, und kommen in diesem Sommer aus Deutschland, um unsere Stadt zu besuchen.

*Ergänzung von Jörn Burmeister: 
Die meisten Deutschen wurden nach der Umsiedlung 1939 im 
sogenannten Warthegau, dem Gebiet um Posen im gerade besetzten Polen, a
ngesiedelt. In der Nähe Posens bewirtschaftete Elisabeth Rohde 
eine Gärtnerei bis  zur Flucht 1945, während ihr Mann Robert 
an der Ostfront eingesetzt war. 
Robert Burmeister beschreibt das in seinen Erinnerungen.