Die Reise 2015

Tartu

Wir warteten am nächsten Tag auf besseres Wetter, das zwar angekündigt war, aber sich noch als sehr durchwachsen darstellte. So fuhren wir nicht gleich nach Līgatne, sondern taten, was wir uns ohnehin vorgenommen hatten. Wir beschlossen, nach Tartu (Dorpat) in Estland zu fahren. Reichliche 400 km für Hin- und Rückfahrt mussten bewältigt werden, doch wir hatten Zeit, den ganzen Tag vor uns, und auch das Wetter zeigte sich schließlich sehr günstig, Sonne und schöne Wolkenspiele, herrlich klare Sicht und gute Straßen. Wieder stellten wir fest, wie schön es ist, so ruhig durch das Land zu fahren. Unserem Vater hätte das auch sehr gefallen, vor allem das herrliche Stück durch den Gauja-Nationalpark, seinen vielbesungenen Heimatfluss, die Gauja (Aa), zu sehen. Wir kamen an der hübschen Burg und Kirche Lielstraube vorbei und fuhren durch Valmiera (Wolmar), eine alte Hansestadt im nördlichen Teil des Gauja-Nationalparks gelegen. Hier hatte unser Vater in den Sommerferien 1926 im Hause des Propstes Pavasar [Pawassar] Nachhilfestunden in der Landessprache erhalten, um anschließend die Kokurrenzprüfung zur Aufnahme an die lettische Universität bestehen zu können:
Durch deutsche Kommilitonen hatte ich erfahren, es sei günstig, während der Sommerferien (im nächsten Jahr versteht sich) im Hause des Propstes Pavasar, ein lettischer Geistlicher in Wolmar, Nachhilfestunden in der Landessprache zu nehmen. Das wollte ich tun. Vorerst aber mußte das Studienjahr 1925/26 irgendwie bewältigt werden, da ja derzeit ein geordnetes Studium in dem von mir erwählten Fach nicht möglich war.”

Bald hinter Valmiera bogen wir nach links ab und wollten, weil nicht weit, Evele (Wohlfahrt) besuchen. Hier lebten einst einige Pastorengenerationen aus der Bosse-Familie. Mit Vetter Peter Bosse und Vetter Klaus Hoheisel zusammen hatte ich 2010 diesen Ort bereits besucht, und doch konnte ich mich nicht gleich daran erinnern, dass der Friedhof mit den Bosse-Gräbern nicht direkt an der Kirche, sondern ein Stück entfernt, liegt. Hier gibt es noch das Grab des Pastors Heinrich Bosse, der 1919 von Bolschwiki hingerichtet wurde.

Die Grenze zu Estland geht mitten durch den Ort Valka/Valga (Walk). Man bemerkt recht schnell, dass man wieder in einem anderen Land ist, vor allem an anderssprachigen Schildern und Werbeträgern, auch an den Straßenverhältnissen, die, zumindest an unserer Fernverkehrsstraße Nr. 3, meist durchaus gut ausgebaut zu sein scheinen.

In Tartu parkten wir am Rathausplatz und machten eine größere Runde durch die Altstadt, vorbei an der Universität, in der in alter Zeit viele Deutschbalten, auch unser Onkel Oskar, studiert hatten, an der an der Johanniskirche vorbei. Vor der Universität hatten sich große Gruppen festlich gekleideter Menschen versammelt, vermutlich Abiturienten oder Studenten mit ihren Eltern, die ihre Zeugnisse ausgehändigt bekamen.
Zurück führte uns der Weg entlang des Flusses Emajõgi (Embach), hier groß und breit, befahrbar für ansehnliche Schiffe, die über den Peipussee auch die Ostsee erreichen können. Jörn hat eine hübsches estnisches Märchen über die Entstehung des Embachs im Internet gefunden.
Auf der Rückfahrt suchten wir das Storchendorf in der Nähe von Valmiera, fanden es aber nicht, doch sahen wir, wie auf allen unseren Fahrten immer wieder Storchennester und erfreuten uns daran, mit welcher hoheitsvoller Haltung einzelne Störche über Felder und durch Wiesen stolzieren, oft hinter Landmaschinen einher, die fressbares Getier aufscheuchen.